Politiker haben Nachwuchsprobleme. Einzig eifrige Parteifunktionäre schaffen noch den Aufstieg. Kluge Köpfe gehen längst andere Wege. Diese Abkehr vom Ideologischen und die Konzentration aufs Private sind fatal.
Die politische Lähmung der Republik lässt den – flehenden oder wütenden – Ruf nach einem Generationenwechsel in der Politik lauter werden. Gerade jetzt, da mangels williger Konkurrenten in ausreichender Menge nun also die ehemals „Große“ Koalition sich anschickt, sich erneut gegen den Willen der Wähler zusammenzuraufen, ist dieser Wunsch nachvollziehbar. Es ist vor allen Dingen die Diskrepanz zwischen den grundlegenden Veränderungen in vielen Ländern der westlichen Welt einerseits und der weiterhin tiefgefrorenen politischen Landschaft des Berliner Regierungsviertels andererseits, die ein Weiter-so für viele Menschen zu einer surrealen, zumindest aber nicht eben zukunftsweisenden Vorstellung machen. Woher aber soll die Zukunftsorientierung kommen? Es erscheint logisch, in solch einer Situation alle Hoffnungen auf den politischen Nachwuchs zu setzen. Doch ist diese Hoffnung berechtigt?
Die klugen Köpfe fliehen
Der Nachwuchs in den Parteien, auf den sich die schütteren Aussichten auf Besserung konzentrieren, ist ein Erzeugnis genau der Politik, deren gähnende inhaltliche Leere Grundlage der heutigen Stagnation ist. Es gibt kaum mehr „Straßenpolitiker“, die aus dem echten Leben und aus dem festen Glauben an ferne und hochhängende Zukunftsvisionen heraus in die Politik quereinsteigen. Dazu ist diese Welt mittlerweile viel zu hermetisch abgeriegelt. Ihre Akademisierung und Professionalisierung stellt sicher, dass visionäre und unangepasste Himmelsstürmer zwangsweise begradigt beziehungsweise gebrochen werden. In den Zeiten des alternativlosen Gesellschaftsmanagements bestand kein Bedarf an visionären und querköpfigen Veränderungswütigen; gebraucht wurden elastische und rückgratlose Verwalter, für die die Wähler und deren Kratzbürstigkeit eher Störfaktoren sind als Antrieb und Legitimation des eigenen Handelns.
Wer heute tatsächlich durch das parteiübergreifende System der geistig-moralischen Nivellierung nach oben kommt, hat sich Eigenschaften antrainiert, die weder zum Neu- und Selbstdenken prädestinieren, noch auf eine besonders starke Verwurzelung in der Alltags- und Arbeitswelt der Menschen, noch auf ein Interesse an beidem schließen lassen. Querköpfe und ideengetriebene Gestalter bevorzugen den Karriereweg weg vom gesellschaftspolitischen Engagement in Parteien und hinein in die Privatwirtschaft und das eigene Unternehmen. Nicht zuletzt ist diese Berufsoption auch finanziell viel lukrativer.
Zum Vergleich: Für das Monatsgehalt der deutschen Bundeskanzlerin von knapp 19.000 Euro bindet sich ein mittelmäßig talentierter Fußballer ohne Schulabschluss höchstens noch in der zweiten Bundesliga die Schuhe selbst zu. Warum also sollte ein passabel erfolgreicher Rechtsanwalt in den Bundestag wechseln? Geld kann kein Grund sein, der ernsthafte Glaube an Gestaltungsmöglichkeiten auch nicht. Eine größere Rolle spielen hier wohl Parteigehorsam oder aber persönliche Eitelkeit. Wer heute tatsächlich geldgierig ist, gestaltungswillig und zudem noch einigermaßen realistisch denkt und intelligent ist, der schlägt den Karriereumweg über die Politik gar nicht erst ein. Die klügsten Köpfe halten sich von der professionellen Politik fern, und sie werden ferngehalten. Auf denjenigen, die dennoch in die Politik gehen, soll nun die Hoffnung auf Erneuerung beruhen? Ernsthaft?
Politik ohne Visionen ist nur triste Verwaltung
Es ist aber nicht nur die weitgehend unattraktive „Job-Beschreibung“, die fehlenden Lukrativität und das geringe Ansehen des Politikers, die viele Menschen von der Sphäre der Politik fernhalten. Die Ursache für die abgesunkene Attraktivität der politischen Sphäre ist die rasant fortschreitende Verengung des Horizonts des politisch Denkbaren. Die packenden Debatten über unterschiedliche Zukunftsvisionen und die dazugehörigen Ideologien, Weltanschauungen und Wertvorstellungen, die die Menschen in ihren Bann zogen und auch mobilisierten, sind lange vorbei. Das Zeitalter der großen Ideologien, in denen es nicht nur um individuelle Ziele und Vorteile ging, sondern in denen Politik als etwas Größeres und die individuelle Ebene Transzendierendes lebendig war, ist Geschichte. Heute gilt Politik als weitgehend wirkungslos, sinnlos und veränderungsunfähig. Entsprechend gering ist die Anziehungskraft der Politik auf gestalterische Menschen und somit auch auf die ambitionierten und klugen Köpfe.
Der Gestaltungsrahmen der Politik hat sich im Zuge des Niedergangs großer Visionen und Ideen auf Bereiche verschoben, die scheinbar stärker am Leben der Menschen ausgerichtet, weniger abstrakt und somit „näher dran“ sind. Ging es in der Vergangenheit stärker um die Festlegung grober Richtlinien, dominiert heute die möglichst totale Risikovermeidung und das gesellschaftliche Mikromanagement bis hinunter in die früher tatsächlich private Privatsphäre. Paradoxerweise wurde dieser Trend gerade auch durch die „Revolutionäre von 1968“ befördert. Ihr Slogan „Das Private ist politisch“ sollte der schon damals als abgehoben, abstrakt und menschenfeindlich geltenden „großen Politik“ konkretere, menschenfreundlichere und natürlichere Alternativentwürfe entgegensetzen. Diese „Privatisierung des Politischen“ ist heute in unheilvoller und zutiefst autoritärer und freiheitsfeindlicher Vehemenz Wirklichkeit geworden: Die Regulierung menschlichen Handelns, Lebens, Konsumierens bis hin zum Denken und Sprechen des Einzelnen dominiert heute den Bereich, in dem man einst in offener Debatte um die besten Zukunftsvisionen für die Welt rang.
Das Private ist unpolitisch
Es ist auffällig, dass sich viele Menschen in der heutigen politischen Tristesse an das politische Personal der Vergangenheit erinnern. Viele wünschen sich Charakterköpfe wie Brandt, Geissler, Genscher, Schmidt, Strauß und sogar Kohl und Joschka Fischer zurück und beklagen die Gesichtslosigkeit moderner Politik. Warum es heute solche Politiker nicht mehr gibt, wird jedoch nur selten diskutiert – möglicherweise, weil die Antwort unbequem ist. Das Aussterben der politischen Charakterköpfe ist nämlich die logische Folge der Abkehr von den großen politischen Ideologien. Diese Betonung des Persönlichen umschreibt letztlich nur die inhaltliche Entleerung des Politischen.
Typen wie die Genannten würden sich heute weder in den Apparaten entstehen noch sich durchsetzen könnten. Die Logik ist einfach: Ohne profilierte Politik können sich keine scharfen politischen Profile entwickeln. Es war ein fataler Trugschluss zu glauben, durch die Fokussierung auf die Persönlichkeit von Politikern das Fehlen von politischen Inhalten und Ideologien kompensieren zu können. Der Mangel an profilierten Köpfen zeigt vielmehr: Politik ist viel mehr als nur das Persönliche und Private. Oder noch deutlicher formuliert: Das Private war nie politisch, es ist sogar zutiefst unpolitisch. Die teilweise bewusst vollzogene Abkehr der Menschen von der Politik hat diese erst wirklich so unerträglich gemacht, wie sie heute ist. Es mag paradox klingen: Aber die angebliche „Personalisierung“ hat Politik gerade nicht persönlicher und menschlicher, sondern zum Spielfeld von misanthropischen Gestaltungsverweigerern und freiheitsfeindlichen Zukunftspessimisten gemacht.
Abstraktes politisches Denken lohnt sich!
Vor diesem Hintergrund sollte man nicht allzu große Hoffnungen darauf setzen, dass junge Politiker automatisch für frischen Wind sorgen. Sie können zwar alte Zöpfe abschneiden und glaubhaft alte politische Rituale und auch Wahrheiten infrage stellen. Der junge österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz oder auch der französische Präsident Emmanuel Macron sind Beispiele hierfür. Aber das (berechtigte) Einreißen alter baufälliger Mauern reicht nicht aus, um neue und moderne Gebäude zu errichten, wie US-Präsident Donald Trump tagtäglich unter Beweis stellt. Dazu braucht es neue und moderne Ideen und den Glauben daran, dass positive Veränderung möglich ist. Dieses Denken kann nur in der kontroversen Auseinandersetzung mit politischen Gegnern und in einer Sphäre politischer Freiheit gedeihen. Und in dieser Hinsicht sind weder Kurz noch Macron bisher positiv auffällig geworden. Nicht das Alter der Köpfe ist wichtig – entscheidend ist das Alter ihres Denkens. Und hier braucht die westliche Welt eine deutliche Verjüngungskur – und zwar über alle Generationen und Parteien hinweg.
Gerade die jungen Generationen müssen dazu aus ihrer häufig antipolitischen Komfortzone hinaustreten und sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass es für positive Veränderungen und für politische wie persönliche Freiheiten weder eine App noch einen Lieferservice gibt. Freiheit und Erneuerung müssen erstritten und erbeutet werden. Dies von dem politischen Nachwuchs zu erwarten, der dazu erzogen wurde, eben dies zu verhindern, ist unrealistisch. Demokratisierung von oben funktioniert auf Dauer genauso wenig wie deren Unterdrückung – das hat nicht zuletzt die friedliche Revolution von 1989 gezeigt. Es braucht Leute, die anders und selbst denken, die bereit sind, für ihre Überzeugungen etwas zu riskieren, und für die Politik mehr ist als das Verwirklichen konkreter privater Träume. Politik muss wieder abstrakt werden und die Ebene des Persönlichen verlassen. Wenn sich Politik wieder um große Ideen und ferne Visionen dreht, dann kann sie auch wieder ein positives Verhältnis zu Ideen, zur Debatte und zur Freiheit entwickeln.
Dieser Artikel erschien am 5. Januar 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online.