Weder Hand noch Fuß

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Leistungssport auf nationaler Ebene ist nach wie vor ein beliebtes Geläuf für Politiker auf der Suche nach Basisbindung und Erfolgserlebnissen. Doch es scheint, als gelänge diese politische Inszenierung immer seltener. Für den Sport wäre das eine gute Nachricht.

War da was? Noch Ende Januar waren die Deutschen noch im Handballfieber. Überschwänglich wurde von einigen sogar schon über die Entthronung von König Fußball diskutiert. Plötzlich erreichten WM-Spiele der deutschen Handball-Nationalmannschaft Einschaltquoten, wie man sie sonst nur von Kickern“ kannte. Gepriesen wurden die nahbaren und „bodenständigen Kämpfernaturen“ sowie die „Echtheit“ des Sports. Plötzlich fachsimpelten Menschen über Siebenmeter, Freiwürfe und Schrittfehler, die zuvor nicht einmal wussten, wer der aktuelle deutsche Handballmeister ist. Doch dann verlor die deutsche Mannschaft das Halbfinale und verpasste anschließend auch noch die Bronzemedaille. Der Handballtraum der Deutschen war vorbei. Und wie so oft bei Fieberträumen schwand schnell auch die Erinnerung daran, was eigentlich los war.

Deutschland ist ein „Hypeball“-Land
Zugegeben: Diese fiebrige Sportbegeisterung kennt man auch im Fußball – spätestens seit der WM 2006 in Deutschland. In den Jahrzehnten zuvor ließen sich kaum Politiker auf Fußballplätzen sehen, und auch die Menschen begingen die großen internationalen Turniere weniger als Straßenkarneval, sondern als Wohnzimmerereignisse. Das änderte sich mit dem als nationale Frischzellenkur inszenierten Sommermärchen, auf das die Menschen heute – trotz der Korruptionsvorwürfe – zurückschauen, als sei die Welt damals noch in Ordnung gewesen. Das war sie natürlich nicht, weshalb der Fußball damals überhaupt mit der Aufgabe belastet wurde, die wirtschaftlich dümpelnde und politisch-depressive Nation aus der Krise zu führen. Auch wenn seitdem das Public-Viewing-Fieber außerhalb der Berliner Fanmeile lange abgeklungen ist: Das Anschwellen der Begeisterung pünktlich zu den großen Fußballturnieren prägt weiterhin die landesweite Gefühlslage.

Und dennoch ist die Fußballbegeisterung mit dem jüngsten Handball-Hype kaum zu vergleichen: Nach dem Ende der Fußballturniere gehen die Menschen wieder in die Stadien und stellen ihren Fußballmodus von Nationalmannschaft auf die Vereinswelt um. Das funktioniert im Handball nicht: Hier gibt es nur den Nationalmodus. Die meisten Handball-WM-TV-Zuschauer haben noch nie ein Spiel der Handballbundesliga in der Halle gesehen – obwohl sie seit Jahren zu den besten Ligen der Welt gehört. Der Hype um die deutschen Handballer hatte wenig mit dem Sport zu tun. Dies zeigte sich auch daran, dass im Fernsehen von Spielen ohne deutsche Beteiligung kaum etwas zu sehen war. Nachdem die Trauer der deutschen Mannschaft nach dem verlorenen Halbfinale gegen Norwegen fast in Spiellänge übertragen wurde, zeigte die ARD vom zweiten Halbfinalspiel der Weltmeisterschaft eine gerade mal fünfminütige Zusammenfassung. Würde dies beim Fußball geschehen, würde die Welt sofort über Engstirnigkeit und Nationalismus diskutieren. Nicht so beim Handball.

Sport aus der „Früher-war-alles-besser-Zeit“
Aber genau das wird so gemocht am Handball: Dass es eben keine große Diskussionen gibt. Weder auf noch neben dem Platz. Alles scheint zu sein, wie es in der guten alten Zeit war: Handballer sind im Vergleich zu Profikickern arme Schlucker, sie klagen und jammern nicht. Alles scheint so transparent, so einfach, echt, ehrlich und unverfälscht – eben nicht so wie beim Fußball. Aber ist Handball wirklich der kleinere, „bessere“, weil „ehrlichere“ Bruder des fettleibigen und maßlosen Fußballs? Dass es im Handball keine Debatten über Nationalspieler mit Migrationshintergrund gibt, ist jedenfalls der schlichten Tatsache geschuldet, dass Handball in Deutschland ein fast durchweg „weißer“ Sport ist. Ausländische Wurzeln, wenn es sie denn gibt, entstammen somit eher dem mitteleuropäischen oder skandinavischen Raum und bleiben somit unsichtbar.

Es stimmt zwar, dass Handballer zumeist keine Millionäre sind. Unbewiesen ist jedoch die Annahme, sie würden höhere Gehälter aufgrund moralischer Prinzipien auch strikt ablehnen. Dass der Handballsport kein ethisches Paradies bällewerfender Männerfreunde ist, wird nicht nur an der Härte des Spiels sichtbar, sondern zeigt sich auch in seinen Verbandsstrukturen. Während sich die halbe Welt über die Korruptheit des Fußballs erzürnt und die Austragung der Weltmeisterschaft in Katar für moralisch verwerflich hält, fand eben dort 2015 die Handball-Weltmeisterschaft quasi unter dem Radar der medialen Empörungskultur statt. Es scheint, als gälte Belanglosigkeit und fehlende Popularität selbst schon als Freibrief für intensives Geschäftetreiben, frei nach dem Motto: Wenn es ohnehin niemanden interessiert, muss man auch nicht hinter verschlossenen Türen handeln. Das Schweigen der Handball-Funktionäre und Aktiven hat eine lange Tradition – eine viel längere als bei den Fußballern –, was im Übrigen auch der Grund ist, warum Stefan Kretschmar bis heute der einzige deutsche Handballer ist, der auch sechs Wochen vor und nach einem großen Turnier über eine gewisse mediale Präsenz verfügt.

Stand-Land-Ball
Die Bodenständigkeit des Handballs ist so ausgeprägt, dass man sie durchaus auch als verstaubte und spießige Ödnis bezeichnen könnte. Dies liegt auch in der Vergangenheit des modernen Hallenhandballs begründet. Dessen historischer Vorgänger, der Feldhandball, entstand gerade in seiner Gegenposition zum proletarischen, urbanen und internationalen („englischen“) Fußball. Er organisierte sich daher zunächst im Rahmen der politisch eher national und elitennah ausgerichteten Deutschen Turnerschaft. Bis heute sind diese unterschiedlichen Entwicklungslinien zu erkennen: Während in den großen Städten der Fußball dominiert, spielte Handball traditionell eher in Kleinstädten und auf dem Land eine große Rolle. Da ihm der massenhafte Zuschauerzuspruch von Beginn an fehlte, konnte sich auch keine tief verwurzelte Fankultur entwickeln, wie sie bis heute bei den Fußball-Traditionsvereinen aller Kommerzialisierung zum Trotz fortbesteht.

Diese fehlende Basisbindung ist letztlich auch der Grund dafür, dass Handball lediglich im Rahmen großer Turniere wahrgenommen wird. Im Gegensatz zum Fußball spielt Handball im Alltag der Menschen nur eine sehr untergeordnete Rolle. Daraus folgt aber auch, dass Handball nicht zur Projektionsfläche gesellschaftspolitischer Trends wurde, wie es der Fußball leider seit vielen Jahren ist. Dass sich bei der gerade zu Ende gegangenen Handball-WM der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier blicken ließ, ist eher überraschend, aber ebenfalls nicht dem Handball geschuldet, sondern dem kurzfristigen Hype. Dieser Hype konnte nur entstehen, da es der Politik auf nationaler Ebene insgesamt schwerer fällt, sich in einem positiven Licht darzustellen. Zudem leuchten die Scheinwerfer der Fußball-Nationalmannschaft derzeit weniger stark als in den vergangenen Jahren.

Ende des politischen Kickerkuschelns
Die geminderte Anziehungskraft des Fußballs für die Politik ist nicht nur mit dem frühen Ausscheiden der Löw-Truppe bei der letzten Weltmeisterschaft zurückzuführen. Auch das politische Klima im Land hat sich seit 2006 deutlich verändert: Während Angela Merkel mit ihren Jubelstürmen und ihrer unverfängliche Nähe zu den Nationalspielern in der Vergangenheit tatsächlich Sympathiepunkte sammeln konnte, so wird dieses „Kickerkuscheln“ heute skeptischer gesehen. Es gelingt Politikern nicht mehr so leicht, über das Tragen von Fanschals Bürgernähe zu demonstrieren. Auch die Menschen identifizieren sich nicht mehr so mit der Nationalmannschaft wie in der Vergangenheit – was auch damit zu tun hat, dass der Begriff des „Nationalen“ auf der Ebene des Sports die Unverfänglichkeit verloren hat, die noch 2006 die Deutschen über Nacht zu Fähnchenschwenkern machte.

Der Politik wäre es zu wünschen, dass sie selbst irgendwann einmal wieder genug Strahlkraft entwickelt, um sich nicht mehr im Scheinwerferlicht der Sportereignisse sonnen zu müssen. Dazu müssen neue politische Inhalte her. Eine grundsätzliche und nachhaltige Nationalbegeisterung ist über das Ersatzvehikel Sport jedenfalls nicht herstellbar. Für den Sport wiederum ist eine gute Nachricht, wenn seine Instrumentalisierung von außen mangels positiver Wirkung nachlässt. Nicht, weil der Sport dann meinungsfrei oder unpolitisch würde, sondern im Gegenteil: weil er dann vielleicht eher wieder zu einem öffentlichen Raum für diejenigen werden kann, die den Sport treiben, ihn lieben und tagtäglich leben und ihn so zu einem wichtigen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens machen.

Dieser Artikel ist am 3. Februar 2019 in leicht veränderter Form in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.