Zeit fürs Sandmännchen


Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht von „Bewährungsjahren“ für die Demokratie. Hoffnungen, dass nun alles besser wird, sollte man trotzdem nicht hegen. Denn Angst vor der Kontroverse hat in Deutschland Tradition.

„Jetzt geht’s los!“ Dieser aufmunternde Satz, halb gerufen, halb gesungen, war früher dann zu hören, wenn sich nach Zeiten des Stillstands ein Aufbruch ankündigte, an den sich freudige Hoffnungen auf Veränderung, wenn nicht sogar Verbesserung knüpften. Genau dieser Sinnzusammenhang ist der Grund dafür, warum eben dieser Ruf angesichts des Arbeitsbeginns der neuen Bundesregierung nirgendwo zu hören ist. Zu widerwillig und noch dazu wider den Wählerwillen hatte man sich zum Regieren zusammengerauft, hatte so lange sondiert und alle erdenkbaren inhaltlichen Unebenheiten weggehobelt, als dass man am Ende noch die Kraft hätte haben können, glaubwürdig Zuversicht und Tatendrang auszustrahlen. Höchstwahrscheinlich wird dies die gefühlt längste Regierungsetappe von Angela Merkel.

Bewährung, Bewahrung oder Bewegung?

Bei seiner kurzen Rede zur Ernennung des neuen Kabinetts redete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier der Kanzlerin und ihrer Ministerriege ins Gewissen, sprach von „Bewährungsjahren“ für die Demokratie und davon, dass ein „Neuaufguss“ der letzten Legislaturperiode nicht ausreichen werde. Die gewohnt kryptische Eintönigkeit seines Vortrags ließ Tiefgang vermuten, aber was genau meinte er mit „Bewährung“? Werde sich die Demokratie künftig gegenüber ihren Feinden zu bewähren und vor dem endgültigen Untergang zu bewahren haben, oder ist das Urteil über sie bereits gefällt, nur aber zur „Bewährung“ ausgesetzt?

Wie man Steinmeier auch immer verstehen mag: Das Signal, das die Wähler in der letzten Bundestagswahl aussandten, ließ wenig Interpretationsspielraum zu. Sie wollten zwar keine abrupte politische Kehrtwende erzwingen und hatten deswegen die jetzige Regierungskonstellation nicht ihrer rechnerischen Mehrheit beraubt. Aber dennoch war klar, dass „Weiter so“ nicht auf der Agenda steht und damit auch in Deutschland, wenngleich ein wenig schüchtern, aber dennoch gut hörbar das Ende der Ära der Alternativlosigkeit eingeläutet worden sei. Wie sich dieses Ende auch anfühlen kann, hatten zuvor bereits die Briten, die US-Amerikaner, die Niederländer, die Franzosen und auch die Italiener ihren eigenen Eliten vorgeführt. Im Vergleich dazu waren die Deutschen noch sehr zurückhaltend. Dennoch war der Auftrag eindeutig: Es geht nicht um Bewahrung, sondern um Bewegung! Denkt über neue Konstellationen nach! Brecht aus aus der parteipolitischen Erstarrung!

 Die Politik ertränkt sich im Konsens

Tatsächlich gab es seit der Bundestagswahl die wirklich gute Gelegenheit, „neu und anders“ zu arbeiten, wie Steinmeier es formuliert hatte. Die erschöpften Herrschenden wurden an die Debattiertische gezwungen, sie mussten miteinander reden und über neue Modelle und Konstellationen nachdenken – hoffte man. Gelegenheiten zur Erneuerung gab es, jedoch niemanden, der sie ernsthaft ergreifen wollte. Man setzte sich zwar an die Verhandlungstische – aber nicht mit dem Ziel, Politik neu mit Leben zu füllen. Anstatt die aus dem hysterischen deutschen Konsenszwang resultierende Lethargie aufzubrechen und dem Wählerwunsch nach weniger Altem Rechnung zu tragen, lautete die neue Zielsetzung: noch mehr vom Alten! Eine intensivierte Konsenssuche war die Folge und prägte die letzten Monate. Und jeder, der sich diesem Konsensstreben entzog, wurde zum Vaterlandsverräter erklärt. Da ist es an Zynismus kaum zu überbieten, wenn Steinmeier, nachdem die angeblich so quälende „Unklarheit“ der Gewissheit gewichen ist, dass es so weitergeht wie bisher, den neuen Entscheidungsträgern nun den Rat gibt, „neu und anders“ zu arbeiten.

Die empfundene Pflicht zu Konsens und Kompromiss ist in der deutschen politischen Kultur tief verankert. Sie gilt als Naturgesetz sowie als zentrale Lehre aus der eigenen Geschichte. Deren Tragik, so die offizielle Lesart, lag nicht in der brutalen Zerstörung von Freiheit und Demokratie, sondern im Gegenteil im feige und zu lange geduldeten selbstzerstörerischen Übermaß an Freiheit und Demokratie, weshalb beides auf jeden Fall und zu jeder Zeit eng zu begrenzen und die politische Macht der aufgeklärten und geläuterten politischen Klasse zu überantworten sei. Anders formuliert: Wann immer die Menschen, ob verkleidet als Wähler oder Nichtwähler, ihrem Unmut zu stark hörbar Ausdruck verleihen, greift der deutsche Krisenmechanismus und katapultiert den Leitsatz „Wehret den Anfängen“ zurück ins Zentrum des Nationalbewusstseins. Sobald der Ausnahmezustand offiziell ausgerufen ist, gilt dann die Verhinderung des Untergangs als zentrale Daseinsberechtigung. Und dieser Untergang steht in der obrigkeitlichen Sicht auf die Welt sogar bereits dann unmittelbar bevor, wenn es so scheint, als könne keine sofort jede Debatte im Keim erstickende Regierungsmehrheit gefunden werden.

Diskursphobie statt Demokratie

Das ist der Kern der deutschen Angst- und Panikkultur: Kontroverse, Debatte und Instabilität werden betrachtet wie fahrlässig offenstehende Einfallstore für Chaos, Hass und Krieg. Das Verrammeln dieser Schlupflöcher für unliebsames politisches Denken wird in Deutschland häufig damit begründet, man wolle „Schlimmeres verhindern“. Dabei ist genau dies „das Schlimmere“! Es ging nach der Bundestagswahl nicht darum, wie die Nation sich gegen übermächtige militärische Bedrohungen von außen zu Wehr setzen solle, es ging lediglich um unzufriedene Bürger mit Rede-, Klärungs- und Reformbedarf. Das Land hätte sich nur trauen müssen, mit sich selbst zu debattieren, und zwar nicht in Form geheimer und unterhalb jedes offiziellen Radars fliegender „Sondierungen“ mit dem Ziel der Konsensfindung, sondern als öffentliche Erörterung der politischen Unterschiede und Unvereinbarkeiten verschiedener Standpunkte. Doch das neopaternalistische Herrschaftsverständnis der heutigen Politikergeneration lässt dies nicht zu: Miteinander diskutieren zu wollen würde ja bedeuten, einander ernstnehmen und sich auf die Kraft des eigenen Arguments verlassen zu müssen.

Eine Minderheitsregierung wäre von allen schlechten Optionen, wie das real existierende Politikangebot aufgestellt werden kann, noch die Interessanteste gewesen. Nicht wegen der so an die Regierung kommenden Parteien, sondern aufgrund der allen Parteien auferlegten Notwendigkeit, für die eigenen Standpunkte fortwährend um Mehrheiten zu kämpfen – und nicht nur im Rahmen von Koalitionsverhandlungen vor der eigentlichen Regierungsarbeit. Dies hätte frischen Wind ins stickige politische Berlin befördert und die Politik einem öffentlich sichtbaren Fitnesstest in Sachen Argumentation und Kommunikation unterzogen. Dass man sich dieser Überprüfung angesichts des bedenklichen Diskussionsniveaus lieber nicht stellen mochte, ist davor nachvollziehbar – und untermauert einmal mehr die Notwendigkeit der inhaltlichen Erneuerung. Die ängstlichen Chancenverweigerer haben diesen Offenbarungseid noch einmal abwenden können: Sie tun tatsächlich alles, um jeden Impuls der Erneuerung als gefährlichen Rückschritt zu diffamieren – was natürlich Ewiggestrigen einen politischen Schutzschirm bietet.

Zeit zum Aufstehen

Deutschland hat das politische Fenster wieder fest verschlossen, zieht die Rollläden herunter und gaukelt den Menschen vor, es sei alles wieder in Ordnung und überdies Zeit, ins Bett zu gehen. Während sich in der gesamten westlichen Welt die politische Eiszeit in mehr oder minder heftigen Schüben und Eisbrüchen ihrem Ende nähert, zelebriert die Führung in Berlin die Fortsetzung des politischen Winters, erfreut sich am neu aufgegossenen Tee und streut den Untertanen Schlafsand in die Augen. Angesichts des Wahlergebnisses mag man sich verwundert eben diese Augen reiben. Aber die Ereignisse der letzten Monate haben gezeigt: Der verhaltene und absichtlich ungenaue Schuss vor den Bug hat seine Wirkung verfehlt. Die Sprache muss klarer werden, und damit auch die eigene inhaltliche Orientierung. Inartikuliertes Rumoren, destruktive Wut und antiintellektueller Krawall gleich welcher politischer Ausrichtung reichen nicht aus, um wirklich Veränderungen zu erreichen. Wer darauf setzt, liefert den politischen Entscheidungsträgern lediglich akzeptable Gründe, um die eigene Abschottung gegenüber den Menschen als Rettung der Zivilisation vermitteln zu können.

Und noch eines wurde in den vergangenen Monaten deutlich: Demokratische Erneuerung kann nicht von oben kommen. Sie kann nur als Produkt eines Stimmungs- und Denkwechsels an der Basis entstehen – außerhalb alter Strukturen. In Berlin endet mit dem Auftakt der vierten Amtszeit Angela Merkels die Zeit der offenen Debatte – im Rest der Republik sollte sie nun erst recht beginnen. Es ist Zeit zum Aufstehen.

Dieser Artikel ist am 18. März 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.