Die Ukraine, der Mut und die Nation

Statue, New York, Freiheit

Die Ukraine hat das Pech, auf wankelmütige Verbündete angewiesen zu sein, die weder an die Kraft der Menschen noch an die Idee der nationalen Souveränität glauben.

Seit einem Jahr wehren sich die Ukrainer gegen die russischen Invasoren. Seit einem Jahr zeigen sie Mut, auch wenn es manchmal der Mut der Verzweiflung ist. Aber eins ist ganz klar: Besser der Mut der Verzweifelten als der Missmut der Zweifler. Was sollten die Ukrainer auch anderes tun, als ihr Land verteidigen? Sie tun dies ja nicht aus einem überbordenden Nationalismus heraus oder weil sie sich den Russen gegenüber als rassisch überlegen fühlen. Wenn aber die russische Führung ihrerseits darüber schwadroniert, die Ukraine samt Menschen und Kultur von der Landkarte zu tilgen, dann ist es nicht rückschrittlich-nationalistisch, wenn man die Ukrainer dabei unterstützt, diesen Angriff abzuwehren.

Der Ukrainekrieg zeigt nicht nur, wie falsch der Westen in seiner Bewertung von Wladimir Putin lag. Es wird auch deutlich, wie viel Bedeutung die Idee der Nation tatsächlich heute noch hat – obwohl die westliche politische Kultur seit langem versucht, eben diesen nationalen Gedanken aus dem eigenen Selbstverständnis zu tilgen. Seit Jahrzehnten predigen uns gerade die europäischen Eliten, dass mit dem angeblichen „Ende der Geschichte“ auch das „Ende des Nationalstaats“ eingeläutet worden sei. An die Stelle der Nation rückte die Idee des vereinigten Europas. Das klang gut, und vor allem friedlich, nach Jahrhunderten von Kriegen auf dem Kontinent.

Und so machten sich die nationalen Eliten Europas und insbesondere ihre linken Vertreter daran, ihr gemeinsames europäisches Haus zu bauen. Oder besser gesagt: ihre Festung Europa – nicht in erster Linie zur Abwehr von Eindringlingen von außen, sondern zur Abwehr und Entmachtung politisch aufmüpfiger Wählerschaften. Die bekamen zwar ein europäisches Parlament nachgeliefert, das aber mit dem, was eine Volksvertretung in einem demokratischen Staat bedeutet, nur noch entfernt verwandt ist. Heute ist die Europäische Union so undemokratisch, dass sie ihre eigenen Beitrittskriterien nicht einmal in Ansätzen erfüllt. Aber dafür soll sie effizient und schlagkräftig sein und die Interessen der Nationen bündeln. Denn, so wurde uns erklärt, den Herausforderungen der Zukunft könne man nicht begegnen, wenn man auf nationalen Grenzen beharrt.

Die ukrainische Bevölkerung spürt heute jeden Tag, was es bedeutet, wenn nationale Grenzen ignoriert werden. Es ist ein fürchterlicher Irrtum, wenn man meint, die Idee der Nation sei unbrauchbar, weil Romantiker und Radikale sie zu etwas scheinbar Religiösem überhöhen können. Tatsächlich ist die Nation bis heute sehr relevant, weil sie die einzige Basis ist, auf der Systeme demokratischer Teilhabe und das Prinzip demokratischer Rechenschaftspflicht umgesetzt wurden –keineswegs perfekt, aber doch in einer Art, die es wert ist, sie gegen Angriffe von außen zu verteidigen. Souveräne Staaten sind häufig alles andere als demokratisch. Aber ohne Souveränität nach außen kann Demokratie im Inneren gar nicht entstehen.

Ja, es ist richtig darauf hinzuweisen, dass die Ukraine vor dem Angriff der russischen Armee eines der korruptesten Länder der Welt war. Doch nur zur Erinnerung: Putins Truppen sind nicht als Antikorruptions-Einheiten einmarschiert. Und ja, es ist auch richtig darauf hinzuweisen, dass die USA und der Westen insgesamt keine glaubhaften Freiheitskämpfer sind, sondern eigenen Interessen folgen, vor allem aber: eigenen Zweifeln und Selbstzweifeln folgen. Egal wohin man schaut: Im Westen regiert die Angst. Und die ist bekanntlich immer ein schlechter Ratgeber. Die einen wollen der Ukraine mehr Waffen liefern – aus Angst vor den Russen; die Anderen wollen das verhindern – auch aus Angst vor den Russen.

Das erklärt die Unschlüssigkeit und offensichtliche Unsicherheit manch politischer Figur. Und das macht gleichzeitig den Blick auf die Ukraine so surreal. Denn dort regiert nicht die Angst, sondern die Entschlossenheit und der feste Glaube daran, die Bedrohung zu überwinden. Die Ukraine hat das Pech, auf wankelmütige Verbündete angewiesen zu sein, die weder an die Kraft der Menschen noch an die Idee der nationalen Souveränität glauben.

Ja, ich traue weder Wolodymyr Selenskyj noch Joe Biden über den Weg. Ich denke, die Ukrainer haben Besseres verdient, einen besseren Präsidenten, und bessere Verbündete. Vor allem aber haben sie es verdient, selbst über ihre Zukunft zu entscheiden. Und deswegen muss es verhindert werden, dass Putin diesen Krieg gegen die Ukraine gewinnt. Ja, auch mit Waffen. Ich wüsste nicht, wie es sonst gehen soll.

Ich habe mein ganzes politisches Leben lang gegen Chauvinismus und nationalistische Exzesse argumentiert. Ich habe mit nationalistischen Kleingeistern nichts am Hut, ich habe keinerlei emotionalen Bezug zu Nationalsymbolen, ich habe nie das Deutschlandlied gesungen, schon gar nicht anlässlich von Fußballspielen. Ich war nie ein emotionaler „Schland“-Fan oder ein Patriot, sondern habe mich immer dafür engagiert, dass diese Gesellschaft eigenständige und demokratische Entscheidungen treffen und sich so verändern kann. Das ist der Grund, warum nationale Souveränität wichtig ist. Sie ist die Basis dafür, dass sich eine Bevölkerung ihrer eigenen Regierung entledigen und ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen kann.

Die Ukraine lehrt uns nicht nur, dass es hilft, wenn man weiß, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Sie lehrt uns auch, wie fatal es war, die Idee der nationalen Souveränität als veraltet und rückschrittlich zu diffamieren und sie somit Idioten und Flachpfeifen zu überlassen. Der Westen hat seine eigenen Werte der Aufklärung und der Selbstbestimmung verraten und sich so selbst jede Glaubwürdigkeit entzogen. Insofern ist der Kampf um die Freiheit der Ukraine auch ein Kampf um die Freiheit jedes Einzelnen.

Dieser Artikel ist am 03.03.2023 auf der Website von Novo Argumente für den Fortschritt erschienen.