Egal, ob „Echo“ oder Literaturnobelpreis – bei öffentlicher Kritik werden Veranstaltungen heutzutage besonders schnell abgesagt oder ausgesetzt. So aber verlernen wir, mit Risiken umzugehen.
Ich gebe es zu: Ich habe nie eine „Echo“-Verleihung verfolgt. Die Aufregung um den Eurovision Song Contest versuche ich genauso zu meiden wie den scheinbar ferngesteuerten Gang in den Buchladen unmittelbar nach Bekanntmachung des neuen Literaturnobelpreisträgers. Zu keinem dieser drei kulturellen Ereignisse habe ich einen besonderen Bezug. Bislang dachte ich, ich könne gut auf sie verzichten. Nun sind zwei dieser drei Ereignisse in den vergangenen Wochen ausgesetzt beziehungsweise komplett abgeschafft worden. Und das fühlt sich seltsam an. Nicht, weil mir diese Events fehlen, sondern weil die Art, in der sie ausgesetzt oder abgeschafft wurden, doch einige Fragen aufwirft.
Man kann diesen Fragen aus dem Weg gehen, indem man die jeweiligen Ereignisse einfach einzeln und rein für sich betrachtet. Der „Echo“ wurde an die Rapper Kollegah und Farid Bang verliehen, ohne dass man sich vorher wirklich konsequent mit den Texten auseinandersetzt hätte. Deswegen ist ein angestrengtes Nachdenken bei den Veranstaltern und eventuell sogar eine Denkpause sicherlich nicht verkehrt.
Das „Echo“-Debakel
Den Preis gleich ganz abzuschaffen, da dieser „keinesfalls als Plattform für Antisemitismus, Frauenverachtung, Homophobie oder Gewaltverharmlosung wahrgenommen“ werden dürfe, klingt jedoch nach kontraproduktiver Übersprungshandlung. Es stellt sich die Frage, wer den „Echo“ tatsächlich als eine solche Plattform wahrgenommen hätte, wäre er nicht gerade als eine solche abgeschafft worden. Aber offensichtlich litt der „Echo“ länger unter einer inhaltlichen Schwäche, mangelnder Ausdrucksstärke und schwindender Strahlkraft. Wie sonst wäre die fast schon gespenstische Geräuschlosigkeit seines Verschwindens zu erklären, die zuvor nur durch das umso geräuschvollere Nachtreten der nun ihre eigenen „Echos“ zurückgebenden Promis ausgeglichen wurde?
Ähnlich könnte man auch im Falle der aktuellen Aussetzung der Vergabe des Literaturnobelpreises vorgehen. Auslöser waren Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs in 18 Fällen gegen Jean-Claude Arnault. Dessen Frau Katarina Frostenson ist Mitglied der Schwedischen Akademie, die im Auftrag der Nobel-Stiftung den Nobelpreis für Literatur vergibt. Das Ehepaar Arnault / Frostenson soll zudem die Namen von mehreren Nobelpreisträgern vorab verraten und Zuwendungen der Akademie unzulässig für einen privaten Kunstclub verwendet haben. Nach zahlreichen weiteren Rücktritten entschied die Schwedischen Akademie Anfang Mai, den Literaturnobelpreis 2018 erst im kommenden Jahr zusammen mit dem Preis für 2019 zu verleihen, um bis dahin „das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Akademie wiederherzustellen“.
Verkleidete Lust am Abriss
Auch hier kann man also sagen: Räumt auf, modernisiert die Strukturen, und wir sehen uns im kommenden Jahr wieder in alter Frische. Und dennoch bleibt ein seltsamer Nachgeschmack: Warum soll das offensichtlich gegen alle Akademiestatuten verstoßende Verhalten Einzelner das öffentliche Vertrauen in die 1786 gegründete Schwedische Akademie so erschüttern, dass die Nobelpreisverleihung verschoben werden muss? Wäre nicht eher die entschlossene Offenlegung von Missbrauch und Korruption in der Akademie der ideale Hintergrund dafür, die Verleihung jetzt erst recht vorzunehmen? Wenn eine altehrwürdige Kultur-Akademie sich selbst durch sexuelle Übergriffe, Korruption und individuelle Indiskretion derart in ihren Grundfesten erschüttert sieht, dann liegt auch hier der Schluss nahe, dass die Selbstzweifel und Verunsicherungen weitgehender sind, als man gemeinhin annehmen würde. Auch die Widerstandsfähigkeit gegenüber moralischem Druck von außen wirkt schwächer.
Was jenseits dessen bleibt, ist der diffuse Eindruck, dass wir heute sehr schnell dabei sind, Institutionen, die wir eben noch als ehrwürdige Ikonen der Populärkultur angesehen haben, auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Nun bin ich alles andere als ein Traditionalist, und eigentlich müsste mir diese Bereitschaft zum Aufbruch gefallen. Tut es aber nicht, denn die Motivation, sich von diesen alten und auch verstaubten Traditionen zu verabschieden, ist alles andere als progressiv. Bei genauerer Betrachtung ist die Lust am Neuen eher eine verkleidete Lust am Abriss.
Moralisch-Pädagogische Begründungen
Das Spannende an dieser Lust am Abriss ist, dass sie nicht von außen, sondern aus der westlichen Gesellschaft heraus kommt. Und das insbesondere aus den Kreisen, die sich selbst als Speerspitze von Progressivität und Aufgeklärtheit fühlen. Zwar konnte man auch schon in den letzten Jahren eine zunehmende Bereitschaft feststellen, Veranstaltungen aus zum Teil sehr diffusen und auch hypothetischen Gründen spontan abzusagen. Man erinnere sich nur an das im November 2015 abgesagte Fußballländerspiel in Hannover, das ebenfalls 2015 abgesagte Radrennen in Frankfurt, an den abgesagten Karnevalsumzug von Braunschweig im gleichen Jahr oder an die zahlreichen und sehr schnell wetterbedingt abgesagten Karnevalsumzüge des nachfolgenden Jahres. Die CSU verzichtete 2016 wegen eines Zugunglücks am Vortag sogar auf den ihr sonst so heiligen politischen Aschermittwoch – offensichtlich wollte niemand markige Bierzeltreden als dennoch legitim und angemessen verteidigen müssen.
Die aktuellen Absagen sind hingegen inhaltlich hausgemacht. Sie werden moralisch und pädagogisch begründet: Da geht es um ethische Glaubwürdigkeit, um eventuell mögliche Auseinandersetzungen, in denen sich Einzelne irgendwie konfrontiert und „belästigt“ fühlen könnten. Dazu braucht es keinen tätlichen Angriff, es genügt schon ein Gedicht an einer Häuserwand, um dieses Szenario zu erzeugen. Hierzu passt der an Universitäten um sich greifende Hang, kontroverse Veranstaltungen zu blockieren, Teilnehmer auf Druck wieder auszuladen oder das Ganze gar nicht erst stattfinden zu lassen.
In Zweifel gehen wir auf Nummer sicher
Im Zweifel tut die Gesellschaft lieber nichts. Im Zweifel gehen wir lieber auf Nummer sicher – selbst dann, wenn der Zweifel nur ein Selbstzweifel oder gar ein Phantomzweifel ist. Dieses schnelle Einknicken vor Widerständen bildet den kulturellen Hintergrund, vor dem die eingangs beschriebenen Ereignisse um den Nobelpreis und den „Echo“ plötzlich in einem anderen Licht erscheinen. Natürlich ist es notwendig, die Dinge für sich und in ihrem eigenen Recht zu betrachten und zu bewerten. Doch in den vergangenen drei Jahren ist die Schwelle, die erreicht werden muss, damit etwas „zu heikel“ ist, um noch stattfinden zu dürfen, deutlich nach unten gerutscht.
Die Gesellschaft sollte das nicht weiter so hinnehmen. Wir verlernen so den vernünftigen Umgang mit Risiken. Hinzukommt, dass wir Gefahr laufen, die Robustheit zu verlieren, die es braucht, um auch einmal gegen Druck für die eigenen Überzeugungen oder eben auch für kulturelle Errungenschaften einzutreten. Ich werde zwar nicht für die Wiedereinführung des „Echos“ plädieren. Sollte aber jemand auf ähnlich niveau- und kulturlose Weise versuchen, den von mir so innig verabscheuten Eurovision Song Contest abzuschaffen, dann gehe ich auf die Barrikaden.
Dieser Artikel ist am 13. Mai 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.