Ohne Freiheit keine Genialität

Ex-Nationalspieler Mehmet Scholl hat den hohen Konformitätsdruck und die kreative Verarmung im Profifußball kritisiert. Dabei ist das kein fußballspezifisches Problem. Wer sich in unserer Gesellschaft nicht anpasst, gerät ins Abseits.


„Die System-Politiker sprießen aus dem Boden, Deutschland wird sein blaues Wunder erleben.“ „Nebenbei werden starke Charaktere aussortiert, weil sie unbequem sind.“ „Letztlich wird ganz oben nur noch eine weichgespülte Masse ankommen, die erfolgreich sein wird, aber niemals das Große erreichen wird.“

Das alles sind öffentlich geäußerte Sätze eines Prominenten, der auch sonst mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hält. Zugegeben, sie wurden leicht verfremdet, um den eigentlichen Bezug, in dem sie standen, nicht gleich sichtbar zu machen. Man könnte annehmen, es handele sich um einen meinungsstarken Politikwissenschaftler, der sich angesichts der aktuellen Lage der deutschen Politik in Rage redet. Doch dem hier Zitierten ging es nicht um Politik. Es ging um Fußball. Die Aussagen stammen von Mehmet Scholl. Mit seiner Verbalattacke gegen den Anpassungsdruck, der auf Fußballern laste, gegen die neue Generation der verkopften und taktikverliebten „Laptop-Trainer“ und gegen die systematische Aufzucht von gleichförmigen, handzahmen und leicht zu manövrierenden Elitekickern hat Scholl einigen Staub aufgewirbelt. Einige reagierten angesäuert, aber Scholl bekam für seine verbale Grätsche aus der Branche auch Rückendeckung.

Kritik tut Not

Scholl ist beileibe nicht der Erste, der den Finger in die Wunde legt. Im Magazin Novo wurde bereits im Mai 2002 dieser Trend zur systematischen Verdrängung echter Typen als die „Bierhoffisierung des Fußballs“ beschrieben – der Begriff hat es mittlerweile sogar in deutsche Leitmedien geschafft. Damals galt Oliver Bierhoff noch als Inbegriff des harmlosen und braven Lieblingsschwiegersohns, der immer gut frisiert und ebenso gelaunt und höflich auftrat und seinen Teil dazu beitrug, dass der Fußball noch ein Stückchen stromlinienförmiger, vermarktbarer und hoffähiger wurde. Sein Aufstieg zum Manager der Nationalmannschaft und mächtigen Weichensteller im DFB begann erst zwei Jahre später.

Seit Beginn dieses Jahrhunderts wurde im deutschen Fußball viel dafür getan, dass sich dürre Jahre wie die zwischen 1996 und 2006 nicht wiederholen, als die DFB-Elf (trotz der Vizeweltmeisterschaft 2002) über viele Jahre hinweg kein einziges Pflichtspiel gegen eine große Fußballnation gewinnen konnte. Die Nachwuchsarbeit wurde zum festen Bestandteil aller Profivereine gemacht. Diese Professionalisierung rief schon damals Kritiker auf den Plan: Für sie war der enge Kontakt zum urwüchsigen Bolzplatzleben ebenso in Gefahr wie die Chancen von eigenbrödlerischen Ausnahmetalenten und lauffaulen, aber genialen und lebenslustigen Straßenkickern, sich gegen fleißige, aber nur wenig kreative Systemspieler durchzusetzen. Die Kritiker wurden zwar gehört, doch die Rückkehr der radikal verjüngten Nationalmannschaft („Schweini“ und „Poldi“ kicken für „Klinsi“ und „Jogi“) in die Erfolgsspur und die einsetzende Public-Viewing-Kultur („Sommermärchen“) schienen die Befürworter des Nachwuchsförderungssystems zu bestätigen.

Der Erfolg hat die Missstände überdeckt

Unbestritten: Der deutsche Fußball kann seit Mitte der 2000er-Jahre einige Erfolge vorweisen. Die Erfolgsgeschichte beschränkt sich allerdings nur auf die obersten Zirkel der Fußballerelite: Das Ausbildungssystem des deutschen Profifußballs stellt sicher, dass eine sehr exquisite, aber auch sehr dünne Schicht von Ausnahmespielern für das Nationalteam bereitsteht: Diese Spieler sind enorm flexibel einsetzbar und anpassungsfähig, teamorientiert, in der Regel leicht führ- und kontrollierbar und ohne Reibungsverluste untereinander austauschbar. „Der Star ist die Mannschaft“ war der bezeichnende Slogan, unter dem das historische 7:1 gegen Brasilien bei der erfolgreichen WM 2014 abgeheftet wurde. Doch jenseits der blendenden Erfolge der Nationalmannschaft oder des Ausnahmevereins FC Bayern München zeigt sich: Die Mittelklasse des deutschen Fußballs lebt zu großen Teilen in ewiger Abstiegsangst und fast ohne jede realistische Chance, langfristig nach oben zu kommen und dort zu bleiben.

Selbst Vereine wie Borussia Dortmund, Schalke 04 oder die langjährigen Bayernjäger von Werder Bremen mussten dies in den vergangenen Jahren schmerzhaft erfahren. Noch schlimmer trifft es echte Mittelklassevereine, die es als „Underdogs“ gelegentlich aufs europäische Parkett schaffen, um im Anschluss zu erleben, dass ihnen dieser Ausflug oft den Bundesligaboden unter den Füßen wegzieht. Bochum, Frankfurt, Freiburg, Hannover und Köln sind Beispiele dafür, dass der Traum von der Euro-League jäh in der zweiten Liga enden kann. Häufig wird das Fehlen einer stabilen Mittelschicht als Folge der Ökonomisierung des Fußballs kritisiert. Einen weniger häufig genannten, aber ebenfalls beachtlichen Anteil daran hat auch die von Mehmet Scholl beschriebene Kultur der zunehmenden Systemfixierung, der risikoscheuen Planungsbesessenheit und der autoritären Teamorientierung, die sich in der Nachwuchsförderung zeigt.

Kreative Verarmung ist kein exklusives Fußball-Problem

Im selben Maße betroffen ist auch die Trainerausbildung des DFB, die Scholl rückblickend als „elfmonatige Gehirnwäsche“ bezeichnete. Beides zusammen führt seiner Ansicht nach zu einer kreativen Verarmung und Homogenisierung des Fußballs, die man nicht nur an den inzwischen fast wortgleichen Spielerinterviews ablesen kann, sondern auch auf dem Platz zu Gesicht bekommt. In dem Maße, in dem der Fokus immer mehr auf eine möglichst umfassende Ausbildung von Profikickern gelegt wird, schwinden Spiel- und Freiräume für Typen, die nicht in diese Muster passen. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass Spieler wie Stefan Effenberg, Mario Basler, Günter Netzer oder der einstige Maoist Paul Breitner heute schlicht und ergreifend durchs Raster fallen und aussortiert würden. Aber auch aktuelle Stars wie Arjen Robben, Franck Ribéry und Thomas Müller hätten heute Schwierigkeiten, ganz nach oben zu kommen.

So richtig es ist, dass Scholl auf diese Entwicklung kritisch hinweist, so wichtig ist es jedoch hinzuzufügen, dass dieses Phänomen eben kein fußballspezifisches ist. Der Fußball ist hier, wie so oft, ein Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen, wenngleich unter dem Brennglas extremer öffentlicher Beobachtung und mit entsprechender Verzerrung und Zuspitzung. Daher greifen auch Scholls Schuldzuweisungen in Richtung DFB letztlich zu kurz. Das Phänomen systemorientierter „Laptop-Trainer“ oder angepasster Fußballer ist nicht einfach nur auf Versäumnisse in den Ausbildungsstrukturen des DFB zurückzuführen. Die Probleme des Fußballs reflektieren die Gesellschaftsprobleme: Anpassungsdruck, freiwillige Konformität, starke Systemfixierung, fehlender Mut zum Unbequemen, Kreativen und Aufmüpfigen sind die Folgen eines zunehmend verengten politischen und gesellschaftlichen Horizonts. Diese Verengung wird gerade spürbar in Zeiten, in denen alte Gewissheiten und Sicherheiten aufbrechen und eigentlich neues Denken und mutiges Tun angesagt wären.

Schräge Typen brauchen Freiräume

Der Bundesligatorwart René Adler hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass ihm niemand verbiete, ein Buch in die Hand zu nehmen. Er reagierte damit auf die Aussagen des Freiburger Stürmers Nils Petersen, der unlängst im Focus das niedrige geistige Niveau im Profifußball kritisiert und eingestanden hatte, selbst seit zehn Jahren „zu verblöden“. Natürlich hat Petersen Zeit und Geld genug, um sich Bücher anzuschaffen. Dennoch wäre es unfair, die heute in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen fehlende Aufmüpfigkeit gerade von jungen Männern zu erwarten, die in Leistungszentren lernten, sich ihre Anpassungsfähigkeit und ihr Schweigen vergolden zu lassen. Sportler sind Vorbilder, wenn es um ihren Sport, um Disziplin und Ehrgeiz geht. Sie sind es nicht in Sachen Freiheitsstreben und Eigenständigkeit. Ähnlich absurd wäre es, von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu erwarten, dass sie plötzlich von ihrer Agenda der alternativlosen Stabilität abweichen und innovative Impulse setzen möge.

Wenn wir mehr schräge Typen in entscheidenden Positionen sehen wollen, dann müssen wir bereit sein, den Preis dafür zu zahlen. Und der besteht darin, dass die Verhältnisse durcheinandergebracht werden und wir uns von altem Personal und alten Glaubenssätzen verabschieden müssen. Der Preis ist weniger Planbarkeit und mehr Risiko, weniger Standardisierung und weniger systemische Disziplinierung. Dafür erhält man als Gegenleistung mehr Komplexität, mehr Veränderung, mehr Unordnung und mehr Eigenverantwortung. Wer mehr schräge Typen sehen will, muss den Mut haben, ihnen Raum zu geben und selbst ein bisschen schräger zu werden. Ob nun mit Laptop oder ohne: Ein positiveres Verhältnis zu Individualität und Freiheit täte gut – dem Fußball wie der Politik.

Dieser Artikel wurde am 24. Dezember 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online veröffentlicht.