Glaubt man Sportentwicklungshelfern, klappt’s mit dem Weltfrieden, wenn die Menschen mehr Sport treiben. Nun wird das Feld von der richtigen Seite aufgerollt.
(Erschienen in Novo58/59, Mai 2002)
Seit Jahrzehnten tingeln Fußballer wie Fußballlehrer durch exotische Länder, zumeist als „Fair Play“- oder UNESCO-Botschafter. Prominente Weltenbummler in Sachen „Fußballentwicklungshilfe“ sind Trainer wie Rudi Gutendorf, Dettmar Cramer oder Holger Obermann. Gutendorf hält den Weltrekord: Zwischen Fidschi und Ruanda war der Träger des Bundesverdienstkreuzes im Auftrag der Bundesregierung, des DFB oder des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) in nicht weniger als 17 Ländern als Nationaltrainer tätig. Der Trainer, Sportjournalist und Sportentwicklungshelfer Holger Obermann war in selber Mission in Gambia, Ost-Timor und anderen krisengeschüttelten Ländern aktiv. Mit den heute in Ländern der Dritten Welt arbeitenden deutschen Fußballtrainern könnte man die halbe Bundesliga bestücken, so man wollte.
Dieser weltweite Austausch ist eine positive Entwicklung: Fußball ist Weltsportart Nummer Eins, und das globale Spieler- und Trainerkarussell dreht sich mit einer derart hohen Geschwindigkeit, dass seine Fliehkräfte bis in die entlegensten Winkel der Welt wirken. Andersherum funktioniert das System ebenfalls: Die meisten Bundesligavereine könnten heute ohne ausländische Spieler keine kompletten, geschweige denn schlagkräftigen Mannschaften mehr auf das Spielfeld schicken.
Fußball als Entwicklungspolitik
Problematisch wird es, wenn Fußball als „Entwicklungshilfe“ politisch missbraucht wird und sich Fußballer und Trainer selbst als „Entwicklungshelfer in zivilisatorischer Mission“ begreifen. Nicht selten werden europäische Trainer in Dritte-Welt-Ländern wie offizielle Botschafter hofiert, häufig sind sie es sogar: Sie schütteln staatstragende Hände, üben Druck auf Minister aus und beeinflussen (als potenzielle Wegbereiter weiterer Entwicklungshilfe), manchmal gewollt, aber auch ungewollt, die politische Situation in den Empfängerländern. Nicht umsonst gilt die Entsendung von Sportlehrern als eine der erfolgreichsten Langzeitinitiativen bundesdeutscher Entwicklungshilfe. Bundesregierung, NOK, DFB, aber auch FIFA, UEFA und EU räumen der „Sportentwicklungshilfe“ eine zentrale Stellung ein. Gerade seine Globalität macht Fußball zu einem gut funktionierenden, weil scheinbar „unpolitischen“, Vehikel der Außen- und Entwicklungspolitik.
Die Einvernahme des Fußballs als „Entwicklungshilfe“ ist Ausdruck eines verdrehtes Verständnisses von Politik und von den realen Ursachen sozialer und ökonomischer Krisen. Um im Jargon zu bleiben: Im Fußball liegt die Wahrheit auf dem Platz, in der Politik hingegen sollte sie auf anderen Feldern zu finden sein. Beides zu vermischen, degradiert Politik und Gesellschaft zu einem einseitigen und experimentellen „Gesellschaftsspiel“, zu dessen Gelingen sich die beteiligten lokalen Akteure einfach nur den – aus den Geberländern importierten – (Sport-) Missionaren und ihren Wertevorstellungen zu fügen haben; ein Muster, das man auch aus der gegenwärtigen „großen“ Entwicklungspolitik kennt.
Postmaterialistischer Werteexport
Betrachtet man die Veränderung westlicher Entwicklungshilfe der letzten Jahre (neudeutsch: „Entwicklungszusammenarbeit“), so fällt auf, dass diese immer weniger die flächendeckende Entwicklung und Modernisierung maroder ökonomischer wie sozialer Infrastrukturen zum Ziel hat, sondern sich in erster Linie auf Kleinstprojekte kapriziert und gezielt als Mittel zur politischen Einflussnahme eingesetzt wird.
Die Vergabe von Krediten und Hilfen erfolgt zumeist in direkter Kopplung an Einfluss- und Interventionsbefugnisse für die Geberländer und -institutionen. Häufig sind „ökologische“ Kriterien ausschlaggebend dafür, dass Entwicklungsländern der eigenverantwortliche Aufbau moderner Industrien und Infrastrukturen verwehrt wird. Stattdessen wird den Empfängerländern das westliche Wertesystem übergestülpt, paradoxerweise mit der Begründung, man wolle die Dritte Welt nicht durch die Einführung moderner Technologien und Strukturen dominieren und fremdbestimmen. Entwicklungshilfe hat sich unter diesem Credo zu einem westlich dominierten „post-materialistischen Werteexport“ gewandelt. „Entwicklung“ im Sinne einer Befähigung zu eigenständigem sozialen, ökonomischen und politischen Fortschritt rückt in den Hintergrund.
„Wer Fußball spielt, begeht keinen Genozid“
Ein Paradebeispiel für diese Art von Entwicklungshilfe ist die „Sportentwicklungszusammenarbeit“. Sie wird von der Bundesregierung in enger Kooperation mit der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), dem Deutschen Fußballbund (DFB) und dem NOK, aber auch von Organisationen wie „Brot für die Welt“ oder dem „Verein für Friedenspädagogik“ betrieben und fußt auf der gleichen Philosophie: Fußbälle, Sportschuhe und -lehrer werden als friedensstiftende und zivilisierende Maßnahmen in die Dritte Welt versandt, um so den Menschen vor Ort eine „Perspektive“ und die Möglichkeit zu geben, sich auf sportliche Art wieder zu versöhnen. Insbesondere Fußball gilt als „Entwicklungskatalysator“, da er auf Werten wie „Fair Play“ und „Teamwork“ beruhe und ganze Volksgruppen zusammenschweißen könne. Gerade für Jugendliche sei dies wichtig: „Während sie gemeinsam spielen und Sport treiben, vergessen sie wenigstens für kurze Zeit Armut und Hunger.“
Auch Rudi Gutendorf verstand seine Aufgabe „politisch“, als er 1999 als Nationaltrainer nach Ruanda ging: „Nur mit einer starken geeinten Mannschaft könnte die Versöhnung der verfeindeten Stämme der Tutsi und Hutu für das einfache Volk sichtbar gemacht werden.“ Sein Kontakt zu höchsten politischen Stellen schildert Gutendorf in seinem soeben erschienenen Buch Mit dem Fußball um die Welt wie folgt: „Ich spreche beim Vizepräsidenten der Regierung vor und versuche, Werte der Zivilisation zu vermitteln.“
Natürlich ist gegen die Versendung von Fußbällen und Trainern nach Afrika nichts einzuwenden. Dieses jedoch in den Rang von „Entwicklungshilfe“ zu heben und stolz die Kosten für Fußbälle und Spielplätze als Entwicklungshilfeausgaben in den Budgets aufzuführen, verhöhnt die Menschen in der Dritten Welt, die andere Sorgen haben als den Mangel an runden Ledern und taktischem Know-how. Wer Entwicklungshilfe nach dem Motto „Wer Fußball spielt, begeht keinen Genozid!“ betreibt, hält nicht viel vom Menschen.
„Afrikaner bleiben stets Kinder“
Auch hierzulande wird Sport gerne als Gewaltprävention- und Sozialisierungsprogramm für Jugendliche diskutiert. Auf internationaler Ebene erhält diese Vorstellung zuweilen eine chauvinistische Note: Krisen und Kriege werden auf lokale kulturelle Missstände zurückgeführt, die scheinbar Teil der Natur der Menschen in der Dritten Welt und nur durch massive Umerziehung zu unterbinden sind. Dieser versteckte Chauvinismus ist weit verbreitet, gerade auch – ob es ihnen bewusst ist oder nicht – unter „Sportentwicklungshelfern“. Liest man ihre Erfahrungsberichte, wundert man sich über so manche Formulierungen. Obermanns Liebeserklärung an Afrika hat einen seltsamen Beigeschmack: „Afrikaner haben eine Eigenschaft, die ich besonders mag: Sie bleiben stets Kinder.“
Gutendorfs Analyse der Situation Ruandas nach den verheerenden Massenmorden klingt ganz ähnlich: „Was mir auffällt: Überall herrscht Traurigkeit, auch meine Spieler sind nicht fröhlich wie überall sonst die Menschen in Afrika. Afrikaner lachen gerne und zeigen ihre blendend weißen Zähne.“ Seiner „Weltoffenheit“ rühmt sich Gutendorf mit den Worten: „Ich wusste schon immer, dass Schwarze nicht abfärben… Ich massierte und verband Verletzte am Spielfeldrand, ich fuhr sie ins Spital, auch wenn sie blutend das Polster meines Mercedes versauten.“
Problematisch sind hier nicht die vielleicht unglücklichen Aussagen einzelner Sportlehrer, problematisch sind die der modernen (Sport-)Entwicklungshilfepolitik zugrunde liegenden Sichtweisen und Vorurteile in Bezug auf die „Unmündigkeit“ der Menschen in der Dritten Welt. Gutendorf und Obermann gelten als Koryphäen deutscher Entwicklungszusammenarbeit; sie sprechen „Mainstream“, wenn auch etwas ungeschickter.
Brot durch Spiele?
Auch in einem anderen Punkt stellen die Grundannahmen moderner Entwicklungshilfepolitik und insbesondere der „Sportentwicklungshilfe“ die Realität auf den Kopf. Gerade die Entwicklung sportlicher Wettkämpfe, sei es im Breiten oder im Hochleistungssport, ist eine Folge politischen und ökonomischen Fortschritts und wachsenden Wohlstands und damit ein Produkt der modernen Gesellschaft. Vormoderne Gesellschaften kannten keinen „Sport“, seine Entwicklung ist untrennbar mit der Entstehung der Industriegesellschaft, dem langsam wachsenden Lebensstandard großer Teile der Bevölkerung sowie solidarischer Verhältnisse in der Gesellschaft verbunden. Ohne sozialen Fortschritt kann es keinen Frieden geben, keine Perspektiven und auch kein „Fair Play“.
Die postmaterialistische Entwicklungshilfe-Philosophie dreht den Spieß um: Ihr zufolge werde nicht durch Wachstum und Entwicklung, sondern durch Sport Zivilisierung herbeigeführt, was wiederum erst Frieden ermögliche. Mit anderen Worten: Sozialer Fortschritt wird von materiellem Wachstum und technischem Fortschritt abgekoppelt.
Diese Verkehrung gesellschaftlicher Zusammenhänge macht Politik zu einem menschenverachtenden Spiel, bei dem Sieger und Verlierer bereits vor Anpfiff feststehen: Die Sieger stellen Ausrüstung, Spielgerät, Regeln und Schiedsrichter, die Verlierer bedanken sich brav, wenigstens für 90 Minuten ihre menschenunwürdigen Lebensumstände vergessen zu dürfen. Diese Art von „Entwicklungshilfe“ ist nichts anderes als eine menschenfeindliche Tätlichkeit, sie gehört vom Platz gestellt.
Literaturtipps:
Rudi Gutendorf: „Mit dem Fußball um die Welt“, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2002, EUR 19,80
Eva Apraku/Markus Hesselmann: „Schwarze Sterne und Pharaonen. Der Aufstieg des afrikanischen Fußballs“, Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1998, EUR 14,32
Holger Obermann: „Und alle träumen von Pelé. Meine Erlebnisse am Gambia-River“, Consens-Verlag Hellmuth Hirschel, Stuttgart 1989 (vergriffen)
Deutsche „Sportentwicklungshilfe“ im Jahr 2001
Fußball in Botswana, Guinea, Libanon, Jemen, Nordkorea, Ost-Timor, Thailand; Basketball auf Madagaskar; Boxen auf den Seychellen; Frauenturnen im Iran; Kanufahren in Bulgarien; Leichtathletik in Gambia; Reiten in Indien; Tischtennis in Armenien; Sportplätze für Albanien; Sportverwaltung für El Salvador; Sportmarketing für Thailand.