Nach Irland: Ist die Homo-Ehe ein Akt der Befreiung?

Mit dem Aufstieg der Homo-Ehe geht ein bedenklicher Verlust an Kritik- und Konfliktfähigkeit, aber auch an Robustheit einher. Für die Freiheit heißt das nichts Gutes.

Mehr als 60 Prozent der Iren haben sich jüngst in einem Volksentscheid für die Möglichkeit der Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare ausgesprochen. Bisher stand Homosexuellen dort, wie auch heute in Deutschland – die Möglichkeit offen, ihre Lebenspartnerschaft offiziell eintragen zu lassen, was aber nicht eine rechtliche Gleichstellung bedeutete. In Irland fällt diese Unterscheidung zwischen Ehe und eingetragener Partnerschaft nunmehr weg. Richtig kontrovers ging es im Vorfeld des Volksentscheids nicht zu, im Gegenteil: Alle politischen Parteien hatten dafür geworben, allen voran die Regierung des konservativen Premierministers Enda Kenny. Als einzige Institution von Belang hatte sich die katholische Kirche Irlands gegen die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare eingesetzt.

Ist es nicht seltsam, dass ausgerechnet ein Land wie Irland, von dem man bis vor Kurzem sagte, es sei katholischer als der Vatikan, plötzlich homosexuellen Paaren per Volksentscheid die völlig gleichberechtigte Eheschließung ermöglicht? Was ist passiert? Ist die grüne Insel tatsächlich Ausgangspunkt einer „kulturellen Revolution“? Beobachten wir gerade die Befreiung der Iren von staatlicher wie religiöser Bevormundung und die tatsächliche Emanzipation gleichgeschlechtlicher Lebensentwürfe? Und schwappt diese Befreiungswelle nun auch nach Deutschland herüber? Oder erleben wir hier eine Entwicklung, die mit der besonderen Situation in Irland zu erklären ist?

Ja, es muss verwundern, dass sich ausgerechnet das konservative Irland an die Spitze dieser Gleichstellungsbewegung setzt. Noch in den 1990er-Jahren galt Homosexualität dort als Verbrechen, und Schwule riskierten Verurteilungen und Haftstrafen – von der gesellschaftlichen Ausgrenzung, die immer wieder auch in Gewalt umschlug, ganz zu schweigen. Homophobie war kein Sonderfall, sondern sie war Teil eines zutiefst religiös-konservativen Weltbildes: Auch Empfängnisverhütung, Scheidungen und Abtreibungen waren auf der grünen Insel länger verboten als in allen anderen Staaten Westeuropas. Politische, religiöse wie auch gesellschaftlich gelebte Toleranz und Offenheit gegenüber von der (katholisch geprägten) Norm abweichenden Lebensweisen waren nicht unbedingt typisch irische Wesenszüge. Bis vor Kurzem sprach wenig dafür, dass ausgerechnet in diesen ethisch-moralisch schwerwiegenden Fragen ein Befreiungsdenken die irische Gesellschaft im Sturm erobern und diese alle Fesseln von sich werfen würde. Wie also konnte es dennoch zu diesem Wahlergebnis kommen?

Europäisches Wertbeben
Erklärbar ist diese Entwicklung, wenn man die Möglichkeit in Betracht zieht, dass das Votum der Iren gar nicht unbedingt etwas mit einer flächendeckenden und plötzlich aufflammenden Sympathie für die gleichgeschlechtliche Liebe und private Freiheit zu tun hat. Was aber könnte diesen Wandel ansonsten ausgelöst haben? Vergegenwärtigt man sich die Entwicklung der irischen Gesellschaft und der Politik in den letzten Jahren, so stößt man unweigerlich auf sehr starke Erschütterungen, die fraglos Spuren hinterlassen haben müssen. Da ist zum einen die tiefgreifende Wirtschaftskrise, die einsetzte, nachdem Irland Ende der 1990er-Jahre, ganz entgegen seiner Vergangenheit, plötzlich mit Wachstumsraten von fast 10 Prozent zu einem ökonomischen Vorzeigestaat aufgestiegen und als „keltischer Tigerstaat“ zu einem europäischen Erfolgsmodell stilisiert worden war. Doch fast über Nacht war es vorbei mit der Herrlichkeit: In 2008 schrumpfte die irische Wirtschaft um satte 14 Prozent, und das aufgeblähte Bankensystem des Landes musste vor dem Untergang gerettet werden – eine Aufgabe, die der Staat alleine nicht stemmen konnte.

2010 kroch die irische Republik als erstes Euro-Land unter den Brüsseler Rettungsschirm und erhielt Notkredite in Höhe von rund 67 Milliarden Euro. Immerhin: 2013 konnte Irland als erstes Land den Rettungsschirm wieder verlassen. Was neben dem wirtschaftlichen Schaden blieb, war aber die Erfahrung des Beinahe-Zusammenbruchs gewissermaßen aus heiterem Himmel. Diese Ernüchterung und das Misstrauen gegenüber der Politik, die für die Krise verantwortlich gemacht wurde, wurden noch durch eine Reihe von Korruptionsskandalen verstärkt. Politische Erdrutsche waren die Folge: Das konservative Establishment, das bis dahin von zwei Parteien dominiert worden war, wurde gewaltig durchgeschüttelt, und Parteien wie die linke Sinn Fein, aber auch Grüne oder Liberale gewannen plötzlich an politischem Einfluss.

Als weiteres sozial-moralisches Beben trugen die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche Irlands zu den grundlegenden Umwälzungen bei. Diese sich über mehrere Jahre hinziehenden Ermittlungen und Enthüllungen haben der Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in Irland weitgehend zerstört. Seitdem in aller Öffentlichkeit bekannt wurde, dass Tausende Kinder über Jahrzehnte von Hunderten von Priestern missbraucht worden waren, hat die katholische Kirche in Irland ihre Rolle als Bastion des glaubwürdigen Konservatismus eingebüßt. Dies erklärt auch, warum sogar die ehemaligen Verbündeten aus den konservativen Parteien dazu bereit waren, sich von den Positionen der Kirche zur Homo-Ehe abzusetzen.

Mit einem dynamischen Aufbruch einer von den einfachen Menschen ausgehenden Freiheitsbewegung haben die Ereignisse in Irland also eher wenig zu tun. Was sich in der Entscheidung der Iren für die Einführung der Homo-Ehe abzeichnet, ist vielmehr die Implosion konservativ-religiöser Institutionen samt ihrer Wertvorstellungen. Dieser durch das irische Werte-Beben ausgelöste politisch-moralische Tsunami legte das Thema Homosexualität und Ehe frei und machte es zum Katalysator der politischen Erneuerung des irischen Establishments. Wie sonst wäre es zu erklären, dass ausgerechnet die konservative Regierung sich an die Spitze dieser Bewegung setzte? Ganz offensichtlich bot sich das Thema an, um der Politik eine neue Brücke zu den Menschen zu bauen, die sich vorher großteils von ihr abgewendet hatten.

Homo-Ehe als Missionsersatz
Vor diesem Hintergrund ist es auch nicht verwunderlich, dass nach dem irischen Volksentscheid nun auch in Deutschland die Debatte wieder in Fahrt gewinnt. Dies aber nicht, weil es hierzulande eine überaus aktive und druckvolle homosexuelle Graswurzelbewegung gäbe, die in der Bevölkerung massiv und erfolgreich um Unterstützung kämpfen und somit politischen Druck aufbauen würde. Dies ist nicht der Fall. Auch von einem gesellschaftlichen Ehe-Boom oder einer spontanen Hinwendung zu Kirchen und staatlichen Institutionen kann nicht die Rede sein. Vielmehr zeigt sich, dass die Debatte innerhalb des Establishments losgetreten wurde, und hier insbesondere innerhalb der CDU. Diese hat zwar keine Implosion irischen Ausmaßes zu verkraften, ist aber dennoch mit einer schleichenden Unsicherheit über die künftige Ausrichtung der eigenen Politik und des eigenen Wertekanons angesichts von Umbrüchen im Parteiensystem und dem fortschreitenden Politikverdruss innerhalb der Bevölkerung konfrontiert. Mit diesen Veränderungsprozessen haben nicht nur irische und deutsche Politiker zu tun; sie sind in verschiedenen Abstufungen und spezifischen nationalen Einfärbungen in ganz Europa zu beobachten. Tatsächlich ist die gesamte westliche Welt von der Erfahrung der Wirtschaftskrise, dem Wertewandel und der schrumpfenden Popularität der Kirchen geprägt.

Aber warum sind es ausgerechnet die Anliegen von homosexuellen Paaren, denen es heute gelingt, durch alte und früher als undurchdringbar geltende Mauern des Widerstands hindurch- und in bislang hiervon weitgehend abgeschottete gesellschaftliche Kreise einzubrechen? Eine Erklärung ergibt sich, wenn man die Motive der sich früher so feindlich gegenüberstehenden Gruppen genauer unter die Lupe nimmt. Die meisten Kampagnen zur Einführung der gleichberechtigten Ehe für gleichgeschlechtliche Paare haben die Besonderheit, dass der Kampf für dieses tatsächliche „Recht“ in Wirklichkeit gar nicht ihr zentrales Anliegen ist: Den Verbänden geht es nicht allein um steuer- oder zivilrechtliche Angleichung von schwulen Paaren, sondern um gesellschaftliche, politische und letztlich auch kulturelle Anerkennung. Sie wollen als gleichgestellte und gleich anerkannte kulturelle Formen geachtet und gemocht werden. Der Rechtsweg ist hier letztlich nicht mehr als der Weg, um diese Anerkennung gesetzlich abzusichern und sie ggf. auch moralisch einklagen zu können.

Vom Kampf gegen Repression zum Wunsch nach Eingemeindung
Vergleicht man diese Geisteshaltung mit den Hochphasen der Homosexuellen-Bewegung in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren, so zeigen sich hier sehr grundlegende Veränderungen. Die damalige Bewegung, die in den New Yorker Stonewall-Unruhen des Sommers 1969 und in tagelangen gewalttätigen Konflikten zwischen Homosexuellen und der Polizei gipfelte, trachtete nicht nach moralischer Wertschätzung und Sympathiebekundungen durch die Mehrheitsgesellschaft oder die Politik. Stattdessen ging es ihr um Autonomie und um Freiheit, unabhängig davon, ob Regierungen und Mehrheiten dies nun gefiel oder nicht. Das Ziel war es, die staatliche Intervention und die Terrorisierung der Schwulenszene zu bekämpfen und so den Menschen ein öffentliches homosexuelles Leben zu ermöglichen.

Heute haben sich die Ziele der schwul-lesbische Bewegung grundlegend verändert, ja in mancher Hinsicht sogar fast ins Gegenteil verkehrt. Nachdem man die Phase der öffentlichen und gewaltsamen Verfolgung durch den Staat großteils überwunden hat, scheint es nun darum zu gehen, staatliche Anerkennung und Wertschätzung zu erlangen – fast so, als bemühe man sich um ein obrigkeitliches Gütesiegel, das das eigene Ankommen in der Mitte der Gesellschaft rechtlich bestätigt und sanktioniert. Verfolgte die radikale Schwulenbewegung in der Vergangenheit das Ziel, dem Staat den oftmals gewaltsamen und unmenschlichen Zugriff in die eigenen Angelegenheiten und Lebensentwürfe zu verwehren und ihn somit fundamental herauszufordern, so fordern schwul-lesbische Aktivisten heute den Staat auf, dafür zu sorgen, dass das eigene Selbstbewusstsein gestärkt und die Legitimität der eigenen intimen Beziehungen mit Brief und Siegel festgeschrieben werden.

Die damaligen Aktivisten von Stonewall brauchten keine Formulare, um sich ihres Selbstbewusstseins zu vergewissern, im Gegenteil: Sie wehrten sich gegen die staatliche Regulierung und Sanktionierung von privaten Beziehungen und Lebenslagen und zogen daraus ihre Stärke und Unabhängigkeit. Heute fühlen sich schwul-lesbische Aktivisten „befreit“, wenn Konservative sich aus purem Eigeninteresse dafür einsetzen, homosexuelle Partnerschaften der bürgerlichen Familie rechtlich gleichzustellen. Aber worin sollte das Interesse von Konservativen an der „moralischen Eingemeindung“ von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften bestehen? Die Antwort ist relativ naheliegend: Homosexualität ist mittlerweile so weit akzeptiert, dass sie kaum noch rebellisches Potenzial besitzt – und wenn doch, dann ist es nicht die Rebellion des Ausbruchs, sondern das Ringen um Aufnahme in die Normalität!

Neue Freunde braucht der Staat
Überall in der Gesellschaft kann heute die Auflösung von gesellschaftlichen Institutionen, gemeinsamen Wertvorstellungen und den darauf aufbauenden Loyalitäten beobachtet werden. Diese Entwicklung wird insbesondere von den gesellschaftlichen und politischen Eliten sorgenvoll zur Kenntnis genommen. Angesichts dessen ist nahezu jeder willkommen, der um staatliche Anerkennung bittet. Ähnlich der Gender-Politik, die sich darauf kapriziert, staatliche Regulierungspolitik zum eigenen Vorteil zu prägen oder gar zu initiieren, wendet sich auch die schwul-lesbische Bewegung an den Staat und buhlt um seine Absolution. In Zeiten, in denen derartige Bewegungen aus der Mitte der Gesellschaft heraus selten und eher Absetz- und Protestbewegungen die Regel sind, nutzt man nahezu jede Gelegenheit, um sich in positiver und als „progressiv“ geltender Art und Weise mit „der Zivilgesellschaft“ zu vernetzen. Das Thema Homo-Ehe ist ein solcher Anlass: Es kostet die Politik nicht viel, um hier progressiv zu erscheinen; es muss kein großer Missstand behoben werden, um dieser Gruppe öffentlichkeitswirksam die Anerkennung zu verschaffen, die sie sich vom Staat verspricht. Gelingt es, können daraus ein ganz neues Selbstbewusstsein sowie ganz neue Formen der Politik entstehen.

Dass solche neuen Politikformen nicht unbedingt freiheitsfördernd sind, kann man heute schon beobachten: Denn einmal unter den staatlichen Anerkennungsschirm geschlüpft, setzt sich die Maschinerie der Antidiskriminierungspolitik in Gang, die unter dem Deckmantel von Anerkennung und Respekt jede Form der Kritik oder Abwertung des gesetzlich festgelegten Mainstreams unter Strafe stellt. Versucht man heute, offen mit Menschen über die plötzliche Popularität der Homo-Ehe zu diskutieren, kann man diese Furcht davor, etwas zu sagen, was evtl. als diskriminierend interpretiert werden könnte, förmlich riechen. Selbst Menschen, die aus eigenen Überzeugungen heraus die Gleichberechtigung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ablehnen, halten sich bedeckt und ziehen sich zurück. Mit dem Aufstieg der Homo-Ehe geht ein bedenklicher Verlust an gesamtgesellschaftlicher Kritik- und Konfliktfähigkeit und auch an Robustheit einher. Auch diese Entwicklung wird von gesellschaftlichen Entscheidungsträgern goutiert: Zu gerne treten sie als Schlichter, als Beschützer selbsternannter Opfergruppen oder aber als Regulierer und Kontrolleure einer Gesellschaft auf, die verlernt hat, Ungleichheiten auszuhalten und mit Unterschieden zu leben.

 

Der Artikel ist am 28. Mai 2015 auf der Website der BFT Bürgerzeitung und am 30. Mai 2015 auf der Website Achse des Guten erschienen.