20. Todestag von Lady Di: Lasst uns die Leid-Kultur überwinden!


Seit dem Tod von Prinzessin Diana ist das öffentliche Trauern zum Gemeinschaftserlebnis geworden. Doch wenn Gefühle im politischen Prozess die Oberhand gewinnen, wird der rationale Blick getrübt. Warum wir uns wieder mehr zusammenreißen sollten.

In den Tagen nach dem 31. August 1997 schien es plötzlich, als vereine sich die Welt in der Trauer um die durch einen Autounfall in Paris ums Leben gekommene Prinzessin von Wales, Diana. Jener Tag markierte mit einem Paukenschlag einen ersten Höhepunkt der heute allgegenwärtigen Kultur des Leidens. Eine Entwicklung in Richtung dieser Kultur hatte bereits viel früher begonnen. In der Reaktion auf den Tod der Prinzessin erreichte sie aber erstmals eine Intensität, die nicht nur eine ganze Nation über Tage stilllegte, sondern überall auf der Welt zu spüren war.

Trauer als Nationaltherapie

Wie kaum ein anderer Mensch von weltumspannender Bekanntheit verkörperte Diana all die Werte, die bis heute unsere moderne Opferkultur in Wallung bringen. Sie selbst zeigte sich mitfühlend und helfend gegenüber Armen und Kranken, inszenierte aber auch gekonnt ihre eigene Rolle als Opfer. Angeblich litt sie sowohl unter den Medien als auch unter der arroganten britischen Königsfamilie und unter männlichem Chauvinismus. Zwar war sie selbst kein Kind von Traurigkeit und Treue und auch keineswegs nur eine Getriebene der Paparazzi, doch all dies war im Moment ihres Todes vergessen. Fortan war Diana nicht durch das, was sie war und tat, sondern das, was man aus ihr machte und in ihr sehen wollte. Der britische Premierminister Tony Blair prägte schnell den Begriff „Prinzessin des Volkes“. Zahlreiche Politiker, Kommentatoren, aber auch Vertreter der Kirchen äußerten damals die Hoffnung, die Gesellschaft möge über das gemeinsame Trauern wieder zu sich finden und so eine neue Ära der Empathie und des Miteinanders begründen.

Doch schon damals sorgten die Reaktionen auf Dianas Tod auch für Erstaunen und Irritationen. Königin Elizabeth II hatte sich so distanziert verhalten, wie man es bis dahin von ihr erwartet hätte. Immerhin war Diana die Ex-Frau ihres ältesten Sohnes und Thronfolgers Charles. Doch nun war nicht mehr die Haltung der starken und prinzipientreuen Monarchin gefragt, sondern die der mitfühlenden Großmutter der Nation, die ihren Untertanen in deren fast manischer Trauer beizustehen hatte. Diese Rolle fiel ihr nicht leicht, widersprach sie doch allem, was bisher als richtig galt. Doch mit der Zeit wuchs die Königin und mit ihr die gesamte britische Monarchie in diese „nationaltherapeutische Rolle“ hinein. Die heutigen Popularitätswerte der Windsors und insbesondere der Söhne von Diana liegen darin begründet.

Dianas Tod setzt Maßstäbe

Das öffentliche Betrauern von Dianas Tod hat Maßstäbe gesetzt. Was sich aber verändert hat, sind die Anlässe. Die Menschen reagieren nicht mehr nur auf den Tod berühmter Persönlichkeiten mit nahezu überbordender Trauer. Sie zeigen ähnliche Emotionen auch im Angesicht von Terror, Mord und Totschlag.

Traditionen im Umgang mit einschneidenden Geschehnissen sind eine notwendige und positive Schaffung des Menschen. Sie markieren eine Zäsur, mit dem Ziel, anlassbezogen innezuhalten, um anschließend das eigene Leben fortzusetzen. Schwierig wird es aber, wenn Gesellschaften auf ganz unterschiedliche Ereignisse in ähnlicher Form reagieren. Es ist eine Sache, den Tod eines vertraut erscheinenden Menschen mit Fassungslosigkeit zu betrauern. Wenn man Terror, Krieg und den gewaltsamen Tod zahlreicher Menschen nicht als Schicksal oder gottgegeben akzeptieren will, dann muss der Umgang mit solchen Ereignissen ein anderer sein.

Doch genau diese Unterscheidung fällt zunehmend schwer. Politiker klingen heute nach Terroranschlägen genauso wie nach Flugzeugabstürzen, Naturkatastrophen oder eben einzelnen Todesfällen. Sie drücken in der Regel ihre „Fassungslosigkeit“ angesichts des sinnlosen Verlusts aus. Zuweilen distanzieren sie sich noch von „feiger Gewalt“, sofern die Faktenlage dies zulässt. Aber selbst dann obsiegt die Floskelhaftigkeit der immergleichen Formulierungen. Diese stereotype Sprache mag mancher als verzweifelten Versuch der bewusst unpolitischen und kontrollierten Empathiebekundung interpretieren. In Wirklichkeit aber zeigt sich hier, dass die Leid- und Trauer-Kultur sich mittlerweile so weit verbreitet hat, dass andere Gefühlsregungen kaum noch verbalisiert werden können, ja dürfen. Wut angesichts islamistisch motivierter Massenmorde gehört nicht dazu, ebenso wenig das Gefühl, sich solches oder auch anderes nicht länger gefallen lassen zu wollen.

Emotionalismus ersetzt klassische Politik

Dieser Emotionalismus des frühen 21. Jahrhunderts hat die klassische Politik sowie die mit ihr verbundenen kontroversen Ideologien ersetzt. In der Vergangenheit schweißten Interessen, Visionen und konkrete Lebensbedingungen die Menschen zusammen und brachten sie gleichzeitig gegeneinander auf. Heute wirkt gemeinsames Leiden als Kitt für eine neue Form des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Nur so erscheinen wir alle als gleich und human. Daraus wird eine Art Statement: gegen das Böse, gegen Terror, aber auch gegen überkommene Traditionen, gegen Kontroverse und Uneinigkeit. Diese scheinbar unpolitische Emotionalisierung gilt auch als der einzige Weg, um Veränderung herbeizuführen. Heute zeigt nicht derjenige Haltung, der sich zusammenreißt, sondern der, der seinen Gefühlen freien Lauf lässt, der sich traut, den Verstand auszuschalten und sein Innerstes nach außen kehrt.

Die Annahme, dass gerade diese Haltung nach dem Ende der politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts die Basis für ein friedvolleres und menschlicheres Leben darstellen könnte, ist ein Trugschluss. Es gibt keine Gefühlsdemokratie: Im Gegenteil, das mit Demokratie verbundene Freiheitsrecht auf abweichende Meinungen funktioniert nur, wenn es gelingt, von den eigenen Emotionen zu abstrahieren und die Andersartigkeit des Gegenüber zu respektieren. Wenn Gefühle im politischen Prozess die Oberhand gewinnen, endet dieser. Und auch das vielbeschworene Zusammenrücken der Menschen in der Trauer bietet keine Basis für einen robusten gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Verbrüderung im Leid ist rückwärtsgewandt und ermöglicht keinerlei konstruktive Perspektive für die Zukunft. Der Kontakt ist punktuell und nicht darauf ausgerichtet, stabile Beziehungen zu entwickeln – zu sehr liegt die Pflege der eigenen Schwachpunkte und des eigenen Ichs im Mittelpunkt.

Engagement innerhalb der Opferkultur

Aus dieser Perspektive erscheint es bestenfalls möglich und wichtig, die eigene Opferidentität gegenüber anderen zu verteidigen; die Überwindung solcher Identitäten gilt hingegen als völlig absurd und menschenverachtend. Es ist daher auch kein Zufall, dass Interessengruppen und Parteien in der Beliebtheits- und Glaubwürdigkeitsskala längst von Selbsthilfegruppen und Wohltätigkeitsorganisationen abgelöst wurden. Gesellschaftliches Engagement ist außerhalb der Opferkultur kaum noch vorstellbar. Aus dem handelnden Genossen von einst ist in der modernen Leid-Kultur der behandelte Leidensgenosse geworden. Dessen Selbstverständnis basiert nicht auf dem Glauben an die eigene Stärke und Bedeutung, sondern auf der eigenen Verletzlichkeit.

Auf diese zunehmend passive Rolle sollten wir uns nicht reduzieren lassen. Menschen sind in der Lage, sowohl aus ihren Identitäten als auch aus ihren in der Vergangenheit erworbenen Schwächen positive Energien zu ziehen und sich zu verändern. Die manische Übersteigerung der Leid- und Opferkultur, wie wir sie auch 20 Jahre nach dem tödlichen Unfall von Diana wieder beobachten können, macht uns nicht menschlicher. Sie reduziert unser Verständnis von Menschlichkeit, sie trübt unseren Blick auf die Gegenwart, auf uns selbst und auf das, was wir in der Zukunft erreichen könnten.
Dieser Artikel ist am 3. September 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.