31.05.2020 – Die Aufregung über die fast schüchterne Lockerungsrhetorik von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow zeigt: Die Gesellschaft braucht eine Exit-Strategie aus der Angststarre. Die Politik muss die Verantwortung wieder in die Hände des Individuums legen.
Seit Wochen ist das Land auf Lockerungskurs. Tagtäglich werden Verbote und Beschränkungen diskutiert, infrage gestellt und zum Teil auch kassiert. Doch je mehr Lockerungen beschlossen werden, desto verkrampfter schaut die Gesellschaft auf deren Auswirkungen – ganz so, als seien die Lockerungen nicht Ausdruck eines gesunkenen Risikos, sondern unvermeidliche Quellen neuen Unheils. Der Lockdown unter den Locken hält sich hartnäckig. Die Gaststätten bekommen dies zu spüren: Ihnen geht nun die Luft aus, denn die Tische bleiben leer und die Menschen daheim.
Eineinhalb Meter sind ein Lichtjahr
Die schrittweisen Aufhebungen der Kontaktbeschränkungen haben einen zwiespältigen Effekt auf das gesellschaftliche Klima: Zum einen wirken sie wie Signale dafür, dass theoretisch alles wieder so werden könnte wie früher und sich die Entscheidungsträger genau darum bemühen. Zum anderen aber wird so der mentale Lockdown zementiert: Die Lockerungslogik basiert darauf, dass der tatsächliche Abschluss der Maßnahmen nicht abzusehen ist. Wer aber immer weiter lockert, ohne jemals den Status zu erreichen, der vor Einführung der Beschränkungen geherrscht hat, der normalisiert den Ausnahmezustand und injiziert ihn als Neo-Normalität ins gesellschaftliche Bewusstsein.
Die politische Rhetorik ist dabei überaus heuchlerisch: Sie suggeriert, als sei der einzige nicht verhandelbare Bereich der Beschränkungen – die Abstandsregel – nur ein kleines, fast zu vernachlässigendes Detail, mit dem sich leicht leben ließe. In Wirklichkeit aber ist die Abstandsregel der Todesstoß für unser kulturelles, wirtschaftliches und soziales Leben! Wer tatsächlich glaubt, wir seien nur 1,5 Meter von der Normalität entfernt, der hat diese entweder nie erlebt oder längst abgeschrieben. Nicht nur in der Arbeitswelt, auch in Kunst und Kultur, in Zerstreuung und Genuss ist das Einhalten eines Mindestabstands zwischen Menschen von eineinhalb Metern schlicht nicht umsetzbar, ohne den eigentlichen Kern der jeweiligen Aktivität auszuhöhlen. Fakt ist: Die Abstandsregel hält die Gesellschaft Lichtjahre von dem entfernt, was die Menschen als halbwegs normales, zivilisiertes Leben empfinden.
Abstand als der neue Anstand
Auch wenn Zyniker, Nerds und Misanthropen es anders sehen: Die überwiegende Mehrheit der Menschen empfindet es als eine enorme Bereicherung, sich in der Nähe anderer Menschen aufzuhalten und gemeinsame Erfahrungen zu machen. Und dies gilt eben nicht nur für bierselige Stadiongänger oder ekstatisch zuckende Partybiester, sondern auch für die zahlreichen Freunde von Oper, Theater, Lesung, Ausstellung und Kleinkunst, die den Kulturbetrieb in Deutschland insgesamt zu einem der zentralen Wirtschaftszweige machen. Hier die derzeitige Situation auch nur annähernd als normalitätsähnlich zu beschreiben, ist schlicht verlogen.
Noch gilt die Wahrung von 1,5 Metern Abstand als das elfte Gebot der Post-Corona-Welt. Mit Bodo Ramelow hat es nun ein erster regierender Politiker im Land gewagt, dieses Gebot zumindest rhetorisch ein wenig zu verwässern. Auch wenn er sogleich wieder eingefangen wurde, sein Schritt war wichtig. Er zeigt auf, dass die Welt auch jenseits der ominösen eineinhalb Meter weitergeht. Da diese Linie bislang von niemandem überschritten wird, gleichzeitig aber der Lockerungstrend zumindest scheinbar mit Leben gefüllt werden muss, werden die kommenden Lockerungsschritte notgedrungen immer kleiner ausfallen. Sie nähern sich der Nulllinie – wie übrigens auch die Zahl der Neuinfektionen. Aber für beide gilt: Sie werden den Wert 0 nie erreichen.
Ausbruch aus dem Misanthropozän
Natürlich wird dies von der Politik nur sehr ungern und zögerlich ausgesprochen. Aber ihre Logik der Risikoversion ist eindeutig: Ihr zufolge ist die Abstandsregel erst dann tatsächlich hinfällig, wenn ein Impfstoff vorrätig ist sowie ein Medikament, das verhindert, dass Menschen, die sich dennoch infizieren, in Verbindung mit COVID-19 sterben. Wohlwissend, dass dies noch Monate bis Jahre dauern kann, hält man sich mit Prognosen weitgehend zurück. Stattdessen wird versucht, die Abstandspflicht als Kernbestandteil einer neuen, verantwortungsvollen Sozialetikette zu normalisieren. Eine Alternative hierzu bietet sich innerhalb dieser Logik nicht. Einzig der grundlegende Bruch mit diesem Angstdenken würde es ermöglichen, andere Wege zu erwägen.
Dazu reichen jedoch keine kleinen Schrittchen, es braucht dafür schon einen gewaltigen Satz: Gefragt ist nicht weniger als die Abkehr von der Risikoobsession, die den Zeitgeist prägt. Die heftigen Reaktionen auf den Vorschlag von Ramelow offenbaren, dass nicht mehr die reale Bedrohung durch das Coronavirus die Debatten befeuert, sondern die Angst vor den unkontrolliert von der Leine gelassenen Menschen, die angeblich nur im Lockdown und unter strikter Kontrolle zu Vernunft imstande sind. Die Angst vor Menschen hat die Angst vor dem Virus ersetzt. In dieser Weltsicht erscheinen Misstrauen und Misanthropie als Stützen der Gesundheitsprävention und die Freiheitsfeinde und Kontrollfreaks als deren Apostel. Das Anthropozän, das immer wieder beschworene „Zeitalter der Menschheit“, entpuppt sich in seiner aktuellen Gestalt eher als „Misanthropozän“, und all dies im Namen der Gesundheit – man kann es sich kaum absurder ausdenken.
Angstpolitik: Nudging in Formvollendung
Wir können mit unserem Angstdenken weder Mut noch Sicherheit erzeugen. Es lässt sich auch nicht so weit herunterregeln, dass es aufhören würde, Angst zu reproduzieren. Und dennoch ist diese Art des Denkens und die so entstandene Weltsicht zum zentralen Paradigma der modernen Gesellschaft geworden. Wir sind daran gewöhnt und darin geschult, die Welt durch das Prisma von Risiko und Bedrohung zu sehen.
In allen Politikfeldern wird mit dem Verweis auf immense Bedrohungsszenarien versucht, die Menschen zu einem anderen Verhalten zu „nudgen“ – anzustoßen. In der im Zusammenhang mit dem Coronavirus entstandenen Krisensituation hat sich die Angststarre nun so verfestigt, dass es schwerfällt, die Gesellschaft wieder hochzufahren. Da die Abstandsregel als natürliche Grenze des Möglichen gilt, ist dieses Hochfahren auch keine dynamische Bewegung, sondern eher ein Kriechen um den heißen Brei. Mit Trippelschritten wird sich die Pandemiebekämpfung nicht ausschleichen – im Gegenteil, sie wird ins Unendliche verlängert.
Ein Hochsicherheitstrakt schafft keine Sicherheit
Auch wenn die Bezeichnung anderes erwarten lässt: Ein Hochsicherheitstrakt schafft keine Sicherheit. Dasselbe gilt auch für eine Hochsicherheitsgesellschaft. Das Gefühl von Sicherheit kann erst entstehen, wenn wir Angstdenken und Risikoscheu durch Freiheitsdenken ersetzen. Die menschliche Zivilisation basiert darauf, Risiken abzuschätzen und dann in freien Entscheidungen individuell damit umzugehen.
Genau das tun wir heute nicht. Wir lassen andere für uns entscheiden, ziehen uns selbst aus der Verantwortung zurück und verlernen so, selbst Risiken sinnvoll abzuschätzen. Lieber meiden wir Risiken voll und ganz – auch wenn das bedeutet, dass das gesellschaftliche Leben abstirbt. Deswegen ist der Ausbruch aus dem Risikovermeidungsdenken so lebenswichtig. Um Risiken wieder realistisch einschätzen zu können, brauchen wir Transparenz und Fakten und eine Kultur, die von uns fordert, Entscheidungen selbst zu treffen. Dieser Ton war es, den Ramelow traf. Und er traf auch den Nerv.
Individualisiert die Pandemiebekämpfung
Das Herunterbrechen der Pandemiebekämpfung auf die Landkreisebene war ein wichtiger Schritt heraus aus dem zentralistischen Lockdown. Der nun notwendige nächste Schritt wäre das Herunterbrechen der Pandemiebekämpfung auf das selbstverantwortliche Individuum. Natürlich schreien da die Misanthropen und Autoritätsjunkies auf und verweisen auf das Heer der Unvernünftigen. Und natürlich wird es Rückschläge und Verfehlungen geben – schließlich ist der Gesellschaft wirkliche soziale Orientierung auf Basis individueller Freiheit und Eigenverantwortung seit Jahrzehnten systematisch abtrainiert worden.
Aber vielleicht sollten wir gerade deswegen endlich damit aufhören, die Menschen, von denen wir wollen, dass sie sich nicht wie Idioten verhalten, wie solche zu behandeln. Die Pandemiebekämpfung muss, wenn sie irgendwann für beendet erklärt werden soll, weiter demokratisiert und individualisiert werden. Eigentlich sollte dies in einer Demokratie eine nicht so ungewöhnliche Forderung sein. Immerhin sprechen wir von denselben Menschen, denen in unserer Gesellschaft die Aufgabe zuteil wird, über das politische Führungspersonal und damit über die Geschicke des Landes zu entscheiden. Wenn wir die Angst vor den Menschen bekämpfen, brauchen wir uns auch nicht vor Viren fürchten.
Dieser Artikel ist am 31. Mai 2020 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.