Eine Verteidigung des Nichtwählens


Wählen zu gehen, ist wieder „in“, seit die AfD die Politik aufgemischt hat. Aber ist man schon ein Demokrat, weil man den Stimmzettel in die Urne wirft? Warum die Beteiligung im Alltag wichtiger ist als die Beteiligung im Wahltag.

Wie Sie wissen, war ja früher alles einfacher und besser. Das galt auch für Wahlkämpfe, denn die hatten nicht nur einen klar definierten Anfang, sondern auch ein eindeutiges Ende: Spätestens zwei Tage vor einem Urnengang wurden die ideologischen Messer eingepackt, um dann alles dafür zu tun, um die vom Wahlkampf genervten Menschen doch noch in die Wahllokale zu locken. Schließlich stand der Feind nicht rechts oder links, nein, er hockte gelangweilt und unbeteiligt vor der Glotze und wartete am Wahlabend auf die Sendung mit den Kuchendiagrammen. „Wählen gehen“ war schon immer der letzte Notausgang, der selbst den Verdrossenen noch ins Reich der Demokratie führte. Da war fast schon egal, wohin sein Kreuzchen rutschte, denn allein, dass es gesetzt wurde, galt als Bestätigung dafür, dass man bereit war, dem System durch die bloße (An-)Teilnahme am Ritual eine gewisse Legitimation zu bescheinigen.

Wählen gehen schafft keine Demokratie
Wenn Wählen gehen tatsächlich diese Bedeutung hätte, dann könnte man sich ja in den Führungsetagen der Republik entspannt zurücklegen. Seit einigen Jahren wird nämlich der Nichtwähler langsam zu einer bedrohten Art. Hatte die parlamentarische Demokratie in Deutschland, seit ich politisch denke, mit sinkenden Wahlbeteiligungen zu tun, so scheint dieser Trend gebrochen zu sein. Die Wählerbeteiligung ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Freilich, ohne dass dies von denjenigen wertgeschätzt würde, die traditionell immer genau dies von den Bürgern einforderten. Experten erklären sich diesen Trend mit dem Auftritt der „Alternative für Deutschland“ (AfD) auf der politischen Bühne. Für die Altparteien ergibt sich hieraus ein Problem: Früher galt der im Chor gesungene Abschlussappell an den mündigen Wähler gleichzeitig als gegenseitige Vergewisserung, letzten Endes doch im gleichen Boot und auf demselben Grundkonsens zu operieren – und notfalls auch zu kooperieren. Das ist nun anders: Mit der AfD ist ein Passagier an Bord gelangt, den alle anderen am liebsten auf der nächsten einsamen Insel aussetzen würden.

Auch wenn diese Veränderung manche Ängste hervorruft: Nach den Jahren der gepredigten Alternativlosigkeit ist das auf jeden Fall ein Fortschritt. Obwohl ich keine Sympathien für die AfD hege, so hat ihr Auftreten dennoch den positiven Effekt, dass alte Floskeln und Rituale nicht mehr funktionieren und sich neue Fragen ergeben: Es reicht eben nicht aus, einfach nur wählen zu gehen. Es ist gut, dass Demokratie nicht mehr auf diese Plattitüde zu reduzieren ist. Zwar ist das Wahlrecht ein unverzichtbares demokratisches Recht, das es zu verteidigen gilt. Aber weder macht das Wählengehen ein System zu einem demokratischen, noch ist die Stimmabgabe für sich betrachtet automatisch ein demokratischer Akt. Wer Parlamentswahlen für das zentrale Element der Demokratie hält, verwechselt einen flüchtigen Kuss auf die Wange mit leidenschaftlichem Sex. Schlimmer noch: Er verkennt, dass ein solcher Wangenkuss häufig auch als freundliches „Nein danke“ gemeint ist.

Wahlen im Korsett des erlaubten Denkens
Die Fetischisierung des Wahlaktes hat in der Bundesrepublik eine staatstragende Tradition. Immer galt die Wahlbeteiligung als Indiz für die Zustimmung zum Gesamtsystem. Schon allein deswegen galt die Teilnahme an Wahlen als moralische „Bürgerpflicht“. Sie war gewissermaßen das erste republikanische Gebot. Die Wahlabstinenz wurde von jeher als staatsbürgerlich verantwortungsloser, quasi ketzerischer Akt gewertet – was nicht zuletzt daran lag, dass die sehr stark auf die politische Mitte ausgerichtete Parteienlandschaft lange Zeit dafür sorgte, dass extreme Sichtweisen bei Wahlen keine Chancen hatten. Anders formuliert: Wer wählte, konnte eigentlich nur gemäßigt wählen. Wer nicht wählte, … nun ja.

Versteinerungen und Dogmen überwinden
Das Paradoxe an der Situation ist: Durch die Reintegration der Grünen in das parlamentarische System wurde ihnen zwar der rebellische Touch geraubt, aber dafür wurden sie entschädigt mit der Meinungsführerschaft der Mitte: In dem Maße, in dem die Grünen ergrauten, ergrünten die Grauen. Bestand bis Anfang der 80er-Jahre der Konsens der Demokraten aus CDU, CSU, FDP und SPD, so gehören die Grünen heute fest dazu, und manchmal sogar die Linke. Die Art und Weise, mit der Wähler, die sich jenseits dieser politischen Zone orientieren, als intolerable Extremisten diffamiert werden, lässt jedoch Zweifel aufkommen an der demokratischen Verfasstheit des Mainstreams. Dieser ist politisch so versteinert, dass selbst der Hauch des Vergangenen von vielen Menschen als frischer Wind wahrgenommen wird.

Und so eröffnet das Wegbrechen des „Geht wählen!“-Dogmas neue Diskussionsräume, die es zu nutzen gilt: Was macht eigentlich wirklich Demokratie aus, wenn es nicht das Wählen ist? Was sagt es über das Demokratieverständnis aus, wenn abweichende Ansichten zwar nicht verboten, aber mundtot gemacht werden? Wie deformiert ist das Menschenbild, wenn davon ausgegangen wird, dass Wähler nicht imstande sind, komplexe Zusammenhänge zu verstehen? Wie kann man als Demokrat eine so schlechte Meinung von Wählern haben, die ja letztlich nicht Befehlsempfänger, sondern Auftraggeber sind? Sind Wähler, die sich so nicht behandeln lassen wollen, extremistisch? Ist man tatsächlich Demokrat, wenn man „Pseudo-Demokraten“ Legitimität verschafft? Bin ich Frutarier, nur weil ich mich für Äpfel entscheide, wenn mir sonst nur Birnen angeboten werden?

Demokratie lebt nicht von Wahlen
Natürlich wird auf Fragen wie diese gerne mit der Geschichte vom kleineren Übel geantwortet, das man akzeptieren müsse, um Schlimmeres zu verhindern. Häufig liegt aber ein Übel nicht im Angebot begründet, sondern in den Bedingungen, unter denen es entsteht. Diese Bedingungen nicht zu hinterfragen, sondern einfach weiterzumachen wie bisher, mag dem gängigen Demokratiebegriff der Parteienrepublik entsprechen; man könnte es aber auch als grob fahrlässig bezeichnen. Wer so tut, als gäbe es in einer Demokratie nichts Wichtigeres als das Wählen von unterschiedlich großen Übeln, der erklärt Wahllosigkeit zur obersten Handlungsmaxime. Nicht der Wahltag ist der Feiertag der Demokratie, sondern der Alltag, an dem Meinungen öffentlich aufeinanderprallen. An all diesen Tagen gilt es Toleranz zu üben, Werte zu verteidigen und andere Menschen davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, für die Demokratie einzustehen.

Wenn dieser gesellschaftliche Mechanismus des Alltags nicht funktioniert, dann sind Wahlsiege vermeintlich demokratischer Parteien kein Triumph der Demokratie, sondern leere Rituale. Sich an solchen nicht zu beteiligen, ist nicht nur ein gutes Recht, sondern auch eine respektable Entscheidung. Nichtwählen kann durchaus ein demokratischer Akt sein, wenn man ihn als solchen ausführt und auch verteidigt, und vor allem dann, wenn man sich in den restlichen Tagen bis zum nächsten Wahlgang weiter für demokratische Freiheitsrechte einsetzt. Diese Wahl trifft jeder Bürger an jedem einzelnen Tag. Anstatt Nichtwähler oder Wähler zu beschimpfen, sollte man deren Wahloptionen vergrößern helfen – und damit auch die eigenen. Nur weil ich weder Birnen noch Kirschen mag, bin ich ja noch lange kein Kostverächter. Demokratie lebt nicht von Wahlen; es ist genau umgekehrt.

Dieser Artikel ist am 14. Oktober 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.