Der Wahlkampf ist nur scheinbar lebendiger geworden. Tatsächlich dominieren dünnhäutige Diskussionsverweigerer. Kaum eine Partei hat Empfindlichkeit und Opfermentalität so verinnerlicht wie die AfD.
„Der Bundestagswahlkampf geht in die heiße Phase.“ Sätze wie dieser sind derzeit ständig zu hören und lesen. Und ich warte immer noch darauf, dass sie endlich wahr werden. Bislang vergeblich. Zugegeben, der Ton wird zuweilen ein wenig rauer. Aber diese aufflackernde Erhitztheit der Gemüter hat mit harten inhaltlichen Kontroversen nur am Rande zu tun. Geräuschvoll sind die zahlreichen Debattierrunden vor der Bundestagswahl zweifellos. Doch diese plappernde und kontinuierlich entsetzte Geräuschkulisse täuscht Rasanz und Lebendigkeit nur vor. Eigentlich aber will sich keiner bewegen. Die Politik trampelt mit lautem Getöse auf der Stelle, aus Angst vor Veränderung.
Wie heißt es so schön: Nicht jeder, der schwitzt, bewegt sich. Es kann auch die Angst sein, die Schweißperlen auf die Stirn treibt. Bewegung aus Angst ist entweder verzweifelte Flucht nach vorn oder Rückzug, so geräuschvoll, mut- und wuterfüllt man das auch inszenieren mag. Man könnte auch sagen: Je geräuschvoller politische Akteure heute die Verhältnisse kritisieren, desto stärker widmen sie sich den Angsterfüllten und gerieren sich als deren Beschützer.
Dissens gleich Verrat
Aber was sind das für Alternativen, in die man sich flüchtet, anstatt mutig für sie zu streiten? Es stehen jedenfalls keine Konzepte dahinter, die sich selbstbewusst dem offenen Wettbewerb der Ideen stellen, die auf die Kraft der eigenen Argumente vertrauen und darauf, dass sich Menschen von diesen überzeugen lassen. Genau von dieser Qualität normaler Bürger wird nicht ausgegangen: Lieber behandelt man die Menschen als „Schützlinge“, die es zu retten gilt, und dies nicht nur in ihren abstrakten Rechten und Freiheiten, sondern auch in ihrer kulturellen, körperlichen und geistigen Identität.
Talkshowflüchtlinge als neuer Trend
Die Bereitschaft zur ehrlichen und ergebnisoffenen Auseinandersetzung mit Andersdenkenden gilt als Indiz für die eigene Unentschlossenheit, Korrumpierbarkeit und Schwäche. Je mehr sich aber eine Gesellschaft in eine diskursfreie Opfermentalität flüchtet und Dünnhäutigkeit von einer charakterlichen Schwäche zum Dreh- und Angelpunkt des eigenen Selbstverständnisses wird, desto unfreier ist sie. „So etwas muss ich nicht hinnehmen und mir auch nicht anhören“, lautet dann der entrüstete Protestausruf. Kürzer und eindringlich heißt es dann auch schon einmal: „Haut ab“ oder „Halts Maul!“ Anstatt Ablehnung in Niveaulosigkeiten auszudrücken, könnte man auch einfach Klasse zeigen, um selbst öffentlich zu punkten.
In Politikerkreisen wird es zur Mode, sich der als unangenehm und unpassend erscheinenden Konfrontation kurzerhand zu entziehen – entweder durch die Forderung nach einem Verbot, oder aber durch die eigene Abstinenz. Vom scheidenden CDU-Abgeordneten Wolfgang Bosbach bis hin zur Spitzenkandidatin der AfD, Alice Weidel. Talkshowflüchtlinge halten die Diskussionsverweigerung offenbar für ein wirksames Mittel zur Rettung des gepflegten Diskussionsstils und für ein wirksames Zeichen gegen Niveaulosigkeit. Der Eindruck täuscht aber, denn in Wahrheit überlassen sie jenen das Feld, die sie für stil- und niveaulos halten.
Speerspitze der übergreifenden Opferkultur
Niemand nimmt natürlich an einer TV-Talkshow teil, weil er wirklich daran glaubt, etwa Sahra Wagenknecht von ihrem Kurs abzubringen. Das Publikum soll überzeugt werden. Die polternde Entrüstung und der darauf folgende Rückzug aus öffentlichen Diskussionsräumen mag zwar in den eigenen Reihen Zustimmung auslösen – dem Rest des Publikums entzieht man sich aber. Vielleicht weil man nicht daran glaubt, es überhaupt erreichen zu können.
Genau hier wird die dünnhäutige Empörungskultur aber zum Problem für den demokratischen Prozess der Meinungsbildung: Was soll von Alternativen gehalten werden, die sich auf diese Weise der öffentlichen Begutachtung entziehen? Ist nicht gerade das robuste Eintreten für Veränderungen untrennbar verbunden mit dem erbitterten Widerstand all jener, die eben diese Veränderungen ablehnen? Muss man da nicht auf Schmutzkampagnen etc. vorbereitet sein? Und wenn eine als unfair empfundene Gesprächsführung öffentlich-rechtlicher Journalisten ausreicht, um das eigene Maß des Erträglichen zu überschreiten – wie soll das erst werden, wenn Vertreter einer solchen Alternative im Bundestag ihren politischen Gegnern unmoderiert gegenübertreten müssen? Wird der dann womöglich wöchentlich abgehaltene Auszug aus dem Parlament zur neuen Alternativ-Attraktion?
Politisches Mauerblümchen
Wer meint, dass „den Bosbach machen“ besonders konfrontativ sei, der möge sich Debatten und Schlagabtausche aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren zu Gemüte führen. Im Vergleich zu dem, was sich die damaligen politischen Poltergeister wie Strauß, Wehner, Brandt, Kohl und Geißler an Unflätigkeiten an die Köpfe warfen, erscheint Alice Weidel wie ein empfindliches politisches Mauerblümchen, das mit seinem praktizierten „Mimimi“-Aufstand der Angegriffenen eher Mitgefühl als politischen Respekt erntet. Es ist alles andere als erstaunlich, dass es gerade der AfD hier an Robustheit fehlt: Kaum eine Partei ist selbst ein so direktes und unreflektiertes Produkt unserer Unsicherheits- und Opferkultur wie die AfD. Sie geriert sich als naturwüchsiges Auffanglager angeblich politisch Verfolgter und Heimatvertriebener sowie als Sprachrohr der Entfremdeten und Benachteiligten. Zugegebenermaßen tut sie dies recht erfolgreich. Tatsächlich läuft sie den bisherigen Helden bürgerlich-grüner Angst- und Misstrauenspolitik in der Wählergunst den Rang ab.
Intellektuelle Aufrüstung
Eine neue politische Kultur können die Deutschalternativen so allerdings nicht etablieren. Im Gegenteil, sie zementieren und verinnerlichen die dünnhäutige und identitätsbezogene Opferpolitik, die heute alle Parteien durchzieht. Sie sind in dieser Hinsicht nicht revoltierende Kinder des Mainstreams, sondern dessen Speerspitze, die nur deshalb scharf erscheint, weil Schärfe und Härte heute so verpönt sind. Das Problem der aktuellen politischen Kultur ist nicht, dass Politiker und Journalisten zu unhöflich sind. Was fehlt, sind offene und handfeste Debatten um die wirklich wichtigen Inhalte. Und deswegen rutschen die Wortgefechte beinahe automatisch unter die Gürtellinie.
Den tosenden Zerfall der Diskussionskultur verhindert man nicht durch moralisierende Entrüstung, sondern durch intellektuelle Aufrüstung. Diese Aufrüstung kommt der Selbstbefreiung gleich: Sie befreit uns von dem Missverständnis, dass derjenige tolerant sei, der nicht kontrovers mit Andersdenkenden streitet. Und sie befreit die Meinungsfreiheit, die für jeden oder für niemanden gilt, von der Annahme, ihre Gültigkeit hänge von Inhalten ab. So befreit können wir uns einer politischen Diskussionskultur annähern, die nach der Maxime verfährt: „Ich verabscheue, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“ Kneifen ist keine Option. Keifen auch nicht.
Dieser Artikel ist am 17. Septemb er 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.