Der Begriff „Alternative Fakten“ ist das „Unwort des Jahres“ 2017. Klar: Lügen müssen entlarvt werden. Doch oft wird der Begriff als Totschlagargument gegen unliebsame Darstellungen der Realität genutzt.
Wie häufig ist auch die diesjährige Wahl zum „Unwort des Jahres“ als politisch-moralischer Fingerzeig zu werten. Der Ausdruck „Alternative Fakten“ stehe für den Versuch, „Falschbehauptungen als legitimes Mittel der öffentlichen Auseinandersetzung salonfähig zu machen“, steht in der Begründung und die Sprecherin, die Linguistik-Professorin Nina Janich, ergänzt: Sie seien ein „Sinnbild für eine der besorgniserregendsten Tendenzen im öffentlichen Sprachgebrauch“.
Ursprünglich ist der Begriff als eher peinliches Bonmot im Streit um die Interpretation von Fotos der Amtseinführung von Donald Trump bekannt geworden. Doch mittlerweile werden mit „alternativen Fakten“ nicht mehr nur glatte Lügen bezeichnet. Der Begriff findet überall dort Verwendung, wo man sich gegenseitig beschuldigt, Fakten falsch darzustellen, um den eigenen Standpunkt zu untermauern. Er bezieht sich inzwischen also auch auf umstrittene Sichtweisen und unliebsame Darstellungen der Realität. Der Vorwurf, jemand verwende „alternative Fakten“, ist zumeist nicht der Auftakt zu einer faktenbasierten Demontage der kritisierten Sichtweise, sondern dient der Diskreditierung des Gegenübers und erklärt jede weitere ernsthafte Debatte für zwecklos.
Sind Kontroverse und Konflikt demokratieschädigend?
Es ist bedauerlich, dass die Jury sich von der euphemistischen Verwendung des Begriffes durch Trumps-Wahlkampfleiterin Kellyanne Conway einnehmen ließ. Nun gelten „Alternative Fakten“ neben Unworten wie „Volksverräter“ oder „Lügenpresse“ als Synonym für eine polarisierte, emotionalisierte und aufgepeitschte öffentliche Debatte. Der so hergestellte innere Zusammenhang dieser Begriffe ist eindeutig: Sie symbolisieren die Verrohung der Sitten, was als fundamentale Gefahr für die demokratische Öffentlichkeit gilt.
Doch warum eigentlich? Gehören die rauen Winde nicht gerade zu eben jenem Sturm, nach dem man sich nach Jahren der inhaltlichen Windstille so gesehnt hat? Wurde nicht schon in den Studentenprotesten der sechziger und siebziger Jahre gegen die Springer-Presse und die deutsche Nachkriegsgesellschaft gefordert, man solle endlich die „alternativen Fakten“ zur Kenntnis nehmen?
In einer Meldung vom 25. Oktober 1977 meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung mit Sorge, dass die „sogenannte Alternativpresse, zu der sich zum Beispiel die Frankfurter Spontizeitschrift ‚Pflasterstrand‘ und der ‚Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten‘ … zählen“ die Gründung einer überregionalen Tageszeitung plane – gemeint war die spätere taz. Die schreit heute mit am lautesten gegen „alternative Fakten“. Es ist bemerkenswert, dass die heutige Jagd gerade von solchen Kräften angeführt wird, die damals selbst die Einseitig- und Einäugigkeit der offiziellen Sichtweise anprangerten. Dass es neben der heute dominierenden Faktenwahrnehmung und -interpretation tatsächlich noch andere, mitunter sogar ernstzunehmende geben könne, schmettern diese Kräfte mit derselben politischen Leidenschaft ab, mit der sie einst gegen die damals herrschende Meinung agitierten.
Uneinigkeit wird nicht mehr wertgeschätzt
Die Erregung über das vermeintlich plötzliche Hervorbrechen alternativer Wahrnehmungen sagt mehr über den Zustand unserer Diskussions- und Denkkultur aus als über die Beschaffenheit dieser neuen Sichtweisen. Offenbar haben westliche Gesellschaften samt ihrer selbsternannten politischen und intellektuellen Eliten vergessen, dass Konflikt und Widerspruch Gesellschaften voranbringen. Daher haben sie wohl auch verlernt, mit inneren Widersprüchen und Zerwürfnissen offen umzugehen. Nach der jahrzehntelangen inhaltlichen Entleerung der politischen Kultur wäre dies kein Wunder: Die Ära der Alternativlosigkeit hat den politischen Horizont drastisch verengt auf all jene „Fakten“ und „Interpretationen“, die in das Korsett der politischen Korrektheit hineingezwängt werden können.
Es ist ein Markenzeichen unserer Zeit, dass Menschen die Erfahrung heute nur noch sehr selten machen, dass jemand die Wirklichkeit gänzlich anders wahrnimmt und dennoch ernstzunehmend interpretiert. Diese Eindimensionalität ist so tief verankert, dass es als absonderlich und potenziell gefährlich gilt, eine tatsächlich andere Sichtweise zu grundlegenden Fragen der gesellschaftlichen Ordnung und des Lebens zu vertreten.
Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte, dass gerade auf dieser Ebene bisweilen zutiefst kontrovers, dabei aber auch zugleich faktenreich und leidenschaftlich um Interpretationshoheiten gerungen wurde. In demokratisch lebendigen, von unterschiedlichen politischen Entwürfen politisierten und auch im positiven Sinne polarisierten Gesellschaften ist es tatsächlich normal und notwendig, dass Medien nicht nur völlig unterschiedliche Interpretationen liefern, sondern auch über völlig unterschiedliche Fakten berichten. Demokratie braucht insofern alternative Fakten, Interpretationen, Ziele und Visionen, wenn sie mehr sein will als eine Wohlfühloase für selbstverliebte Dampf-Talker und Ewig-Regierende.
Faktenvielfalt stärkt das politische Bewusstsein
Es ist kaum vorstellbar: Aber vor einem knappen Jahrhundert gab es in nahezu jeder großen Stadt eine Vielzahl verschiedenster und politisch konträre Teilbereiche der Wirklichkeit abbildende Zeitungen und Postillen, die in bis zu vier unterschiedlichen Ausgaben täglich erschienen. Sie alle trugen in ihrem hektischen Werben um Aufmerksamkeit zur öffentlichen Meinungsbildung bei, gerade weil sie so verschieden waren. Wollte man damals wirklich verstehen, wie die Gesellschaft oder auch nur eine Stadt „tickt“, empfahl es sich, dieses Medienspektrum möglichst großflächig zur Kenntnis zu nehmen.
Diese unübersichtliche Vielstimmigkeit galt damals nicht als gefährliche Zersplitterung der öffentlichen Meinung, sondern als Grundvoraussetzung für die politische Freiheit und die Entwicklung des politischen Bewusstseins jedes einzelnen Bürgers. Angesichts dieser enormen und auch wertgeschätzten Vielfalt erscheint das heute verbreitete Jammern ob der „überbordenden Informationsflut“ als geradezu grotesk: Die Gesellschaften im 21. Jahrhundert leiden nicht unter einer Flut von Informationen, sondern an einem Mangel an abweichenden Sichtweisen.
Es ist wie beim Schwimmen
Deren Zugänglichkeit ist eine Grundbedingung für die Wiederbelebung der demokratischen Kultur. Insofern gibt es viele gute Gründe für Optimismus, denn nie zuvor waren die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung so groß wie heute. Selbstverständlich geht mit dieser Offenheit auch die Möglichkeit einher, dass sie zur Verbreitung offensichtlicher Falschmeldungen genutzt wird.
Was in der sorgenvollen Debatte jedoch zumeist nicht gesehen wird, ist der Effekt der Informationsfreiheit, der zur Entwicklung der politischen Selbständigkeit und Interpretationsfähigkeit der Menschen beiträgt. Dass es viele, die in Zeiten gleichförmiger und konsensorientiert-alternativloser Informationsvermittlung sozialisiert wurden, schwierig finden, in plötzlich kontroverser ausgerichteten Informationswelten zwischen Fakten und Fakes sowie zwischen Relevantem und Irrelevantem zu unterscheiden, ist verständlich. Doch von dieser Fähigkeit lebt die Demokratie. Es ist wie beim Schwimmen: Man lernt es nicht auf dem Trockenen, sondern nur im Kontakt mit der Materie.
Die Selbstreinigungskräfte des Ideenmarktplatzes funktionieren
Die Vorstellung, man müsse die Bevölkerung durch eine Form staatlicher Qualitätskontrolle vor Lügen und alternativen Fakten schützen, ist deshalb kontraproduktiv. Ähnlich dem Wissenschaftsbetrieb, muss auch die Gesellschaft auf inhaltlicher Qualität beruhende Mechanismen entwickeln, um Fälschungen und offensichtliche Lügen verlässlich zu entlarven, ohne dabei die Freiheit der Rede zu beschränken. Die Gesellschaft kann Falschmeldungen und „fake news“ vertragen und verdauen – und zwar viel besser, als sie zum Teil selbst glaubt. Die Selbstreinigungskräfte auf dem Marktplatz der Ideen entfalten dann ihre volle Wirkung, wenn der Wettbewerb um die besten und tragfähigsten Konzepte nicht begrenzt und beschränkt wird. Hierzu muss die Gesellschaft jedoch selbstbewusst daran glauben, dass sie in der Lage ist, selbst Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.
Jeder, der sich eine lebendige politische Kultur wünscht, sollte der Existenz von alternativen Wahrnehmungen nicht gleich mit Totschlagargumenten begegnen, sondern sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Realität von verschiedenen Standpunkten aus zuweilen sehr unterschiedlich aussieht. Daher ist es hilfreich, möglichst viele verschiedene Wahrnehmungen zur Kenntnis zu nehmen. Eine vorschnelle Wertung als „fake news“ kann auch Ausdruck eines ängstlichen zensorischen Impulses sein, der gerade in Zeiten politischer Alternativlosigkeit sogar problematischer sein kann als frei erfundene Geschichten. Es ist die Aufgabe der offenen gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die Spreu vom Weizen zu trennen.
Dieser Artikel ist am 21. Januar 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.