Fukushima und die Globalisierung der Angst

Japan kämpft mit beschädigten Atomreaktoren, und in Deutschland steigt die Nachfrage nach Geigerzählern. Was löst solche Übersprungshandlungen aus?

Japan kämpft mit beschädigten Atomreaktoren, und in Deutschland steigt die Nachfrage nach Geigerzählern. Zeitungsartikel lassen uns plötzlich wissen, dass es theoretisch auch in Mitteleuropa zu ähnlich starken Erdbeben kommen könne. Die Bundesregierung nimmt die Ereignisse in Fernost zum Anlass, um Atomanlagen in Deutschland, deren Sicherheit gerade eben noch überprüft worden war, abzuschalten und zerstört damit endgültig die Glaubwürdigkeit ihrer Energiepolitik – „um dem Sicherheitsbedürfnis der Bürger zu entsprechen“, wie es in Berlin heißt. Was löst solche Übersprungshandlungen aus?

Man könnte argumentieren, es handele sich um Nebenwirkungen der Globalisierung. Schließlich, so heißt es allenthalben, seien alle Länder dieser Welt so eng vernetzt, dass Probleme kaum mehr auf nationaler Ebene zu lösen seien. Zumindest, was die Wahrnehmung von Krisen und Katastrophen anbelangt, scheint die Erde tatsächlich auf die gefühlte Größe eines Dorfes zusammengeschrumpft zu sein. Anders ist es nicht zu erklären, dass eine Naturkatastrophe in Japan zu einem Abschalten deutscher Kernkraftwerke führen soll.

Es wäre jedoch ein fataler Irrtum, die Ängste der Menschen am einen Ende der Welt angesichts von Ereignissen am anderen Ende der Welt als Keim eines globalen – und damit positiven – Bewusstseinswandels zu bewerten. Denn dieses „globale Denken“ basiert auf Ängsten und Gefühlen, die wenig mit konkretem Wissen über oder einem gesteigerten Interesse an der konkreten Situation in den Krisenregionen oder am Schicksal der Menschen vor Ort zu tun haben. Vielmehr wird die Krise dort genutzt, um eigene, sehr begrenzte und seit langem feststehende Sichtweisen mit einem globalen Anstrich zu versehen und so zu modernisieren.

Gut zu beobachten ist dies an der mit neuer Energie „made in Japan“ ausgestatteten Anti-Atombewegung: Jede in unseren Breiten noch so unwahrscheinliche Katastrophe gilt als brauchbares Indiz für den eigenen, nahenden Untergang und als Fingerzeig für die Notwendigkeit, den Glauben an unsere Sicherheit und unsere technischen wie sozialen Errungenschaften in Zweifel zu ziehen. Plötzlich werden reale Unterschiede, die es auf der Welt gibt, eingeebnet, und im Handumdrehen wird der Oberrheingraben zum kommenden Erdbebenkatastrophengebiet. Das einzige, was hieran wirklich „global“ ist, ist der Zweifel daran, dass die Menschheit Risiken sinnvoll abschätzen, entsprechende Vorkehrungen treffen, Krisen meistern und aus ihnen lernen kann.

Wie wenig wirkliches Interesse an den von Katastrophen betroffenen Menschen besteht, zeigt sich nicht nur daran, dass die allgemeine Aufmerksamkeit schwindet, sobald ein Krisenherd aus den Schlagzeilen verschwindet. Selbst in den Reaktionen auf die aktuelle Katastrophe, die über die japanische Bevölkerung hereinbrach, kommt ihrem Schicksal eigentlich nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Vielmehr mobilisieren die Ereignisse neben selbstbezogenen Ängsten um die eigene Sicherheit in erster Linie alte Vorurteile gegenüber „den Japanern“: Deren Gefasst- und Diszipliniertheit wird bestenfalls befremdlich bewundert, häufiger jedoch negativ bewertet und als nahezu menschenuntypisch empfunden.

Die steigende Beachtung von Geschehnissen in aller Welt fußt nicht auf Weltoffenheit. Sie ist eher das Resultat einer „Globalisierung der Angst“. Dies wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie ähnlich wir auf die unterschiedlichsten Ereignisse reagieren. Ganz gleich, ob es nun ein Hurrikan in New Orleans, ein Hochwasser in Deutschland oder eben eine durch ein Erdbeben ausgelöste Krise in einem japanischen Atomkraftwerk ist: In einer fast schon automatischen Reaktion wird das Scheitern menschlicher Bestrebungen nach Sicherheit und Fortschritt diagnostiziert und sofort ängstlich hinterfragt, welche Schlussfolgerungen wir zu ziehen, mit welchen potenziellen Folgen für unser Gemeinwesen wir zu rechnen und inwiefern wir die Krise gar mit zu verantworten haben. Trifft die Katastrophe ein armes Land wie Haiti, aktiviert das den Mitleidsreflex, der sich in einer großen Spendenbereitschaft ausdrückt. Im Falle des hochentwickelten Japan überwiegt eher die kritische Distanzierung.

Der Blick in die Welt führt direkt zurück in die egozentrische Nabelschau. Krisen und Katastrophen, wie und wo auch immer sie stattfinden, werden fast instinktiv als unmittelbare Bedrohungen für unser Leben interpretiert. Dies nicht, weil wir wirklich davon ausgehen, dass atomare Wolken aus Japan den Weg nach Deutschland finden, sondern eher, weil wir meinen, aus derartigen Ereignissen Rückschlüsse für uns ziehen zu müssen. Und das heißt hier leider nicht vorrangig, gemeinsam nach Wegen zu suchen, um künftig Katastrophen zu lindern oder zu verhindern, sondern es meint vor allem: Erklärungen finden, die in unser vom Gefühl des Scheiterns und der Unzulänglichkeit des Menschen geprägtes Weltbild passen.

Da ist die Suche nach den Verursachern solcher Katastrophen auch zumeist schnell erfolgreich: Es ist der Mensch an sich, der die Natur gegen sich aufbringt, weil er meint, sie beherrschen zu können; weil er sich fatalen Verführungen hingibt, aber gleichzeitig nicht in der Lage zu sein scheint, sein Leben krisenfrei gestalten zu können. Wie könnte er auch, wenn nicht einmal wir selbst mit unseren Hausnachbarn und Arbeitskollegen klarkommen? Auch hier bewirkt der getrübte Blick in die große weite Welt nur eine Bestätigung dessen, was man ohnehin schon immer gewusst haben will.

Wie wenig die fast schon panische Aufgeregtheit mit einem positiven globalen Bewusstsein zu tun hat, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass erfreuliche Entwicklungen auf der Welt gänzlich ausgeblendet oder aber zu negativen umgedeutet werden. In der Globalisierung der Angst ist kein Platz für reale Fortschritte im Kampf gegen Armut und Hunger, in der Wissenschaft, im Schutz vor Naturkatastrophen, im Umweltschutz, in der Reaktorsicherheit oder in der demokratischeren und menschenfreundlicheren Gestaltung größerer Teile der Welt.

Ein globales Bewusstsein setzt aufrichtiges Interesse an Menschen und deren Lebensweisen voraus sowie die Bereitschaft, über den eigenen Tellerrand zu schauen, Vorurteile zu überwinden und gemeinsam an Problemlösungen zu arbeiten und voneinander zu lernen. Die Globalisierung der Angst, die sich bei jeder neuen Entwicklung irgendwo auf dem Globus zeigt, ist das genaue Gegenteil davon.

Der Artikel ist am 15.03.2011 bei Novo Argumente erschienen