Welttag der Pressefreiheit: vergesst die Leser nicht!


Europa ist laut „Reporter ohne Grenzen“ auf dem Weg, „zum Krisenkontinent für Journalisten“ zu werden. Der Grund sind nicht nur herrschsüchtige und kritikscheue Machthaber. Auch die Medien selbst bedrohen Presse- und Meinungsfreiheit.

Seit 1994 ist der 3. Mai der Welttag der Pressefreiheit. Im Vorfeld dieses Tages häufen sich regelmäßig die Berichte über Verletzungen der Pressefreiheit in aller Welt. In diesem Jahr hat die Berichterstattung scheinbar einen neuen Fokus: Der Rangliste der Pressefreiheit zufolge, die jährlich von der Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“  veröffentlicht wird und die die Pressefreiheit in 180 Ländern „misst“, droht Europa „zum Krisenkontinent für Journalisten“ zu werden. Geknüpft wird diese Einschätzung zum einen an die Schicksale der beiden auf Malta beziehungsweise in der Slowakei ermordeten Reporter Daphne Caruana Galizia und Jan Kuciak, zum anderen an die gesellschaftspolitische Entwicklung in einigen mittel- und osteuropäischen Staaten wie Polen, Ungarn und Tschechien, in denen zum Teil recht brachial in die Freiheit von Presse und Rundfunk eingegriffen wurde.

Der Hang zur Selbstzensur
Natürlich ist das Thema permanent auf der Tagesordnung, nicht zuletzt auch durch die für Journalisten gefährliche Lage im Nato-Mitgliedsstaat Türkei sowie durch die verbalen Attacken von US-Präsident Donald Trump gegen Medienvertreter- und -unternehmen. Doch schon seit vielen Jahren konstatieren Organisationen wie „Reporter ohne Grenzen“  oder Freedom House, dass sich die Lage für kritische Berichterstattung verschlechtert. Schon 2015 wurde im Jahresbericht von Freedom House darauf hingewiesen, dass gerade auch westliche Regierungen Sicherheits- und Anti-Terror-Gesetze als Vorwand nutzen, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. In diesem Jahr habe sich die Lage laut „Reporter ohne Grenzen“  in 42 Prozent aller Länder weltweit verschlechtert. Die Zuspitzung der Lage in Europa sei ohne Beispiel, was den Geschäftsführer der Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, zu einer bemerkenswerten Aussage veranlasste: „Wenn die Europäische Kommission dem tatenlos zusieht, ist das in höchstem Maße fahrlässig.“

Es ist gut, dass die Beschneidung der Pressefreiheit und der teilweise sehr brutal geführte Krieg gegen freie Medien thematisiert wird. Denn so wird deutlich, dass Medienvielfalt und Informationsfreiheit eben keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern es manchmal nur knapper Mehrheiten im Parlament bedarf, um als unabdingbar geltende Pfeiler demokratischer Kultur zum Einsturz zu bringen. Doch die Bedrohung der Pressefreiheit ist eben kein Phänomen, das gewissermaßen von außen eine an sich intakte und selbstbewusste Welt anzugreifen und zu schwächen versucht. Tatsächlich werden Presse- und Meinungsfreiheit auch innerhalb der Medienwelt infrage gestellt und bedroht. Zu nennen wäre hier die schwierige ökonomische Situation vieler Medienunternehmen, die Konzentration von Medienmacht sowie der ungebrochene Trend zur Zusammenlegung von Redaktionen oder gar das Verschwinden traditioneller Medienprodukte. Weit weniger Beachtung findet aber, dass die Debatte auch in den Medien einen „blinden Fleck“ hat beziehungsweise unter einem fundamentalen inneren Widerspruch leidet: Die Rede ist vom weit verbreiteten Hang zur Selbstzensur.

Die zunehmende Empfindlichkeit

Die politische Kultur in Deutschland ist einerseits geprägt durch die Erwartung und das automatische Voraussetzen großer individueller Freiheit, andererseits aber auch durch eine zunehmende Empfindlichkeit und Dünnhäutigkeit in Bezug auf Standpunkte, die sich jenseits des politischen Mainstreams verorten. Kaum ein Thema wird so heiß diskutiert wie die Frage, was man noch sagen darf und ab wo eine Aussage vielleicht als nicht mehr akzeptabel gilt. In der Berichterstattung, in den Feuilletons, aber auch in Talkshows sind Variationen dieses Themas ein wahrer Dauerbrenner: Darf man extremistischen Positionen eine Plattform bieten? Dürfen Salafisten öffentlich predigen? Was dürfen Politiker dazu sagen? Was darf Satire? Wo beginnt die Verletzung von Persönlichkeitsrechten? Was müssen Medien tun, um Frieden und Toleranz zu fördern? Ist es sinnvoll, kompromisslos auf dem Recht auf Meinungsfreiheit zu beharren oder macht man sich damit zum Steigbügelhalter von Extremisten? Was dürfen ausländische Politiker auf deutschem Boden sagen? Was muss auf Facebook gelöscht werden? Was müssen deutsche Journalisten im Ausland sagen können dürfen? Die Liste ist scheinbar unendlich. Und dennoch dreht sich alles immer um dieselbe Frage: Wo ist die Grenze zu ziehen?

Die Diskussionen über die Begrenzung von Freiheiten sind in mehrerlei Hinsicht interessant: Auffällig ist, dass die Frage, wem denn das Recht zur Begrenzung der Meinungs- und Pressefreiheit gegeben werden soll, fast flächendeckend Unbehagen auslöst. Denn der Blick nach oben in Richtung derselben Herrschenden, die man bis eben noch in Grund und Boden kritisierte, erfolgt fast unbewusst. Reflexartig kommt bei allem, was man für schädlich und gefährlich hält, der Verbotsgedanke ins Spiel. Kurz gesagt: Man will das einfach weghaben! Wer das letztlich tut und welche Konsequenzen das für die eigene Freiheit hat, erscheint als nachgelagerte Frage und ist als solche schon nicht mehr Teil des unmittelbaren Selbstschutzreflexes. Noch spannender ist aber, dass es in Debatten über Presse- und Meinungsfreiheit heute nie um die Ausweitung dieser Grenzen, sondern immer um neue Sonderfälle geht, die einer besonderen Behandlung bedürfen. Da Empfindlichkeit und Dünnhäutigkeit aufgrund des anwachsenden Gefühls der sozialen Verunsicherung und Machtlosigkeit zunehmen, ist das robuste Eintreten für das Recht auf Meinungsfreiheit für Meinungen, die man selbst nicht teilt oder sogar abstoßend findet, kaum mehr anzutreffen. Der Hang, sich selbst und die Öffentlichkeit vor solchen Äußerungen zu beschützen, ist mittlerweile im kompletten politischen Spektrum gleichermaßen verankert; das einzige, worüber man sich auf dieser Ebene streitet, ist der Verlauf der Legalitätsgrenze.

Distanz zur Bevölkerung und Nähe zum Staat
Die Konzentration auf die Grenzen von Freiheitsrechten hat einen weiteren Nebeneffekt: Sie legt den Schwerpunkt auf die Wegbereiter abgegrenzter Freiräume und nicht mehr auf diejenigen, die diese Räume brauchen und bevölkern. Dies erklärt auch die zunehmend akademisierte Diskussion. Dabei ist die Logik eigentlich ganz einfach: Verbotsdebatten stärken immer die Rolle des Verbietenden, schon alleine dadurch, dass flächendeckend darüber gestritten wird, was nun als nächstes verboten werden soll. Mediennutzer tauchen in diesem Auseinandersetzung nicht mehr als die tatsächlichen Entscheider auf, sondern als einzuhegende und anzuleitende Masse. Dass gerade sie die Freiheit haben sollten, selbst zu entscheiden, was sie lesen, hören oder sehen möchten und was nicht, ist in dem auf Begrenzungen und Verbote ausgerichteten Mediendenken nicht einmal mehr eine Fußnote wert. Wenn Christian Mihr von „Reporter ohne Grenzen“  bei der Rettung der Pressefreiheit ausgerechnet die Europäische Kommission für eine geeignete Ansprechpartnerin hält, offenbart dies das eigentliche Problem: Was die Distanz zur Bevölkerung angeht, so scheuern sich Politik und Medienwelt aneinander wund.

Der in Deutschland gepflegte investigative Journalismus geht zwar immer mal wieder auch auf die Politik los, doch selbst hier dominiert eine staatstragende Orientierung: Ein Großteil der skandalaufdeckenden Berichterstattung gipfelt in Forderungen nach mehr und strikterer Kontrolle von Märkten und Menschen, nach Beschränkung von Freiheiten und Rechten, nach dem Austrocknen von Sümpfen und intransparenten zwielichtigen Zonen oder nach dem Verschließen von Schlupflöchern oder Überwachungslücken. Wer so die vollständige (öffentlich-)rechtliche und porentief reine Säuberung des gesellschaftlichen Lebens zum Ziel seines journalistischen Handelns macht, der kann weder glaubhaft noch kraftvoll für den Erhalt oder gar die Ausweitung von Freiräumen streiten. Ist Ihnen in den vergangenen Jahren irgendeine mediale aufbereitete Geschichte in Erinnerung geblieben, an deren Ende die Forderung nach weniger staatlicher oder parastaatlicher Kontrolle und nach mehr Vertrauen in Otto Normalbürger stand? Mir nicht.

Medien müssen über den eigenen Schatten springen
Um die Pressefreiheit konsistent verteidigen zu können, muss man an die Freiheit glauben und daran, dass Menschen mit ihr umgehen und in ihr wachsen können. Für Journalisten und Medienschaffende bedeutet das, dass sie über den Schatten ihrer angenommenen gesellschaftlichen Verantwortung springen müssen: Der Einsatz für Meinungs- und Pressefreiheit verlangt es von ihnen, sich gerade auch für unliebsame Konkurrenten, für „schlechte“ Kollegen und für die Rechte all derer einzusetzen, mit denen sie eigentlich selbst nichts zu tun haben wollen. Presse- und Meinungsfreiheit gelten eben auch für Revolverblättchen und Klatschpresse, für Politik-Magazine jeder Couleur und natürlich für das Internet. Diese Freiheit ist kein elitäres Privileg von studierten Journalisten, sondern aller Menschen. Deswegen ist es auch gut, dass sich jeder Mensch journalistisch betätigen darf.

Meinungsfreiheit gibt es nicht scheibchenweise, sondern nur am Stück. Wenn also Medienvertreter meinen, „ihre“ Pressefreiheit zum Schutze der Gesellschaft selbst eingrenzen zu können, versündigen sie sich an den Grundrechten aller Bürger – ganz zu schweigen von all den Journalisten, die unter staatlicher Repression zu leiden haben. Die Beschneidung der Pressefreiheit von außen kann nur abgewehrt werden, wenn auch der innere Kampf gegen Zynismus und Misanthropie gewonnen wird und man sich daran erinnert, um wen es eigentlich geht. Solange aber Abscheu vor normalen Menschen das Denken in der deutschen Medienwelt dominiert, ist der Fingerzeig auf andere Länder reine Heuchelei.

Dieser Artikel ist am 19. April 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.