Die ängstliche Gesellschaft hat Verdauungsstörungen – trotz gesunder Ernährung.Wir empfehlen: eine ordentliche Portion Realitätssinn, garniert mit einer kräftigen Priese Verstand und einem wohlwollenden Schuss Gelassenheit. Co-Autorin: Eva Balzer
(Erschienen in Novo55/56, November 2001.)
Wer die Debatten über die Lebensmittelskandale der letzten Monate verfolgte, fühlte sich zuweilen in eine rückständige Epoche der Menschheitsgeschichte zurückversetzt: Scheiterhaufen in Großbritannien, Massenschlachtungen in ganz Europa; eine wachsende Schar von Menschen, die den Lebensmittelproduzenten nicht mehr vertraut und das tägliche Essen als unkalkulierbares Risiko auffasst. Hinzu kommt eine politische Elite, die, anstatt sich um wichtige gesellschaftliche Probleme zu kümmern, die „Rechte“ von Legehennen schützen möchte und vorgibt, eben erst den Verbraucherschutz erfunden zu haben. Dass da so manchem der Appetit vergangen ist, verwundert wenig.
Problematisch ist, dass in diesem Strudel der Aufgeregtheiten die Realität der deutschen, europäischen und weltweiten Lebensmittelversorgung fast unbeachtet bleibt. Zur Befürchtung, die Qualität unserer Lebensmittelversorgung sei besorgniserregend, besteht jedenfalls kein Anlass. Noch nie in der Geschichte konnten so viele Menschen so gut ernährt werden wie heute, und das bei einer nie da gewesenen Qualität und Produktivität der Landwirtschaft. Viele Krankheiten, die früher auf Mangelernährung, schlechte Hygiene oder schädliche Zubereitungsweisen zurückzuführen waren, sind zurückgedrängt oder ausgerottet worden. Das Durchschnittsalter der Menschen steigt, und die Zahl der Hungernden geht weltweit zurück. Zudem machen zahlreiche technische Innovationen Appetit auf mehr: Die Vorstellung, dass wir mit weniger Natur- und Energieverbrauch mehr Nahrung erzeugen können, ist längst Wirklichkeit.
Verunsicherung kommt nicht beim Essen
Wenn also nicht aus dem Suppentopf, der Tiefkühltruhe oder der Burger-Maschine, woher stammt der Missmut und die Appetitlosigkeit, wenn man aufs Essen zu sprechen kommt? Erst im gesellschaftlichen Kontext wird deutlich, dass die Debatten über Ernährung von Trends geritten werden, die mit Essen nichts zu tun haben. So ist die Bereitschaft, stets vom Schlimmsten auszugehen und sein Heil im Ruf nach verschärfter Sicherheit zu suchen, keineswegs eine besondere Geschmacksnote der Ernährungsdiskussion. Ob es nun die immer wieder beschworene rechte Gefahr, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, der Zuwachs der ausländischen Wohnbevölkerung oder aber der Unfall in einer Chemiefabrik sind: Beständig gilt der GAU als geradezu unvermeidbare Konsequenz menschlichen Handelns, das es deshalb stärker zu reglementieren gilt. In diesem Klima der Verunsicherung und des Misstrauens genügt schon eine kleine Panne, um beispielsweise den Ruf nach grundlegenden Veränderungen des Nahrungsmittelproduktions- und -kontrollsystems anschwellen zu lassen.
Die öffentliche Meinung ist in diesem Klima sehr anfällig geworden für Irrationalismen und Dramatisierungen: Anstatt die Ursachen und Folgen der Maul- und Klauenseuche (MKS) und des Rinderwahnsinns (BSE) sachlich zu erörtern und zu klären, was Wissenschaft und Landwirtschaft unternehmen können, erschienen beide Begriffe rasch als Vorboten des nahenden Armageddons. Beinahe reflexartig wurde die vermeintliche Unkontrollierbarkeit moderner Agrarbetriebe beklagt und eine verstärkte Kontrolle sowie die grundsätzliche Umkehr der Landwirtschaft hin zum „Weniger ist mehr“ gefordert. Die Art und Weise, wie heute über Lebensmittelproduzenten geredet wird, erweckt den absurden Anschein, als sei der gesamte Markt bis gestern Tummelplatz für Verbrecher und Menschenvergifter gewesen.
Ähnlich realitätsfern gestaltet sich die Debatte über die Zukunft der Landwirtschaft: Die von der rot-grünen Bundesregierung angekündigte Abkehr von der „hochtechnisierten“ und „verwissenschaftlichten“ Landwirtschaft suggeriert, man könne durch eine Reduktion von Wissenschaft und Technologie die Bevölkerung vor weiteren Skandalen besser schützen. Das Gegenteil ist der Fall: zwischen der Verbreitung von MKS und der Rückschrittlichkeit landwirtschaftlicher Produktionsweisen besteht ein direkter Zusammenhang.
Dennoch wird einer weniger intensiven und umweltverträglichen Landwirtschaft das Wort geredet. Wie aber zukünftig mehr als sechs Milliarden Menschen ernährt werden sollen, wenn auf intensive Landwirtschaft und neue Technologien verzichtet wird, bleibt unbeantwortet. Dass eine Weiterentwicklung von Technologien darüber hinaus dem Ziel dienen kann, die Umwelt besser zu schützen, findet ebenfalls wenig Beachtung. Ganz unter den Esstisch fällt zumeist die grundlegendste und wichtigste aller Erkenntnisse: Sowohl ökologische als auch intensive Landwirtschaft ermöglichen heute eine Versorgung mit Lebensmitteln in bisher unbekannter Vielfalt und Qualität.
Blinder Aktionismus
Die Ernährungsdebatte ist geprägt von einem ängstlichen und pessimistischen gesellschaftlichen Denken, das sich bis in die Küchen ausgebreitet hat. In dem Unbehagen vieler Bürger angesichts automatisierter Verfahren zur Lebensmittelherstellung verschafft sich eine diffuse Skepsis gegenüber Industrie, Wissenschaft und Wirtschaft Luft. Aus diesem Gefühl der Ohnmacht heraus wird der Ruf nach verstärkter Regulation wissenschaftlicher und ökonomischer Prozesse laut. Allzu gerne greifen visionslose politische Eliten dieses gesteigerte Sicherheitsbedürfnis der Bürger auf, erhoffen sie sich doch hiervon Handlungsfähigkeit präsentieren und neue Bindungen des Vertrauens aufbauen zu können. Gleichzeitig aber verstärken sie das Misstrauen gegenüber der allgemeinen Lebensmittelsicherheit durch hektische Betriebsamkeit im Bereich des Verbraucherschutzes.
Das Ironische daran: Einerseits wird das noch vorhandene Rest-Vertrauen in bestehende Sicherheitsstandards endgültig zerstört, andererseits schwindet aber auch der Glaube daran, dass überhaupt noch Sicherheit gewährleistet werden könne. Viele der aufgeregten Diskussionen im Bereich der Ernährungssicherheit sind lediglich Scheingefechte, in denen Scheinlösungen als Antwort auf vermeintliche Ernährungsgefahren präsentiert werden. Daher stoßen diese Debatten auch keine Veränderungen an, durch die die Gesellschaft in die Lage versetzt würde, tatsächlich bestehende oder künftig auftretende Missstände beheben und das Vertrauen der Menschen (wieder-)herstellen zu können. Gerade blinder Aktionismus wird nicht verhindern können, dass in Zukunft einzelne schwarze Schafe durch unvorsichtiges oder verantwortungsloses Verhalten Lebensmittelskandale auslösen.
Ökologischer Glaubenskrieg – bis zum letzten Schokoriegel
Die Antwort der Politik auf die drängende Frage vieler Bürger, was man denn überhaupt noch essen könne, orientiert sich immer weniger an wissenschaftlichen Erkenntnissen – diese bescheinigen unseren Lebensmitteln hohe Qualität und der Bevölkerung eine gute Gesundheit. Angesichts der eigenen Verunsicherung und Isolation reagieren die Eliten auf die Verunsicherung der Menschen mit Panikmache von oben. Und dies nicht nur in Ernährungsfragen: Politisch motivierte und moralisch verklausulierte Glaubenssätze versalzen die komplette politische Kultur.
Der Versuch, eindeutige Leitlinien vorzugeben und eine klare Unterscheidung von „Gut und Böse“ zu treffen, offenbart das Streben der Politik, die aufgescheuchte Gesellschaft zu beruhigen und um sich zu scharen. „Gut und Böse“ werden auch in der Ernährungsdebatte entlang der bereits bekannten Demarkationslinien ökologischer Diskurse definiert. Das neue Wertesystem, dass zunehmend nicht nur an den öffentlichen Stamm- , sondern auch an den privaten Esstischen das Zepter schwingt, problematisiert neben der Massenproduktion vor allem den industriellen Charakter der Ernährungserzeugung und zieht hieraus Rückschlüsse auf die Qualität der Produkte. Beispielsweise gelten Erzeugnisse aus biologischem Anbau generell als die „gesünderen“, weil davon ausgegangen wird, dass ein Weniger an Technik und Künstlichkeit automatisch einen Mehr an Qualität zur Folge hat – ein Trugschluss.
In der öffentlichem Meinung ist die Einteilung von Lebensmittel in „gesunde“ und „ungesunde“ mittlerweile fest etabliert, und es wird davon ausgegangen, dass ungesunde Nahrung vor allem dort anzutreffen ist, wo billig, schnell und massenhaft eingekauft wird. Der Supermarkt, einst Inbegriff der praktischen, günstigen und guten Versorgung der Bevölkerung, erscheint in diesem Klima als Ausgeburt des globalisierten und menschenverachtenden Kapitalismus. Auch wenn weiterhin ein Großteil der Menschen ihre Einkäufe in großen Shopping-Centers erledigen – die gestiegene Verunsicherung ist in der Schlange an der Kasse mit Händen zu greifen.
Durch das Bestreben, den Verbraucher mit neuen Gütesiegeln und Etiketten auf Verpackungen zu beruhigen, wird die Sache nicht besser. Auch diese absurde Kennzeichnungswut ist von Irrationalität geprägt. So sollen Lebensmittel, die bei ihrer Herstellung mit der Gentechnik irgendwie in Berührung gekommen sind, entsprechend gekennzeichnet werden, auch wenn sich die fertigen Produkte von herkömmlichen nicht die Bohne unterscheiden. Und auch Schokoriegel, die gentechnisch veränderte Nüsse enthalten, aus denen allergieauslösende Stoffe entfernt wurden, werden womöglich bald einen warnendes Gentech-Label auf die Verpackung gedruckt bekommen, während „natürliche“ Waren mit hochallergenen Inhaltsstoffen als angeblich „gentechnikfrei und gesünder“ im Regal stehen werden.
Dem Gefühl, den komplexen Zusammenhängen der modernen Welt ohnmächtig gegenüber zu stehen und selbst nicht mehr sachlich unterscheiden zu können, was gesund oder ungesund ist, wird durch die Einführung solcher neuen Gütesiegel nur Vorschub geleistet. Diese stellen sicher, dass die Wertedebatte nicht allein eine abstrakte und akademische bleibt, sondern den kompletten Lebensmittelsektor bis ins hinterste Marktregal durchdringt. Kein Schokoriegel wird sich künftig ohne den Nachweis seiner ökologischen und gesundheitlichen Unbedenklichkeit im ethischen Wettbewerb behaupten können.
Ethische Konsumenten in verantwortungsloser Gesellschaft
Im Zeitalter des überall vermuteten Risikos wird das Einkaufen zu einem zeitaufwendigen, mühsamen und komplizierten Geschäft. Früher ging man einfach davon aus, dass das Lebensmittelangebot einem hohen Qualitätsstandard entspricht. Man konnte daher nach eigenen Vorlieben und Möglichkeiten aus dem Riesensortiment wählen. Mit dem Vormarsch der Gütesiegel und Kennzeichnungen verkehrt sich die gesellschaftliche Aufgabenverteilung: Zwar garantieren Industrie und Politik nach wie vor für höchste Qualitätsstandards, die Verantwortung für die sichere Wahl von Lebensmitteln wird nun allerdings auf den Konsumenten übertragen. Kein Wunder, dass hierdurch die Verunsicherung nur weiter zunehmen kann, denn der Endverbraucher ist das letzte Glied in der Ernährungskette und hat keinerlei direkten Einfluss auf die Produktion. Es ist grotesk, dass solche Initiativen auch von Verbraucherschutzorganisationen als Erfolge für die Konsumenten gefeiert werden.
Beratung statt Bewusstsein
Vielen Menschen fällt es immer schwerer, ihrem eigenen gesunden Menschenverstand zu vertrauen, wenn es darum geht, sich sinnvoll zu ernähren. Dies gilt nicht nur für kranke und anfällige Menschen, die ohnehin in besonderem Maße auf ihre Ernährung achten müssen, sondern vermehrt und vor allem auch für Menschen, die eigentlich gesund sind. Auch ihnen stellt sich der Vorgang des Essens als ein zunehmend problematischer, bedrohlicher und in seinen Konsequenzen unabsehbarer dar.
Bedrohlich in seinen Konsequenzen ist jedoch nicht der Akt des Essens, sondern seine Problematisierung: Eine Heerschar vermeintlicher und selbsternannter Gesundheits- und Ernährungs-„Experten“ nutzt die Gunst der Stunde, um aus dem dumpfen Gefühl der Verunsicherung Profit zu ziehen. Der Zulauf, den die Ernährungsberaterbranche zu verzeichnen hat, erhält vor diesem Hintergrund einen fahlen Beigeschmack: Er ist nicht die Folge eines gestiegenen Gesundheitsbewusstseins, sondern in erster Linie Folge des wachsenden Bedürfnisses, in allen möglichen – auch banalen – Lebenslagen professionellen Beistand in Anspruch zu nehmen, anstatt selbständig Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen.
Menschenverstand ist gesund
Auch wenn viele Deutsche nach den BSE- und MKS-Skandalen wieder zu Schnitzel und Braten zurückgekehrt sind: Die anhaltenden Diskussionen über Ernährungsrisiken haben in weiten Teilen der Bevölkerung ein Unwohlsein hinterlassen. Viele Menschen haben auf die eine oder andere Art ihre Essgewohnheiten verändert, entweder aus Vorsicht oder, um ein Zeichen zu setzen. Essen und Konsumieren ist keine Privatsache oder Frage des persönlichen Geschmacks mehr, sondern Gegenstand öffentlicher Diskussionen und ideologischer Grabenkämpfe. Selbst Hartgesottene, die sich noch bis vor kurzem nicht in den Kochtopf schauen ließen, sind heute empfänglicher für die öffentlichen Ernährungsdiskurs und bereit, über ihre Gewohnheiten nachzudenken. Bedenklich ist, dass dies auf Basis wissenschaftlich fragwürdiger und ideologischer Glaubenssätze geschieht
In diesem Kontext wird deutlich, wie irreführend die Idee von der „Macht der Konsumenten“ in Wirklichkeit ist: Konsumieren ist per definitionem ein passiver Vorgang. Eine Gesellschaft, die sich als Konsumentengesellschaft begreift, organisiert sich um ihre eigene Passivität und Ohnmacht. Erst mit einem solch begrenzten Selbstverständnis werden Belanglosigkeiten wie Herkunft und Beschaffenheit des täglichen Brotes und des Frühstückseies zu entscheidenden Eckpunkten der persönlichen und sozialen Identität. Diese Entwicklung ist ein Rückschritt in jeder Hinsicht. Die Menschen wären besser beraten, auf ihre Vernunft und ihren Verstand zu setzen.
Erschienen in Novo55/56, November 2001.