Der Aufstieg der politischen Quereinsteiger

Charlie Chaplin, Statue, Bronze, Clown

Es ist ein gutes Zeichen, wenn Menschen landauf landab in Europa von den Pfaden der Braven abweichen und Quereinsteiger und sogar Komiker in hohe Ämter wählen. So paradox es klingen mag: Gerade hierdurch gewinnt die Politik ein Stück Ernsthaftigkeit und Professionalität zurück.

Es ist Frühling in Europa. Überall blüht es, an den Bäumen, auf den Wiesen, in den Parks und Gärten, in den Köpfen der Menschen – und auch den europäischen Regenten und Poligarchen blüht so einiges in diesem Frühjahr. Der Protest gegen die Ausläufer der politischen Eiszeit treibt viele bunte Blüten ans Licht, wenngleich auch manch faulige und leicht nach Verwesung riechende darunter ist. Aber niemand hat behauptet, dass der Frühling ein lieblich duftender Rosengarten ist, im Gegenteil: Der Kampf um die besten Plätze an der Sonne ist knallhart und wird zuweilen mit Mitteln geführt, die gar keine sind.

Das gilt insbesondere für den Kampf um die Position auf politischer Ebene. Hier kommt noch hinzu, dass dieser nicht nur mit politikfernen Mitteln, sondern sogar von politikfernen Leuten geführt wird, die hier eigentlich gar nichts verloren haben – zumindest dann nicht, wenn man den Vorstellungen in den kontinentalen Schaltzentralen folgt. Es ist wie verhext: Wann, wo und wer auch immer sich in Europa als Vertreter der alten Hierarchien und zugleich als Kandidat der EU positioniert – die Wahl geht verloren.

EU-ropäer werden abgestraft

Dies gilt nicht nur für Großbritannien, wo die Menschen 2016 mehrheitlich und gegen den Willen ihres Establishments den Austritt aus der EU beschlossen haben. Auch auf dem Kontinent grassiert der Protest mit dem Stimmzettel: Wenige Monate nach dem Brexit-Votum musste der niederländische Ministerpräsident Rutte 2017 allerhand Fantasie aufbringen, um die Verschrottung seiner Regierung als Wahlsieg zu verkaufen. Letztlich fiel ihm nichts Besseres ein, als darauf hinzuweisen, dass der zuvor an die Wand gemalte Untergang weniger abrupt ausgefallen sei als gedacht.

Schwerere Geschütze fuhren kurz darauf die französischen Wähler auf: Sie pulverisierten gleich ihre gesamte moderige Parteienlandschaft und hievten mit Macron einen sonnengottartigen Nobody ins Präsidentenamt, um nur eineinhalb Jahre später erneut auf die Barrikaden zu gehen und dann dort zu bleiben. Zu offensichtlich war, dass Macron zwar alte Zöpfe abschnitt, aber nichts Neues und Anderes entstehen ließ und auch mit seinem proeuropäischen Kurs die eigene Bevölkerung nicht für sich gewinnen konnte.

Noch ein Tiefschlag in der Ukraine

Die Italiener verhielten sich bei ihrer Parlamentswahl ähnlich widerborstig und wählten neben der rechtslastigen Lega mit der EU-skeptischen Fünf-Sterne-Bewegung eine vom Kabarettisten Beppe Grillo gegründete Partei an die Regierung. Dass man in Osteuropa Wahlen durch eine scharfe Abgrenzung von der EU gewinnt, ist schon fast ein alter Hut. Dass aber sogar in Deutschland, wo es gar keine Anti-EU-Partei gibt, die proeuropäische Große Koalition verzwergt wurde, ließ aufhorchen.

Da wirkt das Ergebnis der jüngsten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine nur noch wie ein weiterer Tiefschlag für Brüssel. Erneut hat es einen Liebling der EU-Eliten erwischt. Nicht einmal der Krieg in der Ostukraine hinderte die Menschen daran, den Präsidenten Petro Poroschenko in Bausch und Bogen aus dem Amt zu jagen und ihn durch den 41-jährigen Schauspieler und Polit-Neuling Wolodimir Selenskyj zu ersetzen, von dem niemand genau weiß, wofür er steht. Jedoch eignet er sich nicht zum Beschwören der gängigen Feindbilder: Als russisch sprechender Jude ist Selenskyj weder Mitglied der ukrainischen Elite noch Antisemit noch bisher als Scharfmacher gegen Russland auffällig geworden.

Die Scheu vor Veränderungen

Die Fragen, die sich aus dem fast schon chronischen „Abwatschen“ der EU-rokratie ergeben, lauten: Warum wählen die Europäer mit wachsender Begeisterung Menschen, die keine handelsüblichen „Politiker“ sind? Was sagt das über die Menschen aus? Und vielleicht noch wichtiger: Ist das nicht etwas Positives? Wir sind alle über Jahre daran gewöhnt worden, dass Veränderungen zwar nicht aufzuhalten sind, aber doch möglichst gebremst und abgefedert werden sollten, denn eigentlich kann ja alles immer nur noch schlechter werden.

Früher war das die Geisteshaltung meiner Oma, die – verständlicherweise – mit der Modernisierung des Lebens nicht schritthalten wollte. Heute ist dies der Mainstream, dem man das Attribut „politisch“ eigentlich kaum mehr zubilligen mag. Wenn selbst den glühendsten Verteidigern der Europäischen Union in Deutschland, den Bündnisgrünen, im Wahlkampf kaum mehr einfällt, als „Europa“ als „die beste Idee, die Europa je hatte“, zu bewerben, dann stellt sich tatsächlich die Frage, was einem Polit-Neuling eigentlich fehlen soll.

Sind Kabarettisten die besseren Politiker?

Doch es fehlt der Pro-EU-Politszene nicht nur an Ideen. Die Lage ist schlimmer: Was fehlt, ist der Mut, um überhaupt eigene Ideen entwickeln und sich mit fremden Ideen auseinandersetzen zu wollen. Alles, was auch nur entfernt nach Veränderung und Kritik riecht, wird in die untersten und mit allerlei unappetitlichen Namen beschilderten Schubladen gesteckt, Hauptsache, möglichst weit unter der Gürtellinie der politischen Korrektheit. Was oberhalb übrigbleibt, ist genau der Einheitsbrei, der der Öffentlichkeit dann als Ausbund der Buntheit und Vielfalt unter die Nase gehalten wird.

Mit Verlaub: Wer ist hier eigentlich Komiker? Und wären professionelle Kabarettisten nicht vielleicht viel besser geeignet, um den farb- und geschmacklosen Brei mit neuer Würze und neuer Farbe zu etwas ganz anderem zu machen? Sind das Erneuern und Beleben der tiefgefrorenen politischen Landschaften nicht positive Signale für die politische Kultur in Europa? Und kann man solcherlei Belebung von Polit-Managern überhaupt erwarten, deren politische Biografie stets auf das Verhindern von offenen Debatten und das Verteidigen des Status quo ausgerichtet war?

Neues ausprobieren statt verwalten im Alten

Es ist ein gutes Gefühl, wenn möglichst viele Menschen gegen die Apokalypsenapostel aller Länder und jeder Couleur aufbegehren und wider aller Notstandsvernunft Leute in Ämter wählen, die gerade nicht durch die Mühlen des Systems glattgeschliffen und entkernt wurden. Dass Kabarettisten und Schauspieler als Quereinsteiger möglicherweise besser taugen als etwa Großunternehmer oder Juristen, könnte daran liegen, dass es zu ihrer beruflichen Qualität gehört, in verschiedene Rollen zu schlüpfen und die Realität aus verschiedenen Positionen betrachten zu können. Zudem müssen sie gute Beobachter und Interpreten und auch in der Lage sein, Dinge beim Namen zu nennen und Finger in Wunden zu legen. Ob sie dadurch automatisch bessere Politiker sind, ist zu bezweifeln. Doch alles, was die alten Apparate der systematischen Politikverhinderung blockiert und ihre zunehmende Irrelevanz spürbar macht, ist gut.

Und vielleicht ist heute gerade derjenige ein „besserer“ Politiker, der Menschen dazu bringt, Politik und die eigene Rolle darin wieder ernster zu nehmen. Und das bedeutet hier: wieder mehr auf die Fähigkeiten der Menschen und auf deren Weisheit zu setzen. Auf welchem Wege das gelingt, ist zweitrangig. Seltsamerweise ist gerade der Humor ein wunderbares Mittel, um Dinge und sich selbst ernster zu nehmen.

Wenn Menschen lachen, senken sie für einen Moment ihre ethisch-moralischen Schutzschilde und Scheuklappen und öffnen sich neuen Ideen und Aussichten. Wer über den Zeitgeist lacht, stellt eine gesunde Distanz zu ihm her und schützt so seine eigene Freiheit und Unabhängigkeit. Insbesondere mit Blick auf die missmutigen und misanthropischen „Gretatisten“ und auf die um sich greifende Infantilität der etablierten Gesellschaftslenker tut dies Not. Probieren Sie es einfach mal aus, denn: Ausprobieren ist der eigentliche Kern von demokratischer Politik.

Dieser Artikel erschien zuerst am 28. April 2019c in leicht veränderter Fassung in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online.