PID-Debatte: Respekt vor dem Gewissen oder Abschied von der organisierten Willensbildung?

Die Reaktionen auf den Stil der Bundestagsdebatte zur Präimplantationsdiagnostik (PID) waren eindeutig: Den Abgeordneten wurde Respekt gezollt angesichts einer freien, zwar emotionalen, aber auch ernsthaften und unpolemischen Auseinandersetzung über die ethisch-moralische Vertretbarkeit der PID-Zulassung. Die Aufhebung des Fraktionszwangs in der Abstimmung und die Aufforderung, jeder Abgeordnete möge seine Entscheidung mit seinem Gewissen aushandeln, wurde als respektvoller Umgang mit dem heiklen Thema wertgeschätzt. Zu Recht?


Als Anhänger der demokratischen Verfasstheit von Staat und Gesellschaft stellen sich mir angesichts der öffentlichen Wahrnehmung der PID-Debatte einige Fragen zu unserer Erwartungserhaltung gegenüber unseren Volksvertretern. Zunächst ein einfacher Umkehrschluss: Wenn die Debatte über PID ethisch so anspruchsvoll ist, dass die Entscheidungsmacht der Parteien dem Abgeordnetengewissen untergeordnet wird, welche moralische Relevanz haben dann die anderen auf Basis der Parteidisziplin getroffenen Entscheidungen? Sind inhaltlichen Parteilinien nur dann akzeptabel, wenn es um Fragestellungen geht, die das persönliche Gewissen der Abgeordneten offenbar nicht so stark beanspruchen?

Daraus ergeben sich etliche weitere Fragen: Was sind die Kriterien, nach denen zwischen Fragen, die eine Aufhebung des Fraktionszwangs scheinbar erforderlich machen und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, differenziert? Dass persönliche Schicksale betroffen sind, kann kein hinreichendes Kriterium sein, dafür wurde in den letzten Jahren zu oft nach überaus polemischen und von Parteidisziplin beherrschten Parlamentsdebatten über Krieg und Frieden entschieden. Und warum gerade die Frage von PID das persönliche Gewissen von Abgeordneten stärker berühren sollte als die Bildungspolitik oder die Entsendung von Bundeswehrsoldaten in Krisengebiete, leuchtet ebenfalls nicht ein.

Es drängt sich der Verdacht auf, dass die unterschiedliche Behandlung von „ethischen Problemstellungen“ weniger mit der unmittelbaren Thematik zu tun haben, sondern mit der Fähigkeit der politischen Apparate, eine innere inhaltliche Kohärenz zu schaffen. Ganz offensichtlich ist das, wie auch das Abstimmungsergebnis zeigt, beim Thema PID nicht gelungen. Man könnte also die Bundestagsdebatte auch als Ausdruck des Scheiterns der Apparate betrachten, das aber nicht als Scheitern, sondern als Zeichen der Stärke umdefiniert wird, die sich eben in der gezielten Abschwächung der Parteiräson ausdrückt. Ganz so, als könne eine Partei in einer so wichtigen Frage damit leben, keine eigene Position zu besetzen. Doch kann sie damit wirklich gut leben? Und wenn sie meint, es zu können: Was sind Parteien wert, die sich freiwillig von ihrer eigenen Existenzbestimmung, aktiv zur Willensbildung beizutragen, zurückziehen und sich nur in sicheren Gefilden bewegen wollen? Warum soll eine weltanschaulich wie auch immer geprägte Partei bestimmte inhaltliche Bereiche aus ihrer Weltschau verbannen?

Es ist intuitiv nachvollziehbar, dass wir es angesichts des Zustands der politischen Parteien und der politischen Kultur insgesamt als beruhigend und angenehm empfinden, wenn bei bestimmten Themen die Gewissensfreiheit der Abgeordneten betont wird und diese sich nicht fortlaufend wie Parteisoldaten gebärden. Andererseits sollte uns aber auch bewusst werden, dass wir vielleicht gänzlich neue Formen der politischen Willensbildung und des Willensausdrucks brauchen, als wir derzeit haben. Unseren real existierenden politischen Institutionen und Verbänden dazu, dass sie den Anspruch aufgegeben haben, Willensbildung auch aktiv zu betreiben, und diesen Rückzug als Betonung der Gewissensfreiheit maskieren, zu beglückwünschen, kommt mir nicht über die Lippen.

 

Dieser Artikel ist am 12.07.2011 zuerst bei NovoArgumente erschienen.