Warum die Niederlage der Kurden auch unsere ist

Die Kurden passen nicht nur auf keine Weltkarte, für das postnationale und opferzentrierte Denken des Westens sind sie zudem ein Fremdkörper. Das zu ändern, wäre auch gut für unsere Demokratie.

Im Spätsommer 2017 sah es noch recht gut aus für die Kurden: Unter der Führung der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und mit militärischer Unterstützung aus den USA war es gelungen, die Terrormiliz Islamischer Staat aus ihrer Hauptstadt Rakka zu vertreiben. Basis dieses Erfolges war die Kooperation von YPG-Kämpfern mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF). Der gemeinsame Feind einte diese arabisch-kurdische Koalition: Zuvor hatten rund 2.000 US-Soldaten die Truppen für die Schlacht gegen die Dschihadisten ausgebildet und ausgerüstet.

Doch seit der IS in Syrien und im Irak quasi von der Bildfläche verschwunden ist, hat sich das Blatt gewendet – zuungunsten der Kurden. In der Hochphase des Krieges waren sie nicht nur militärisch und logistisch eingebunden, sondern hofften auch auf Unterstützung für ihre eigenen politischen Belange. So kämpften sie im Auftrag und mit den Waffen der westlichen Welt an vorderster Front einen verlustreichen und blutigen Krieg, in dem es ihnen aber nicht nur um die Vernichtung des IS ging, sondern letztlich auch um ihr bislang unverwirklichtes Ziel: einen eigenen Staat.

Verheizt, verraten und vergessen

Spätestens seit Beginn der türkischen Militäroffensive gegen Stellungen der YPG in Nordost-Syrien im Januar dieses Jahres haben die Kurden jedoch den Boden unter den Füßen sowie auch fast jede Unterstützung und Perspektive verloren. Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ankündigte, er werde kurdisch kontrollierte Städte systematisch „von Terroristen befreien“, konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er dieser Ankündigung Taten folgen lassen werde: Bereits seit 2015 geht die türkische Armee gegen kurdische Stellungen in Nordost-Syrien vor, obwohl diese sich dort – im Auftrag des Westens – den Kämpfern des IS entgegenstellten.

Die Lage ist verworren und beschämend zugleich. Aber überraschend ist sie nicht. Weder Syrien, noch der Irak, noch der Iran oder die Türkei hatte jemals die Absicht, den Kurden entgegenzukommen. Deren Aufwertung hätte sofort die ohnehin labile Machtbalance sowie die territoriale Integrität der Regionalmächte gefährdet. Die einzigen, die den Kurden Sympathie vorheuchelten, waren westliche Politiker. Noch im Dezember signalisierte ihnen US-Außenminister Rex Tillerson, dass man auf sie baue. Seine Ankündigung, den Aufbau einer nordsyrischen Grenztruppe aus kurdischen und arabischen Kämpfern voranzutreiben mit dem Ziel, künftig das Wiedererstarken des IS eigenständig verhindern zu können, mussten die Kurden als ermutigendes Signal deuten.

In der Türkei wurde das hingegen nicht als Anti-Terror-Maßnahme gesehen. Schließlich gilt die YPG aufgrund ihrer Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK dort selbst als „Terrormiliz“. Eine von Terroristen befehligte und von den USA ausgestattete Armee in Nordsyrien werde, so die Interpretation Ankaras, die Schaffung eines Kurdenstaats in Nordost-Syrien realistischer erscheinen lassen, was wiederum die Kurden in der Türkei weiter anstacheln werde. Als Erdogan daraufhin – ebenfalls wenig überraschend – eine Offensive gegen die Kurden startete, war plötzlich im Westen von der nordsyrischen Grenzarmee nicht mehr die Rede. Stattdessen äußerte man nur die verhaltene Hoffnung, die türkischen Anti-Terror-Operationen des Nato-Partners mögen doch so schonend, zeitlich limitiert und gnädig gegenüber Zivilisten ablaufen wie möglich.

Schon immer zerrieben zwischen den Fronten

Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Kurden: Ihre Bereitschaft, für ihre Selbstbestimmung zu kämpfen, lässt sie immer wieder zwischen die Fronten geraten. Immer wieder sahen sie sich gezwungen, fremden Mächten zu trauen und das eigene Schicksal mit Konfliktzielen anderer zu verknüpfen – stets mit demselben Resultat: Ein unabhängiger kurdischer Staat geriet in immer weitere Ferne. Wie fern, veranschaulicht die internationale Ächtung der PKK als Terrororganisation. In deren Bekämpfung kann sich die Türkei der moralischen Unterstützung fast der ganzen Welt sicher sein. Umso absurder ist es daher, dass gleichzeitig eine mit der PKK kooperierende Organisation wie die YPG als Anti-IS-Armee vom Westen gerüstet und damit legitimiert wird – wohlwissend, dass die Türkei das nicht einfach so akzeptieren werde.

In dieser widersprüchlichen und kurzsichtigen westlichen Einmischungspolitik werden kurdische Interessen zwischen den Fronten zerrieben. Tatsächlich passen die Kurden nicht nur auf keine Landkarte, ihr Streben nach nationaler Souveränität wirkt in einer Epoche, in der nationales Denken nicht mit Freiheit, sondern mit Absonderung und Chauvinismus in Verbindung gebracht wird, unzeitgemäß und altertümlich. Wahrscheinlich ist es gerade ihre Geschichte als stets verhinderte und aufgeteilte Nation, die dazu geführt hat, dass sich in der kurdischen Gesellschaft ein anderswo kaum noch existierender Glaube konserviert hat: der progressive und befreiende Glaube an die Nation und an nationale Souveränität als Voraussetzung für Volksherrschaft.

Nationale Selbstbestimmung ist nicht reaktionär

Die Kurden glauben an das, was die westlichen Gesellschaften schon lange verloren haben: an den befreienden Impuls einer auf einem national definierten Territorium basierenden potenziell demokratischen Gesellschaft. Der „kurdische Nationalismus“ wird von einem starken Streben nach Freiheit und vom Traum von Selbstbestimmung getragen. Der Wunsch, dieses Ziel zu erreichen, eint viele Kurden seit Generationen– aller politischen Zerstrittenheit und Polarisierung zum Trotz. Dies macht sie auch zu besonders ambitionierten und opferbereiten Kämpfern für die eigene, kurdische Sache.

Tragischerweise ist es genau dieses Freiheitsstreben, das die Kurden dazu prädestiniert, immer wieder als Kanonenfutter herzuhalten. Im Krieg gegen den IS machten sie die blutige Drecksarbeit, um anschließend erneut fallengelassen und der brüchigen Solidarität mit dem Nato-Mitgliedsland Türkei geopfert zu werden. Einmal mehr erleben die Kurden am eigenen Leib: Ziel westlicher Politik im Nahen Osten ist nur die Stabilisierung des die Krise immer wieder reproduzierenden Status quo. Eine Neugestaltung, die nötig wäre, um kurdische Interessen zu verwirklichen, hat niemand auf der Agenda. Zusätzlich verstärkt das fortschreitende Abdriften der PKK in obskure, pseudo-revolutionäre und terroristische Gewaltreflexe die Ausweglosigkeit der Lage für die Kurden.

Kurden passen nicht ins westliche Täter-Opfer-Schema

Aber es ist nicht nur das Streben nach nationaler Souveränität, das die Kurden als wie aus der Zeit gefallen erscheinen lässt. Ihr tragisches Paradoxon besteht darin, dass sie sich entgegen der heutigen politischen Kultur eben nicht als um Freiheit bettelnde Opfer inszenieren, sondern erbittert Widerstand leisten und zu kämpfen bereit sind – und dafür einen hohen Preis zahlen. Denn so sehr die westliche Öffentlichkeit sich auch vom türkischen Präsidenten Erdogan distanzieren mag, für den aktiven Widerstand gegen Unterdrückung kann sie kein Verständnis aufbringen. Die moderne westliche Moral kennt nur Täter und Opfer: Selbstbefreier und Widerständler mit einem auch noch national geprägten Werteverständnis sind dem postnationalen und mutlosen westlichen Denken suspekt und zuwider.

Die Ablehnung der Idee der nationalen Selbstbestimmung offenbart das Dilemma der westlichen politischen Kultur. Eine offene Unterstützung für den Befreiungskampf der Kurden würde neben den Verwerfungen vor Ort auch die tiefsitzende Verunsicherung des westlichen Politikmodells offen zutage befördern. Denn obwohl die Abneigung alles Nationalen zum Mainstream-Denken gehört: Bis heute ist die nationale Ebene die einzige, in der Demokratie tatsächlich in einer ernstzunehmenden Form funktioniert. Und überall dort, wo post- und transnational Politik betrieben wird, fehlt ihr schlicht die demokratische Legitimation. Postnationales Denken betont dennoch einseitig die Rückschrittlichkeit nationaler Souveränität – und stellt sich somit gegen die bislang einzige Formation tatsächlicher demokratischer Herrschaft.

Krise der Kurden reflektiert unsere Demokratiekrise

Die Krise der Kurden ist also eine vielschichtige: Sie haben nicht nur keinen eigenen Ort, um ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben, sondern ihr Streben nach einem solchen Ort ist auch kein Bestandteil des heutigen politischen Denkens mehr. In Zeiten politischer Passivität und ausgeprägter Opferorientierung ist der Wunsch nach echter Freiheit häufig mit Skepsis, Misstrauen und Zweifeln durchmischt. Dies führt dazu, dass diese Vision bestenfalls als unrealistisch, schlimmstenfalls als gefährlich abgelehnt wird. Gleichzeitig ist aber die Niederlage der Kurden noch mehr als das: Da sie den Niedergang der westlichen politischen Kultur widerspiegelt, ist sie auch unsere Niederlage.

Daher ist tatsächliche und ernstgemeinte politische Unterstützung für die Kurden angesagt: nicht als Geste des Mitleids, sondern als ein Akt der demokratischen Selbstachtung und als ein Zeichen des Aufbegehrens gegen den zynischen Moralismus westlicher Politik.
Dieser Artikel ist am 4. Februar 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ in Cicero Online erschienen.