Robin Williams hauchte dem Lebensmotto „Carpe diem“ in dem Film „Der Club der toten Dichter“ neue Beliebtheit ein. Doch der morbide Zeitgeist unserer Tage deutet dieses lebensbejahende Credo als Aufruf zur jetzt- und ichbezogenen Flucht aus der Welt.
Die moderne Gesellschaft hat ein seltsames Verhältnis zur Zeit und damit auch zu sich selbst: Sie sehnt sich einerseits nach der Vergangenheit, die sie rückblickend für die bessere Zeit hält. Und dabei verdrängt sie, dass man auch früher schon der „guten alten Zeit“ nachtrauerte. Andererseits hat sie nicht besonders hohe Erwartungen an die vor uns liegende Zeit. Denn sehr viel mehr als die Bewahrung der jetzigen Situation scheint in Zukunft nicht drin zu sein. Die Zeiten verschwimmen in einem Strom aus Missmut, Unzufriedenheit und Unsicherheit. Auf der Nussschale des eigenen Lebens versucht man, sich irgendwie durchzuschlagen, stößt aber doch immer wieder hart an die Ränder des Zeitenstroms oder aber verliert in der Strömung den Halt.
Es ist daher kein Wunder, dass die Menschen sich stärker auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Da sich die Wirklichkeit der allgemeinen Einschätzung nach ohnehin kaum ändern, geschweige denn durch eigenes Zutun grundlegend zum Positiven verändern lässt, haben historische Vergleiche auch nur noch den Sinn, das eigene Denken mitsamt der eigenen Vorurteile zu untermauern. Ohne das Korrektiv der Erinnerung fällt es uns schwer, Ereignisse rational einzuordnen. Die Aufgeregtheit so vieler öffentlicher Debatten hat mit dieser „sozialen Amnesie“ zu tun. Wir spüren diese Problematik zwar, machen sie aber zumeist an der Fülle von Informationen fest, die auf uns einstürzt. Der Gedanke sei gestattet: Vielleicht ist es gar nicht die Menge an Informationen, die uns überfordert, sondern die zunehmende Schwierigkeit, diese sinnvoll zu filtern und zu verarbeiten.
Die innere Abkehr von der Welt
Und so wird die zwischen verschwommener Vergangenheit und düsterer Zukunft eingezwängte Gegenwart zu einem Lebensraum, der nicht wirklich viel zu bieten hat – vor allen Dingen keine Weite und keine Perspektive. In dieser kleinen Jetzt-Welt macht das Streben des Einzelnen nach innerer Ausgeglichenheit, nach Ruhe, Sicherheit und Balance einen immer wichtigeren Teil des Lebens aus. Fragt man Menschen nach ihrem Lebensmotto, so gehören Aussagen wie „Carpe diem“ („Pflücke den Tag“) oder „YOLO“ („You only live once“, „Man lebt nur einmal“) zu den populärsten. Und so lebensbejahend diese Sätze auch klingen mögen: Im heutigen sozialen Klima stehen sie weder für ein intensives Engagement noch für eine produktive Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sondern für das Gegenteil: für den inneren Rückzug und die Abkehr von der Welt.
„Carpe diem“ ist zu einem zentralen Motto unserer Zeit geworden. Als sinnstiftende Bezeichnung und werthaltiger Name findet es heute unzählbare Verwendungen, unter anderem zur Benennung von Altenwohnanlagen, Bars, Cafés, Campingplätzen, Esoterik-Instituten, Friseursalons, Gesundheitszentren, Hotels, Innenausstattern, Jugendzentren, Kochstudios, Lifestyle-Messen, Modegeschäften, Musiklabels, Personalvermittlungen, Radiosendungen, Reiseveranstaltern, Selbsthilfeorganisationen, Wellness-Clubs, Zeitschriften – und sogar Immobilienmaklerbüros. Auf den ersten Blick kann man das mögen, signalisiert dieses Motto doch eine nicht völlig oberflächliche Auseinandersetzung mit den wichtigen Dingen des Lebens sowie einen gewissen Grad an Bereitschaft, sein Leben aktiv in die Hand zu nehmen.
Mache etwas Außergewöhnliches
Mir persönlich begegnete dieser Begriff erstmals, als ich als Abiturient im Jahr 1990 den Film „Der Club der toten Dichter“ sah. Inspiriert von ihrem neuen Literaturlehrer John Keating entdeckt eine Gruppe wohlerzogener Schüler eines konservativen Eliteinternats die verbotene, aber freie und intensive Welt der Poesie. Keatings Unterrichtsmethoden sind ein Faustschlag ins Gesicht der elitären Traditionen: Er lässt seine Schüler Seiten aus Lehrbüchern herausreißen und auf Stühle steigen, damit sie die Welt aus einem anderen Blickwinkel sehen. Und er gibt ihnen mit Verweis auf den römischen Dichter Horaz ein Lebensmotto mit auf den Weg: „Carpe diem. Nutzet den Tag. Macht etwas Außergewöhnliches aus eurem Leben!“ „Carpe diem“ steht hier für den Aufruf, die Schönheit des Lebens dadurch zu genießen, dass man sich wehrt, sich mit Unrecht nicht stillschweigend abfindet und den Tag nutzt, um die Dinge zum Besseren zu wenden.
Hat das heute so omnipräsente „Carpe diem“ noch diesen auffordernden, aktivierenden, Verantwortung einfordernden und damit potenziell rebellischen Gehalt? Nein, denn wir leben nicht in optimistischen und freiheitsliebenden Zeiten. Der heutige Zeitgeist verkehrt „Carpe diem“ in sein Gegenteil. Horaz beließ es nicht bei der Aufforderung, den Tag zu nutzen, sondern er ergänzte: „… und verlass Dich möglichst wenig auf den folgenden“ („Carpe diem quam minimum credula potero“). Davon, dass man einfach so leben solle, als gäbe es kein Morgen, war bei ihm nicht die Rede. Unser morbider Zeitgeist meint aber genau dies: Er ruft uns dazu auf, das Hier und Jetzt zu genießen, ohne Perspektive, ohne Zukunft und auch ohne Verantwortung.
Ein Leben voller idealer, letzter Tage
Ein Leben voller idealer, letzter Tage klingt für mich nach fürchterlicher Langeweile, denn es gäbe keine Veränderung, kein Lernen, kein Ringen um etwas. Es wäre ein Leben ohne das, was das Menschsein aus- und das Morgen so spannend macht. Warum soll jeder Tag so „schön“ sein, dass er zum krönenden Abschluss des Lebens taugt? Was sagt es über unsere Erwartung an das Leben, wenn wir einfordern, täglich eine positive Gesamtbilanz mit Happy End ziehen können zu müssen? Ist ein erfülltes Leben wirklich eines, das wir jederzeit mit einem guten Gefühl beenden können? Oder geht es nicht eher um Bewegung, darum, sich zu entwickeln und Ziele langfristig zu verfolgen und diese auch zu erreichen?
Wer dem sinnentleerten Gehalt des modernen „Carpe diem“ folgend jeden Tag so lebt, als sei er sein letzter, der hat offensichtlich nichts, worauf er hinarbeitet, nichts, was er anstrebt, nichts, was er riskiert und nichts, was er hinter sich lassen möchte. Diese Haltung entspricht der heute weit verbreiteten Einstellung zum eigenen Leben, das nur wenige Chancen zu bieten scheint und deswegen die Stagnation und das Unbeteiligtsein zum eigentlichen Lebensinhalt erklärt. Dass man, um etwas zu erreichen, auch einmal in den „sauren Apfel beißen“ muss, liegt zwar auf der Hand, widerspricht aber der modernen „Pflücke-den-Tag“-Philosophie.
Die menschliche Sehnsucht nach Erkenntnis
Wer indes für sich keine lohnenden Ziele identifizieren kann, dem bleibt gar nichts anderes übrig, als den einzelnen Tag mit künstlicher Bedeutung aufzuladen und in Ermangelung von Zielen dem Weg zu huldigen. Auch wenn dieser im Kreise führt. Paradoxerweise zerstört das Zelebrieren des „Alltags“ zudem die tatsächliche Schönheit des Augenblicks, der sich von dem Vorher und dem Nachher unterscheidet. Wer predigt, man solle jeden Tag wie seinen letzten leben, beerdigt den Glauben an bessere Zeiten – und damit jede sinnvolle Ambition, etwas tatsächlich Besonderes aus jedem Tag zu machen.
In seiner eigentlichen Bedeutung steht „Carpe diem“ für die unbändige menschliche Sehnsucht nach Erkenntnis und Schönheit. Der heutige geschichts- und zukunftslose Zeitgeist deutet dieses lebensbejahende Credo als Aufruf zur jetzt- und ichbezogenen Flucht aus der Welt und reduziert so das Zukunftsverständnis des Menschen auf das einer Eintagsfliege. Und was mich betrifft: Dafür habe ich wirklich noch zu viel vor.
Dieser Artikel ist am 2. September 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.