Brexit-Verschiebung: So lange knobeln, bis man gewinnt

 

 

 

 

Das Chaos um den Brexit ist auch deswegen entstanden, weil das britische Establishment und die Offiziellen der EU sich beständig weigern, den Willen des britischen Souveräns zu akzeptieren.  Es erinnert an das Knobel-Spiel mit meiner Tochter.

Am vorherigen Samstagvormittag hatten meine elfjährige Tochter und ich die entscheidende Frage zu klären, von der der weitere Verlauf des Wochenendes abhing: Wer geht zum Bäcker und holt die Brötchen? Madame entschied, diese Entscheidung mit dem klassischen „Schnick-Schnack-Schnuck-Verfahren“, also durch das allseits beliebte Knobeln herbeizuführen. Ich willigte ein, gab aber zu bedenken, dass der Verlierer sich dann direkt auf den Weg zur Bäckerei zu begeben habe, ohne Nachverhandlungen, ohne Zank und ohne Gemaule. Madame willigte ein und gab sich siegessicher. Was sich als Fehleinschätzung herausstellte. Sie verlor denkbar knapp mit 3:2.

Die Eltern unter Ihnen ahnen, was daraufhin geschah. Madame setzte zunächst an, Beispiele dafür zu finden, dass Scheren nicht immer in den Brunnen fallen müssen, sondern manchmal auch auf dem Rand liegenbleiben können. Doch diesen durchaus gewieften wie auch einige andere Versuche, sich am Regelwerk des Wettbewerbs zu schaffen zu machen, wies ich zurück. Gleichwohl bewegten wir uns noch auf dem Niveau eines spielerischen Meinungsaustauschs. Insgeheim wartete ich sogar darauf, dass sie das Wörtchen „Videobeweis“ benutzen würde, was ich dann wohl allein aufgrund der humorvollen Note zum Anlass genommen hätte, die Waffen zu strecken und die Brötchen selbst zu holen.

Schlechte Verlierer – auch beim Brexit

Doch die Lage spitzte sich zu, und Madame packte härtere Bandagen aus: Sie empfand den Ausgang des regelkonformen Knobelns nunmehr als ungerecht, denn sie sei ja nie davon ausgegangen, dass sie gegen mich verlieren könne – eine meiner Erinnerung nach durchaus gewagte Annahme. Doch Madame beharrte auf dem Standpunkt: Hätte sie in Betracht gezogen, tatsächlich verlieren zu können, hätte sie sich nie auf ein so gewagtes Spiel eingelassen. Dass es nun so gekommen sei, sei ungerecht, und ich sei schuld daran. Inzwischen wütete sie, und im Übrigen sei sie nie dazu bereit gewesen, tatsächlich selbst zum Bäcker zu gehen. Das sich vor meinen Augen ausbreitende wütende Unglück gipfelte zuletzt in der Forderung, entweder noch einmal neu zu knobeln oder aber den Gang zum Bäcker auf den späten Nachmittag zu verschieben.

Während des über mich hereinbrechenden Sturms kindlich-pubertärer Entrüstung dachte ich darüber nach, woran mich diese Szenerie erinnert. Und dann fiel mir die Parallele auf: Genauso verhält es sich nämlich mit dem Brexit. Einst schlug ein konservativer Premierminister namens David Cameron vor, die seit Jahren schwelende Debatte darüber, ob Großbritannien nun in der Europäischen Union verbleiben solle oder nicht, durch ein Referendum zu beenden. Die Menschen sollten mehrheitlich entscheiden, ob das Land in der EU bleiben oder austreten solle, und dies mit einer einfachen Ja-Nein-Frage.

Die Aufforderung zum Volksentscheid verband die Regierung mit der wohl formulierten und ausführlichen Stellungnahme, warum sie selbst sich für einen Verbleib in der Europäischen Union ausspricht. Außer wenigen Querköpfen in den großen Parteien und der „United Kingdom Independence Party“ (UKIP) schloss sich fast das gesamte politische Establishment der Regierungslinie an und warb für die Fortsetzung der EU-Mitgliedschaft. Auch deswegen war sich die Regierung Cameron sehr sicher, den Entscheid zu gewinnen und damit die Frage endgültig ad acta legen zu können. Doch es kam anders.

Wie in einer Parademokratie

Obwohl die politischen und kulturellen Eliten des Vereinten Königreichs in kaum gekannter Einigkeit für den Verbleib in der EU geworben hatten, entschieden sich die Wähler in dem historisch betrachtet größten demokratischen Votum der britischen Geschichte mehrheitlich für den „Brexit“. Das Ergebnis schlug in Westminster ein wie eine Bombe. Bis heute liegt das Herz der britischen Demokratie in Trümmern. Doch die Ursache für diese Zerstörung ist nicht im Ausgang des Referendums zu suchen. Zerstört wird die britische Demokratie durch die Weigerung der Verlierer des Volksentscheids, ihre Niederlage zu akzeptieren.

Ein solches Verhalten kennen wir aus parademokratischen Staaten, etwa auf dem afrikanischen Kontinent oder in Asien, wo es nach Urnengängen immer mal wieder sogar zu bewaffneten Konflikten kommt, wenn Wahlergebnisse anders ausfallen, als es eine der beiden Seiten gehofft hatte. Aber auch in der Europäischen Union wurden mehr als einmal nationale Volksentscheide zu Fragen europäischer Politik entweder ignoriert oder so lange wiederholt, bis das Ergebnis aus Brüsseler Sicht das richtige war. Die Niederländer, Franzosen und Iren können ein Liedchen davon singen. Am vorherigen Samstag fühlte ich mich ähnlich: Meine maulige Madame erinnerte mich stark an die britische Elite oder an die EU, die nicht wahrhaben will, dass sie eine Abstimmung verloren hat und nun alle möglichen Gründe sucht, um die Entscheidung infrage zu stellen.

Verrat am Wahlvolk

Seit drei Jahren quält sich das Establishment in London nun mit der Aufgabe herum, eine Entscheidung umzusetzen, die es nicht wollte, dessen Umsetzung es aber versprochen hatte. Inzwischen ist die politische Landwirtschaft Großbritanniens so tief umgegraben worden, dass Parteiunterschiede kaum mehr ins Gewicht fallen. David Cameron wurde durch die Ereignisse weggespült. Auch die Unabhängigkeitspartei UKIP ist inzwischen in der Bedeutungslosigkeit versunken. Das Verwischen und Verschwinden alter Parteikonflikte macht sichtbar, worum es eigentlich geht: Während sich in einem einmalig eindeutigen Votum 17,4 Millionen Briten hinter einer Entscheidung vereinten, sind die Abgeordneten im britischen Parlament mehrheitlich anderer Ansicht. Und so verhalten sie sich auch.

Wir erleben einen einzigartigen Verrat am demokratischen Souverän, dem Wahlvolk. Die Blockadehaltung des britischen Parlaments offenbart die groteske Weigerung, den Willen der Bevölkerungsmehrheit umzusetzen. Die endlosen Diskussionen über einen „soften“ und „harten“ Brexit sowie die fortwährenden Verschiebungen sind Manöver, um die eigentliche Kernfrage nicht offen diskutieren zu müssen, die da lautet: Wie kann die britische Elite die Umsetzung des Mehrheitswillens der Wähler verhindern oder abschwächen, ohne dass der Schuss nach hinten losgeht? Völlig unabhängig davon, wie man selbst die Entscheidung der Briten bewertet: Die Art und Weise, wie das britische Establishment den Wählerwillen und damit die Demokratie mit Füßen tritt, ist skandalös.

Das Brüssler Glashaus

Die Versuche, dem Referendum vom 2016 ein zweites folgen zu lassen und dieses Verfahren dann auch noch als „wirklich demokratisch“ zu bezeichnen, sind zutiefst undemokratisch. Sie erinnern mich an das verzweifelte Streben meiner kleinen Madame, nach dem verlorenen Knobeln einfach solange weiter zu knobeln, bis sie gewonnen hat. Nur, dass es in London nicht darum geht, wer die Brötchen holt, sondern darum, wie künftig Demokratie definiert wird. Als Demokrat hat man also Grund genug, die britischen Parlamentarier zu kritisieren und ihnen die Glaubwürdigkeit und auch die Kompetenz abzusprechen, die sie eigentlich bräuchten, um ihre Wähler angemessen zu repräsentieren. Wenn es aber eine Seite gibt, von der aus Kritik eher nicht angebracht ist, dann ist das die Europäische Union. Was demokratische Regeln anbelangt, sitzt Brüssel in einem der größten Glashäuser der Welt, meint aber dennoch, mit Steinen jonglieren und andere als undemokratisch beschimpfen zu müssen.

Die Arroganz der EU

Die Art und Weise, mit der in der EU die mit sich ringenden Briten betrachtet werden, ist herablassend und arrogant. Man lästert über die „Chaos-Briten“, dabei tragen sie einen politischen Konflikt darüber aus, ob ihr Land einen Weg bestreiten soll, den bislang noch niemals jemand gegangen ist. Dass dies nicht planmäßig abläuft, ist logisch, denn es gibt dafür keinen Plan, schon gar keinen EU-erprobten. Doch die europäische Kritik am Chaos-Brexit ist nur vordergründig eine Kritik am beschämenden Verhalten der politischen Elite in London – sie ist im Kern eine Kritik an den Wählern. Dabei zeigt gerade das Brexit-Votum, dass Menschen eben nicht immer nur Konsum, wirtschaftliche Sicherheit und Stabilität wählen, sondern manchmal durchaus Unsicherheit und neues Terrain bevorzugen, wenn sie die Hoffnung haben, wieder mehr Kontrolle über das eigene Schicksal zurückzugewinnen. Dafür sollten wir die Briten nicht belächeln, sondern bewundern.

Ich habe übrigens mit meiner Tochter nicht noch einmal geknobelt. Sie hat irgendwann eingesehen, dass es ihr besser zu Gesicht steht, die Niederlage zu akzeptieren. Zudem konnte sie so selbst entscheiden, was sie vom Bäcker mitbringt. So stolz ich auf Madame bin, dass sie diesen Lernprozess durchlief, so skeptisch bin ich, ob dies der britischen politischen Klasse auch gelingen wird. Wenn hier jemand etwas lernt, dann wohl die britischen Wähler, denen endgültig bewusst werden dürfte, wie viel ihre Abgeordneten von ihnen halten. Und diese Einsicht sollte uns den Briten näherbringen, als wir es vielleicht jemals waren – und als es der EU lieb sein dürfte.

Der Artikel ist zuerst am 14. April 2019 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.