Es fährt kein Zug zurück in die Normalität

Schiene, Zugverkehr, Bahn, Fahrplan

19.04.2020Die Vorstellung, aus dem Ausnahmezustand mithilfe eines maßvoll getakteten Fahrplans in die Normalität zurückkehren zu können, ist selbst zutiefst abnormal. Wir müssen dieses Obrigkeitsdenken überwinden, um eine Normalität zu erreichen, in der Freiheit und Demokratie existieren können.

„Wir bewegen uns in eine neue Normalität.“ – So formulierte es am 15. April 2020 Bundesfinanzminister Olaf Scholz in der Corona-Pressekonferenz mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel, dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder und dem Ersten Bürgermeister von Hamburg Peter Tschentscher.

Dieser Pressekonferenz vorausgegangen war ein öffentlich inszeniertes, fast schon religiös anmutendes Warten auf Verkündigung, Führung und Orientierung. Gebannt verfolgte die Medienwelt, wie sich das Ende der Videokonferenz von Kanzlerin und Ministerpräsidenten immer weiter hinauszögerte, in der der „Fahrplan zurück in die Normalität“ beschlossen werden sollte.

Im Windschatten der Wortgewalt

Für politisch Interessierte liefert das aktuelle Ringen um Auswege aus dem Corona-Lockdown faszinierende Einblicke in das Sprachlabor der Politik. „Fahrplan zurück ins Leben“, „Rückkehr in die Normalität“, das „Wiederhochfahren von Gesellschaft und Wirtschaft“ sowie die „Lockerung“ – an Aussagen wie diesen hängt die zwischen Sofa, Balkon und Kinderzimmer-Homeoffice eingepferchte Nation.

Da ging die Aussage von Finanzminister Scholz zur „neuen Normalität“ fast schon unter, auf die wir uns zubewegen. Dabei sind es gerade diese eher am Rande der Aufmerksamkeit formulierten Sätze, die beachtenswert sind. Die entscheidenden Themen und Trends werden im Windschatten der Wortgewalt gesetzt.

In die Zukunft ohne Zeit und Ziel?

Was will uns Scholz sagen, beziehungsweise was verbirgt er? Es geht um einen überaus diffusen Fahrplan, der eine Bewegung in Richtung einer „neuen Normalität“ anstoßen soll. Das Bedrückende am Berliner Fahrplan ist, wie weit er von der Wirklichkeit und von demokratischen Grundsätzen entfernt ist: Er konzentriert auf die Festlegung von Standzeiten. Die Ankunftszeit spielt keine Rolle.

Zudem ist fast unbemerkt auch das ursprüngliche Ziel der Fahrt ersetzt worden. Scholz geht es nicht um die Wiederherstellung einer „alten Normalität“, sondern um das Erreichen einer neuen. Doch wie sieht diese neue Normalität aus? Wer hat darüber entschieden? Und wenn wir nicht wissen, wie diese neue Normalität aussieht, wie können wir erkennen, ob und wann wir sie erreichen? Können wir nicht, denn wir sind ja nur Passagiere.

Streckenkenntnis und Zielstrebigkeit

Ein vager Plan für die Fahrt ins Nirvana, deren Zeiten unbekannt bleiben, gleichzeitig aber entscheidend von unserem Verhalten abhängen sollen – man benötigt schon einige Monatsrationen an Phantasie oder noch härtere Drogen, um hierin transparentes und demokratisch kontrollierbares Handeln zu erkennen. Die Notstandspolitik suggeriert Streckenkenntnis und Zielstrebigkeit, sie fordern von den Mitfahrenden, sich gefälligst hinzusetzen und nicht durch Fehlverhalten den Zeitplan zu gefährden.

Ganz wichtig: Abstand halten, Gurt anlegen und während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen! Dann, und nur dann, könnte eventuell eine „neue Normalität“ erreicht werden, in die sich Versatzstücke der alten einbauen lassen. Freilich nur dann, wenn nicht nur unser Gehorsam, sondern auch unsere Gesundheit zu 99,8 Prozent sicher sind.

Wer die Normalität verlässt, gibt sie auf

Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Die schlechte Nachricht lautet: Diese so geplante Rückkehr in die Normalität fußt auf einem katastrophalem Doppel-Irrtum. Zum einen ist die Normalität weder ein Ort, den man verlassen und wieder aufsuchen kann, noch ist sie ein Aggregatzustand, den man wechseln kann. Wer die Normalität verlässt, gibt sie auf. Was auch immer auf sie folgt, es ist nicht normal.

Zum anderen hat die Politik ein völlig weltfremdes Verständnis davon, wie Normalität entsteht. Diese hält sich nämlich nicht an Skizzen und Entwürfe, sondern sie ist das Produkt unzähliger menschlicher Prozesse; sie wächst aus Erfahrungen, Entwicklungen, grandiosen Siegen und schmerzhaften Niederlagen und Brüchen. Sie existiert nur, wenn sie von normalen Menschen mit Leben gefüllt wird. Und es gibt sie nur am Stück.

Zweifel und Dissens als Quelle der Gefahr

Die heutige Situation entzieht dem gesellschaftlichen Leben seine urwüchsige Widerspenstigkeit, und sie befördert Übergriffigkeit, Selbstkontrollverlust, Allmachtsfantasien und Größenwahn aufseiten von Politikern und staatlichen Autoritäten. Zugleich stärkt das erfolgreiche Verbreiten von Angst und Schrecken obrigkeitsstaatliches Denken. Die Frage der Stunde lautet: „Darf ich das?“.

Zweifel und Dissens gelten in diesem Klima nicht als Keimzellen der Freiheit, sondern als Quelle der Gefahr. Und plötzlich gehen dann Dinge, die noch vor Kurzem undenkbar waren. Der Ausnahmezustand frisst die Normalität. Die bloße Vorstellung, aus dieser Anomalie mithilfe eines maßvoll getakteten Fahrplans in die Normalität zurückkehren zu können, ist selbst zutiefst abnormal.

Normalität ist nicht planbar

Die gute Nachricht lautet: Es wird sich eine „neue Normalität“ entwickeln – jedoch anders, als es Olaf Scholz und seinen Regierungskollegen vorschwebt. Indem wir uns von der alten bekannten Normalität entfernen und uns in neuen Realitäten zurechtfinden, überwinden wir langsam die Schockstarre – sowohl im Handeln als auch im Denken.

Für die Demokratie ist es lebenswichtig, dass der demokratische Souverän wieder mit dem eigenständigen Denken beginnt. Dazu müssen wir jedoch die Komfortzone der verordneten, aber verlogenen Sicherheit verlassen. Anstatt ständig darüber nachzudenken, ob irgendetwas erlaubt ist oder nicht, sollten wir fragen: „Warum sollte das nicht erlaubt sein?“ oder „Macht diese Beschränkung überhaupt Sinn?“ Das sind die Fragen der heranbrechenden neuen Normalität.

Risikoscheu als Wurzel des Obrigkeitsdenkens

Das Aktivieren des eigenständigen Denkens funktioniert jedoch nicht per Knopfdruck. Das Obrigkeitsdenken sitzt tief und beeinflusst die moderne Gesellschaft schon seit vielen Jahren. In seiner modernen Ausprägung findet es sich im Gedanken der Risikoprävention wieder, der spätestens seit den späten 1980er-Jahren fester Bestandteil des etablierten politischen Wertekanons ist. Einer der Protagonisten dieses Denkens, der deutsche Soziologe Ulrich Beck, machte schon in seinem Buch Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne von 1986 deutlich, dass traditionelle demokratische Prozesse für das von ihm geforderten Umdenken eher hinderlich sind.

Seither hat sich das Heraufbeschwören von Ausnahmesituationen und Ängsten zu einem Kerninstrument moderner Politik entwickelt. Angesichts der aktuellen Situation erscheinen die eher symbolischen und regional begrenzt verhängten Klima-Notstände des letzten Jahres in einem ganz anderen Licht. Es ist kein Zufall, dass in den dominanten Medien immer häufiger die positiven Nebeneffekte des Corona-Lockdowns auf die Natur betont werden.

Freiheit braucht Risiko

Schon jetzt wird der erzwungene Abschied von unserer alten Normalität von Politikern und Aktivisten als Startsignal aufgefasst, um ihre eigene Agenda des Verzichts auf Mobilität, Konsum, Energie und Lebensstandard in die „neue Normalität“ einzubringen. Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die Idee regelmäßiger Lockdowns zur Natur- und Klimarettung als eine Art „globales Heilfasten“ oder „Öko-Ramadan“ offiziell erörtert werden dürfte.

Es liegt an uns, wie sich die Welt im Zuge der Corona-Pandemie entwickelt. Wer eine Normalität anstrebt, in der Menschen möglichst viel frei und selbst entscheiden, der muss zuallererst sein eigenes Verhältnis zu Unsicherheit und Risiko „normalisieren“. Freiheit und Selbstbestimmung sind ohne Risikobereitschaft nicht zu haben. Dies für sich selbst umzusetzen ist weitaus wichtiger als jeder verordnete Schritt in eine vermeintliche Normalität.

Dieser Artikel ist am 19.04.2020 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.

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