Die ganze EU überdenken

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Bengt Holmströms Kritik an der Europäischen Union ist kraftvoll – und offenbart dennoch die typischen Schwächen einer rein ökonomischen Sichtweise.

Manchmal kritisiert ein Wirtschaftsnobelpreisträger einen Friedennobelpreisträger. Und manchmal hat er damit auch großflächig Recht! „Man sollte die ganze EU überdenken und neu starten! Vergesst den Ehrgeiz, alles zu regulieren. Konzentriert Euch auf das Wesentliche.“ Diese Aussage stammt nicht von einem der unverbesserlichen, verbohrten, populistisch-geblendeten und neurotisch-antieuropäischen Irrlichter, vor denen uns der politische Mainstream Tag für Tag warnt. Tatsächlich stammen diese Sätze vom finnischen Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisökonom Bengt Holmström. Veröffentlicht wurden sie in dem Artikel „Nobelpreisträger Holmström: ‚Man sollte die ganze EU überdenken‘“, erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 18. November 2016.

Für Holmström ist die EU nicht nur eine nach und nach degenerierte Veranstaltung, sondern eine, die schon in ihren Grundrissen das spätere Scheitern selbst vorprogrammiert hat: „Wenn Sie einen schlechten Vertrag sehen wollen, schauen Sie sich die EU an“, sagt der Wissenschaftler. Niemand habe vorhergesehen und vorgeplant, dass ein Mitglied wie Großbritannien den Club verlassen können wolle. Man habe immer gedacht, es gäbe zur EU keine Alternative und keinen Wettbewerber. Dies habe dazu geführt, dass „ein Haufen idiotischer Dinge wachsen“ konnte. Holmström spricht auch das heikle Thema des Zieles der Union an: Früher habe es geheißen, dass die Verhinderung des Krieges das Ziel sei. „Vielleicht bin ich zu jung“, meint der Ökonom lakonisch, „aber ein neuer Krieg schien mir immer unwahrscheinlich.“

Bei aller Zustimmung zur Kritik von Holmström – an einem Punkt driftet auch er gefährlich ab: Man kann zwar zu Recht darauf hinweisen, dass europäische Entscheidungsprozesse beschleunigt werden sollten. Jedoch ist der Preis, den Holmström dafür zu zahlen bereit zu sein scheint, aus einer demokratischen Perspektive deutlich zu hoch und droht, seine Kritik insgesamt ad absurdum zu führen. In Zeiten, in denen es der EU an jedweder demokratischer Legitimation fehlt, zu fordern, die Vetorechte einzelner Staaten müssten beseitigt werden, offenbart eine Entfremdung von der grundlegend positiven „europäischen Idee“, die nur unwesentlich weniger stark ausgeprägt ist als bei den aktuell verwaltenden EU-Bürokraten.

Holmströms Aufforderung, die ganze EU zu überdenken und neu zu starten, ist aber in jedem Falle zuzustimmen! Gerade angesichts der erneuten Kandidatur von Angela „TINA“ Merkel täte ein ideeller europäischer Aufbruch gut. Spannend werden jedoch die Diskussionen werden, wie „das Wesentliche“ zu definieren wäre, auf das man sich nach Holmström nun endlich wieder konzentrieren müsse. Effizienzsteigerung und Beschleunigung mag bei einem Ökonomen da im Vordergrund stehen – für eine wirkliche Erneuerung politischer Systeme und Kulturen ist dieser Ratschlag jedoch nicht nur ungenügend, sondern problematisch.


Dieser Kommentar ist am 21.11.2016 in der BFT Bürgerzeitung erschienen.