„Live 8: Kirchentag der Popmusik“

Visionslosigkeit live in concert!

(Erschienen in Novo77, Juli/August 2005)

Bob Geldof mag keine Montage. Zumindest sang er dies in dem 1979 erschienenen Song „I don’t like Mondays“ seiner mäßig erfolgreichen Band, den „Boomtown Rats“. Wie sich der inzwischen geadelte Geldof am Montag nach „Live 8“ fühlte, wissen wir nicht. Wahrscheinlich zerzaust. Über eines können wir uns aber sicher sein: in Afrika war der Montag danach ein Tag wie jeder andere auch.

Schon im Vorfeld der weltumspannenden musikalischen Mammutveranstaltung, die unter dem Motto „Make Poverty History“ antrat, den Armen in der Dritten Welt zu helfen, mischten sich immer wieder auch kritische Stimmen unter den globalen Konsens der Begeisterten. Bei „Live 8“, so konnte man lesen, gehe es eher um das Füttern von Pop-Egos als um Hilfe für die Dritte Welt: „Wieder einmal“, schrieb der britische Kolumnist Peter Hitchens, „müssen die hungernden und terrorisierten Kinder Afrikas dafür herhalten, das sinkende Ansehen bedürftiger, abgehalfterter und langsam kahl werdender Rockstars aufzupolieren, die immer noch jenen Massen nachtrauern, die ihnen einst zujubelten“. (1) Starker Tobak. Der feuilletonistische „Live-8“-Verriss der F.A.Z. „Pop gegen das Elend“ stieß in das gleiche Horn: Mit seiner „Luftwaffe der Erlösung“ sei der ewig zottelige Gutmensch Geldof umher gesaust mit dem Ziel, die kranke und teilnahmslose Welt mit Musik zu heilen. (2) Ähnlich zynisch geriet in derselben Zeitung das Portrait der britischen Popgruppe „U2“ und ihres Sängers Bono, des „Messias mit dem Mikrophon“, dessen scheinbar einzige Daseinsberechtigung es sei, noch „vor dem Schlafengehen die Welt [zu] retten“.(3)

Für Zyniker war diese Veranstaltung selbstredend ein gefundenes Fressen. Dass Geldof, Midge Ure und Bono nicht alle Topstars als „hilfswürdig“ einstuften und die Live-8-Reunion der „Spice Girls“ mit der Begründung ablehnten, diese seien „zu unpolitisch“ und „einfach nicht richtig dafür“ (4), während ihnen die Wiederauferstehung der Zombierocker von „Pink Floyd“ sowie der Auftritt der ebenfalls nicht gerade als altruistisch und volksnah bekannten Mariah Carey offensichtlich als „richtig dafür“ erschien, machte die Sache natürlich nicht besser. Und auch die Tatsache, dass mit Youssou N’Dour nur ein einziger afrikanischer Künstler zum Weltretten eingeladen wurde und somit der Eindruck entstehen konnte, es sei eigentlich nur darum gegangen, dass Weiße gegen das weiße schlechte Gewissen anspielen, gab Anlass zum Stirnrunzeln. (5) Nicht zuletzt wurde süffisant bemerkt, dass sich die Führer der Weltpolitik bereits auf einen weitgehenden Schuldenerlass, dessen Durchsetzung das ursprüngliche Ziel des als „Protestveranstaltung“ bezeichneten Konzertmarathons war, geeinigt und somit Bob, Bono & Co., gewissermaßen in vorauseilendem Gehorsam, überrollt hatten.

Trotz alledem stellt sich die Frage: Macht man es sich mit einem derartig zynischen Anti-Gutmenschentum nicht ein bisschen zu leicht? Wäre hier nicht eine inhaltliche Kritik angemessen? Damon Albarn, der Kopf der Bands „Blur“ und „Gorillaz“, ging in seiner Kritik an „Live 8“ über bloßen Zynismus hinaus. Er verzichtete auf eine Teilnahme, da die Konzertreihe Afrika als „scheiterndes, krankes, erschöpftes Land“ darstelle und einen „Mitleidsrassismus“ fördere, der mehr kaputt mache als helfe – ein durchaus bedenkenswerter Einwand.

Was in der Öffentlichkeit nicht kritisiert wurde, war das eigentliche Motto der Veranstaltung – „Make Poverty History“ – und die dahinter stehenden Organisationen. Kein Wunder: Das Kampagnenziel entspricht exakt dem von den Vereinten Nationen festgelegten „Ersten Millenium-Entwicklungsziel“, die Anzahl der Menschen weltweit, die in „absoluter Armut“, d.h. von weniger als einem US-Dollar täglich leben müssen, bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Alle großen internationalen Entwicklungshilfeorganisationen haben sich diesem Ziel verschrieben.

Natürlich haben Zyniker Recht, wenn sie behaupten, mit Popmusik seien politische Ziele niemals zu erreichen. Noch zynischer erscheint es mir aber, einen derartigen Zustand – die eine Hälfte der heute in absoluter Armut lebenden Menschen auch über das Jahr 2015 hinaus in eben dieser weiterleben zu lassen und die andere Hälfte mit einem US-Dollar täglich auszustatten – überhaupt als ambitioniertes „Entwicklungsziel“ der Weltorganisation zu formulieren. Dieses „Ziel“ hat mit der Abschaffung von Armut nichts zu tun. Selbst diejenigen Menschen, die dann von 30 US-Dollar (weniger als 25 Euro) im Monat leben „dürften“, wären für uns unvorstellbar arm. Zum Vergleich: Nach EU-Definition liegt die Armutsgrenze bei 60 Prozent des monatlichen Nettoäquivalenzeinkommens. Entsprechend lag sie im Jahr 2002 für einen allein lebenden Menschen in Westdeutschland bei 730,20 Euro, in Ostdeutschland bei 604,80 Euro.(6) Wenn wir ein derartiges Einkommen als – zu Recht – für völlig inakzeptabel halten, warum sollten wir das so genannte „Millenium-Entwicklungsziel“ der Weltorganisation ernst nehmen?

Der Slogan „Make Poverty History“ mag für die einen trendy und radikal, für die anderen wie ein Schritt in die richtige Richtung klingen; letztlich verbirgt sich hinter ihm nichts weiter als die Anpassung an das vorherrschende Schneckentempo, mit dem sich die „nachhaltige“ Entwicklung heute dahinschleppt. Wer solchen „Visionen“ nacheifert, braucht eine fortgesetzte globale Stagnation nicht zu fürchten, hat aber auch keinen ernsthaften Grund, Aktionen wie „Live 8“ als ineffizient zu geißeln. Wenn wir nicht nur „absolute Armut“, sondern auch die wirtschaftliche Abhängigkeit der Dritten Welt in die Geschichtsbücher verbannen wollen, müssen wohl zunächst die niedrigen Erwartungen und die Kleingeistigkeit von Politikern und Entwicklungshelfern überwunden werden.

Anmerkungen

  • Peter Hitchens: „Can the starving children of Africa save our has-been pop stars yet again?“, Mail on Sunday, 5.6.05.
  • Klaus Ungerer: „Pop gegen das Elend”, FAZ, 9.6.05.
  • Andreas Obst: „Eben mal die Welt retten”, FAZ, 14.6.05.
  • „Spice Girls zu unpolitisch für ‘Live 8’”, Spiegel Online, 31.5.05.
  • Adrien Giendre: „Weiße Musik für Afrika“, Tagesspiegel, 10.6.05.
  • Peter Wahl: „Die Grenzen sind klar“, taz, 15.1.05.