01.07.2022 – Eine Gesellschaft, die sich gegen Judenhass wappnen will, muss lernen, ihn argumentativ und in aller Öffentlichkeit zu entkräften. Verbote sind kontraproduktiv.
Ich hasse Antisemitismus. In all seinen Formen und Ausprägungen, ganz egal, ob rechter, linker oder religiös motivierter Natur, ob staatlich verordnet oder aus der Gesellschaft heraus, und ganz gleich, ob in Politik, Kunst oder Kultur. Ich hasse Antisemitismus. Punkt.
Und ich hasse die Verbotskultur. In all ihren Formen und Ausprägungen, ganz egal, ob rechter, linker oder religiös motivierter Natur, ob staatlich verordnet oder aus der Gesellschaft heraus, und ganz gleich, ob in Politik, Kunst oder Kultur. Ich hasse die Verbotskultur. Punkt.
Kann man gegen Antisemitismus und gleichzeitig gegen die Cancel Culture sein? Ich sage ja, denn Zensur hilft nicht dabei, Judenhass aus der Welt zu schaffen. Im Gegenteil. In der Öffentlichkeit wird es häufig als Widerspruch empfunden, diese beiden Standpunkte zu vertreten. Wenn man gegen Antisemitismus sei, dann müsse man doch alles tun, um antisemitische Äußerungen zu verhindern und damit dafür zu sorgen, dass aus ihnen keine weitergehenden Handlungen werden. Daher sei das Verbannen antisemitischer Aussagen ein probates Mittel im Kampf gegen den Judenhass.
Ich vertrete die Ansicht, dass man Antisemitismus am besten durch Aufklärung bekämpft. Durch das Entlarven antisemitischer Scheinargumente, Stereotypen und Sündenbocktheorien, und zwar in all ihren Schattierungen und Maskierungen. Eine wache, selbstdenkende, aufmerksame und gegen alle Formen von Menschenhass allergische Gesellschaft ist in der Lage, antisemitische Argumente schnell zu erkennen, zu durchschauen und zu entkräften. Wenn wir Schwierigkeiten haben im Umgang mit derlei wirren Theorien, dann müssen wir es eben lernen und besser werden.
Lernen werden wir den selbstbewussten, aufgeklärten und offensiven Umgang mit Antisemitismus nicht, wenn wir uns selbst die Augen zuhalten und so tun, als gäbe es ihn nicht. Wenn wir antisemitische Kunst abhängen, wird sie dadurch nicht weniger antisemitisch. Die Welt wird nicht schön und gut, wenn wir die Hässlichen und Bösen schlachten. Sie kann dann gut werden, wenn wir dem Bösen ins Gesicht schauen und ihm die Stirn bieten. Dazu müssen wir uns ihm aussetzen und mit ihm auseinandersetzen, um ihm dadurch auseinander zu nehmen.
Antisemitische Kunstwerke auf der documenta zu kritisieren, ist gut und notwendig. Warum sie dafür abgehängt werden sollten, leuchtet nicht ein. Vielmehr sollten wir fragen, woran es liegt, dass gerade auch in intellektuellen und vermeintlich kritisch-aufgeklärten Milieus eindeutige Signale des Antisemitismus offensichtlich nicht erkannt oder aber bewusst ignoriert werden. Die weit verbreitete Blindheit für Antisemitismus ist beängstigend; ihr muss entgegengetreten werden.
Schon vor einigen Monaten war öffentlich thematisiert geworden, dass auf der Liste der documenta-Künstler die palästinensische Gruppe „The Question of Funding“ stehe, die sich zuvor für den Boykott Israels im kulturellen Leben ausgesprochen habe. Doch anstatt die inhaltliche Auseinandersetzung zu suchen, betonte der SPD-Oberbürgermeister von Kassel, Christian Geselle, gegenüber dem Hessischen Rundfunk, er könne in der Arbeit der Künstlergruppe „keinen antisemitischen Bezug erkennen“, weshalb in diesem Falle auch „keine rote Linie“ bei strafrechtlichen Fragen überschritten worden sei.
Genau hieran zeigt sich das Problem in der Auseinandersetzung mit antisemitischen Äußerungen: Es findet eine Reduktion auf strafrechtliche Belange statt, was dazu führt, dass jenseits der juristischen Frage der Rechtmäßigkeit einer Aussage öffentliche Debatten kaum noch stattfinden. Im Falle der documenta führte diese Zuspitzung dazu, dass dem Kasseler OB Geselle, um dem Impuls der Säuberung der documenta entgegentreten zu können, letztlich gar nichts anderes übrig blieb, als „antisemitische Bezüge“ bei der umstrittenen Künstlergruppe gleich ganz zu leugnen. Viel konstruktiver wäre es hingegen gewesen, gerade diese Bezüge öffentlich zum Thema zu machen und kontrovers zu diskutieren.
Doch leider ist die um sich greifende Cancel Culture im Umgang mit Antisemitismus alles andere als hilfreich: Immer häufiger werden kontroverse Inhaltsäußerungen von Veranstaltern und Organisatoren bewusst schon im Vorfeld verhindert, um die zu erwartenden öffentliche Debatten gar nicht erst aufkommen zu lassen. Für die gesellschaftliche Debattenkultur ist das eine toxische Entwicklung: Denn wenn wir Inhalte verbieten, die uns vielleicht unangenehm oder aber als abstoßend erscheinen, dann verlieren wir immer mehr die Fähigkeit, damit angemessen umzugehen. Wir verlernen, was es heißt, für unsere eigenen Überzeugungen einzustehen und Debatten zu gewinnen, wenn wir alle anderen Ansichten ausblenden und mundtot machen.
Ich habe ein mulmiges Gefühl, wenn Ausstellungen wie die documenta in Kassel künftig von einer Art parastaatlichem Kultur-Wächterrat unter die Lupe genommen und nur dann freigegeben werden, wenn keinerlei problematische Inhalte zu finden sind. Und ich frage mich: Wer entscheidet, wo die Grenzen der Kunst- und Meinungsfreiheit liegen? Und warum sollen wir denjenigen, die sich dieses Recht herausnehmen, es gestatten, darüber zu entscheiden, was wir sehen, hören oder lesen dürfen?
Die Cancel Culture wendet sich nur vordergründig gegenüber Urheber politisch unkorrekter oder geschmackloser Inhalte. Das eigentliche Ziel der Säuberungsmaßnahme ist immer das normale Publikum, denn ihm wird die moralische Aufgabe abgenommen, selbst Inhalte zu beurteilen. Diejenigen, die das öffentliche Angebot von Kunst und Kultur zeitgeistkonform zu säubern sich herausnehmen, erheben sich damit über die (all-)gemeine Öffentlichkeit. Das Irre ist: Durch fortgesetztes Begradigen und Begrenzen dessen, was gesehen, gehört und gelesen werden darf, tragen die Wächter des guten Geschmacks aktiv dazu bei, dass die moralische Kompetenz, selbst derlei Entscheidungen zu treffen, in der Öffentlichkeit immer weiter verloren geht.
Genau diese Kompetenz ist aber dringend notwendig, um Fake News, Verschwörungstheorien, rassistische oder antisemitische oder sonstige Ideologien selbst zu erkennen und sich ihnen entgegenzustellen. Nur so kann eine Gesellschaft sich wehren, wenn solche Inhalte nicht mehr aus Randgruppen, sondern als Bestandteile von Regierungspropaganda aus den Führungsetagen kommen. Daher sollten wir bereit sein, uns kritisch mit Inhalten auseinanderzusetzen – auch wenn es manchmal weh tut. Richtig verstandene Toleranz ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit – sie ist die Basis dafür, dass am Ende die besseren Argumente im demokratischen Wettstreit gewinnen.
Dieser Artikel ist am 01.07.2022 online bei Novo Argumente für den Forschritt erschienen.