Das Märchen von der umzingelten Mitte


Die deutsche Gesellschaft scheint ständigen Bedrohungen von links, rechts und Islamisten ausgesetzt zu sein. Aber diese Denkweise ist überholt: Die Gefahr kommt aus der Mitte selbst.

Die deutsche Bedrohungsdebatte beschreibt ein auf den ersten Blick plausibel wirkendes Bild: Die Gesellschaft, genauer gesagt ihre friedliche Mitte, wird von verschiedenen außenstehenden Kräften eingekreist und angegriffen. Doch dieses Bild ist nicht nur stark vereinfachend, sondern auch fehlleitend. Die Gegner der freien Gesellschaft genießen erstaunlich viel Sympathie in der „Mitte“, die in Wirklichkeit alles andere als gemäßigt ist. Vor allen Dingen ist sie eines: politisch irritiert und zerrissen.

Wenn wir der gängigen Schilderung der Bedrohungslage folgen, dann liegt unsere Gesellschaft wie eine Insel der Friedfertigen inmitten eines aufgewühlten Ozeans des Hasses und der Niedertracht, immer Gefahr laufend, beim nächsten größeren Sturm von den Wellen der Wut überrollt zu werden. Die Fluten des Terrors und der Gewalt kommen aus unterschiedlichen Richtungen: mal aus der islamistischen Ecke, mal sind sie rechtsextremen und mal linksextremen Ursprungs. Doch alle brechen sich an der kleinen Insel und sorgen für Angst und Schrecken bei ihren Einwohnern. Verzweifelt rufen diese nach höheren Deichen, um die Unbilden der Natur abzuwehren und die eigene Insel zu schützen.

Dort der böse Ozean, hier die friedlichen Insulaner

Da politische Ereignisse heute gerne als über uns hereinbrechende Naturgewalten interpretiert werden, erzeugen solche Zustandsbeschreibungen spontanes Kopfnicken. Dennoch ist hier viel Wunschdenken dabei. Wir hätten die Wirklichkeit gerne so klipp und klar und übersichtlich: dort der böse Ozean, hier die friedlichen Insulaner. Und selbst wenn das beschriebene Dilemma wohl auch mit Deicherhöhungen immer nur kurzfristig zu lösen sein dürfte, so ist zumindest das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, irgendwie beruhigend.

Doch leider ist die Welt nicht so schwarz und weiß, wie man sie sich gelegentlich wünscht. Und gerade in aufgewühlten Zeiten helfen einfache Erklärungen häufig nicht weiter, in Zeiten der Bedrohung schon gar nicht. Das Bild von der Insel der Friedfertigen im wilden Ozean hängt extrem schief. Ein genauerer Blick hinter die offensichtliche Symbolik und Theatralik linker, rechter und islamistischer Radikalität offenbart erstaunlich viele Gemeinsamkeiten. Noch schockierender ist aber, wie viel diese Gemeinsamkeiten mit unserer Gesellschaft zu tun haben. Es zeigt sich: Die Vorstellung, das Grauen breche von außen auf uns herein, entspricht nicht der Realität.

Rechte und linke Radikale Hand in Hand mit Islamisten

Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, so unterschiedliche Phänomene wie den islamistischen Terror, die Gewalt von rechts und die von links über einen Kamm zu scheren. Gleichwohl ist es für eine Gesellschaft, die auf diese Herausforderungen angemessen und effizient reagieren will, wichtig, den Kern der einzelnen Bedrohungen zu erkennen und hinter die Fassaden kultureller und politischer Selbstinszenierungen zu schauen. Tut man dies, zeigen sich erstaunliche Gemeinsamkeiten: Was alle drei eint, ist der Hass auf den „Westen“ und die „Moderne“. Sie gelten als destruktiv, als materialistisch sowie als sinn- und wertlos.

Eine zweite Schnittmenge der scheinbar so gegensätzlichen Orientierungen liegt im Gefühl des eigenen Abgehängtseins gegenüber der modernen Gesellschaft. Das Parteiergreifen für die Opfer des unmenschlichen Kapitalismus, der virulenten Fremden- und Islamfeindlichkeit, wie auch des entwurzelnden Kommunismus und der grassierenden Gottlosigkeit, verleitet die Radikalen all dieser Lager dazu, sich als die Speerspitze von Opferaufständen zu fühlen und zu gebärden. Ob Salafist, Autonomer oder Rechtsnationalist: Alle reklamieren die Opferrolle für sich und arbeiteten sie in ihren jeweiligen kulturellen Zusammenhang ein, in der Hoffnung, daraus eine hauptsächlich von frustrierten und wütenden Jugendlichen getragene Protestbewegung lostreten zu können.

Toleranz und Freiheit sind für Weicheier

Dass sich all diese Protestkulturen durch eine explizite Ablehnung von Freiheit und Toleranz auszeichnen, ist nicht überraschend. Werte wie diese beruhen auf einem aufgeklärten Menschenbild und haben daher in den gegenwärtigen Protestorientierungen keinen Platz. Es geht hier nicht um abstrakte Politik, sondern um das kompromisslose Ausdrücken und radikale Ausleben der eigenen Identität. Die Privatisierung des Politischen ist vollkommen und dementsprechend ist der Kampf um Wertvorstellungen nichts weniger als der eigene Überlebenskampf. Toleranz und die Freiheit Andersdenkender kann da nur als Feigenblatt der Angepassten, Verweichlichten und Ängstlichen gelten, die nicht Manns genug sind, entweder den Weg zur Revolution, den Verteidigungskampf gegen die Überfremdung oder aber den heiligen Krieg gegen den Unglauben anzunehmen.

Nicht zuletzt zeigt sich in allen drei Orientierungen ein ausgeprägter Hang zum Antisemitismus. Radikalen Islamisten gelten die Juden als Inkarnation der Gotteslästerung und der Staat Israel als Stachel im Fleisch eines großflächigen islamistischen Reiches. Im rechtspopulistischen Protestcamp ist der Judenhass Teil der historischen Denktradition und obendrein ein willkommenes Provokationsinstrument, um bei der „schuldbürgerlichen Gutmenschengesellschaft“ Schnappatmung auszulösen. Linksaußen gilt Israel hingegen als Inbegriff des kasinokapitalistischen, imperialistischen und islamfeindlichen Westens. Schon in der Vergangenheit gab es gerade in der Einstellung gegenüber Israel und dem jüdischen Leben im Allgemeinen fatale Übereinstimmungen und Bündnisse zwischen den nur oberflächlich so ungleichen Lagern.

Gemeinsame Wurzeln im Mainstream

Doch all diese Erkenntnisse liefern noch keinen wirklichen Grund dafür, das eingangs beschriebene Bild von der friedlichen Insel im gewalttätigen Ozean über Bord zu werden. Für sich betrachtet sind sie nicht dazu geeignet, eine bessere Strategie zur Verteidigung eigener Wertvorstellungen zu entwickeln. Im Gegenteil: Die Gemeinsamkeiten unterstreichen sogar die These vom finalen Endkampf zwischen Gut (wir) und Böse (die Anderen). Dies ändert sich erst, wenn man sich die beschriebenen Gemeinsamkeiten der sich so unterschiedlich gerierenden Feinde der modernen Gesellschaftsidee noch einmal vor Augen führt: Ablehnung von Aufklärung und Demokratie, ein wachsendes Gefühl der Entfremdung von der Gesellschaft, eine sich daraus speisende individuelle Opferperspektive, die in einen identitätssichernden Überlebenskampf mündet, der Null-Toleranz erfordert und einfache Sündenbock-Reflexe hervorruft, die sich in traditionellen Überlaufkanälen wie dem Antisemitismus Bahn brechen.

Was ist das Auffällige an diesen Gemeinsamkeiten? Auffällig ist, wie vertraut sie uns erscheinen. Sie einen nicht nur die erklärten Gegner der modernen Gesellschaft, sondern sie sind genauso zentrale Bestandteile des heutigen Zeitgeists. Wir haben es nicht mit Vorstellungen aus einer uns völlig fremden Welt zu tun. Im Gegenteil: Viele unserer Mitbürger teilen sie oder können sie zumindest bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen. Das heute vorherrschende Denken ist charakterisiert durch die Abkehr von einem humanistisch geprägten Welt- und Menschenbild, durch eine um sich greifende Opfermentalität als Folge der Verlusts des Glaubens an die eigene Handlungsfähigkeit, durch die aus Ängstlichkeit resultierende Intoleranz und durch den Antisemitismus. Anders formuliert: Die Insel der Friedfertigen, wie sie im Bild der Einkesselung der Gesellschaft durch Extremisten als ideeller Gegenentwurf zum Ozean des Hasses skizziert wird, existiert in dieser Form nicht. Beide sind sich sogar weitaus ähnlicher und enger miteinander verknüpft, als sie meinen.

Die Gefahr kommt von innen

Daher ist die Sichtweise, dass die Bedrohungen, mit denen die westliche Welt konfrontiert ist, in erster Linie von außen kommen, überaus problematisch. Sie leugnet mehr oder weniger bewusst die tatsächlichen Ursprünge und Verstrickungen und sorgt für falsche Klarheit. Nicht nur links- und rechtsextreme Menschenfeinde stammen aus der Mitte der deutschen Gesellschaft, auch Islamisten werden hier zu solchen gemacht. Sie gedeihen in den Widersprüchen, in den Halbwahrheiten und Heucheleien unserer Alltagswelt, in den gebrochenen Versprechen, den nicht umgesetzten Idealen und in der offensichtlichen Doppelzüngigkeit der westlichen Zivilisation, die nicht nur den Glauben an den Fortschritt und an die eigene Optimierbarkeit verloren hat, sondern es sich in der Stagnation gemütlich gemacht und mit den eigenen Lebenslügen arrangiert hat.

Hier muss ein neues Denken ansetzen, wenn es zukunftsorientiert sein und nicht alten Überlieferungen, vermoderten Vorurteilen und überholten Wahrheiten hinterherlaufen und die Zeit zurückdrehen will. Warum werden Menschen wie Du und ich zu Terroristen, zu enthemmten Gewalttätern und zu gewaltbereiten Misanthropen? Auf Fragen wie diese gibt es viele Antworten. Nur einige davon sind im Wüstensand des Nahen Ostens vergraben, viele liegen auch zwischen Elbe und Isar: Sie sitzen in den Ritzen unserer gebrochenen und an ihren ungelösten Problemen und Widersprüchen langsam zugrundegehenden Moderne. Es wird Zeit, nicht nur nach vorne zu schauen, sondern auch unser Angst- und Grenzdenken zu überwinden. Es wird Zeit für eine neue, konsequente und selbstbewusste Moderne.

Dieser Artikel ist am 23. Juli 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.