Wir müssen uns entcoronalisieren!

Durchfahrt, Verboten, Stop, Baustelle

17.05.2020 – Eine Nebenwirkung der Corona-Pandemie ist die Hysterie, die die Gesellschaft befallen hat. Angst und Misstrauen waren zwar schon vorher verbreitet. Doch die „Coronalisierung“ fast aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hat diese Stimmung zum moralischen Imperativ verfestigt.

Stellen Sie sich vor, es herrschte Freiheit, und kaum einer nutzt sie. Die Geschäfte wären auf, doch kaum einer kauft ein. Man könnte sich frei bewegen, doch die Leute bleiben daheim, weil sie sich beharrlich fragen, was erlaubt ist und was nicht. Ein bisschen fühlt sich unsere Gesellschaft an, als würde sie den Lockerungen nicht trauen.

Nur sehr zaghaft erobern die Menschen die Straßen und Plätze zurück, und auch nur auf Abstand, mit angezogener Handbremse und hochgezogenem Mundschutz, auch dort, wo es überhaupt keinen Sinn macht. Es ist, als habe sich ein grauer Schleier über die Selbstverständlichkeit gelegt, mit der man früher die normalsten Dinge erledigte. Obwohl mittlerweile teilweise gelüftet, so hat sich der Schleier dennoch verhakt – in unserem Denken.

Obrigkeitsdenken als Staatsräson

Die Corona-Verordnungskultur hat das Denken der Menschen verändert. Bei nahezu allem, was wir tun, ist der Reflex spürbar, erst zu überprüfen, ob man das so machen kann oder ob es verboten ist. Das Zögern im Umgang mit der einst für selbstverständlich angenommenen Freiheit im Alltagshandeln ist allgegenwärtig.

Während wir früher einfach davon ausgingen, dass wir frei entscheiden und handeln können, so bekamen wir in den letzten Wochen beigebracht, bei allem und jedem vorsichtig zu sein und sicherzustellen, jede Art von Übertretung und Risiko zu vermeiden. Das unbeschwerte Denken in der freien Gesellschaft wurde innerhalb weniger Tage durch eine Obrigkeitsorientierung ersetzt, die für die moderne Gesellschaft nicht nur ungewohnt, sondern ihr zutiefst fremd ist.

Verordnete Teilnahmslosigkeit

Dieser abrupte Klimawechsel hat direkte Auswirkungen auf unser Selbstverständnis als Individuen. Wie gelähmt konnten wir beobachten, wie in Windeseile das gesellschaftliche Leben heruntergefahren wurde. Und nicht nur das: Es wurde auch unserem Zugriff entzogen.

Die verordnete Teilnahmslosigkeit kam einem Teilnahmeverbot gleich – ein in demokratischen Gesellschaften so noch nie dagewesener Zustand. Die „empfohlene“ Passivität schien zugleich dem Staat eine absurde Allmacht einzuräumen. Der verständliche Impuls, Klarheit darüber zu gewinnen, was erlaubt ist und was nicht, ging bei manchen soweit, dass sogar Grauzonen im Alltag, die man früher selbstverständlich im Unklaren beließ, in obrigkeitlicher Manier ausgeleuchtet wurden.

Der Blockwart im Lockdown

Seit dem Lockdown war es fast zu einer Art Breitensport geworden, sich in hobbypolizeilicher Vehemenz mit Grenzfragen des normalen Lebens auseinanderzusetzen, an die normalerweise kein Gedanken verschwendet wird. Darf man sich mit Nachbarn über den Zaun unterhalten? Ist der Einkauf von Nebensächlichkeiten ein legitimer Grund für das Verlassen der Wohnung?

Unterscheidet die Kontaktsperre zwischen Ehepaaren und Unverheirateten? Befördert wurde diese Regelobsession durch die Planlosigkeit mancher Behörden, die selbst nicht genau wussten, wie die Verordnungen umzusetzen waren. Dass dennoch in der Praxis so gut wie niemand am Einkaufen oder am Treffen mit dem nichtehelichen Partner gehindert wurde, trug kaum zur Beruhigung bei, denn immer hatte irgendjemand von irgendjemandem gehört, der einen kannte, dessen Schwager genau dies passiert sei.

Die Renaissance des Blockwarts

Die Suche nach Klarheit und Eindeutigkeit konnte das Gefühl der Ohnmacht naturgemäß nicht ausgleichen, im Gegenteil: Der unerfüllte Wunsch, selbst wieder Kontrolle über das eigene Leben zu erlangen, entwickelte sich zu einem Streben nach Kontrolle anderer.

Die Renaissance des Blockwarts war nahezu überall zu spüren: sei es in der penibel auf eineinhalb Meter getakteten Warteschlange vor dem Supermarkt, gegenüber dem hüstelnden Sitznachbarn im Bus oder beim besorgten Nachbarn, der sich plötzlich dafür interessierte, wer eigentlich nebenan zur „Kernfamilie“ gehöre und besuchsberechtigt sei.

Rückkkehr aus dem Sozial-Koma 

Die Erschütterung des sozialen Lebens ist so tiefgreifend, dass sie selbst durch das „Wiederhochfahren“ des Landes nicht ungeschehen gemacht werden kann. Die Rückkehr aus dem Sozial-Koma wird abgebremst. Die Idee einer schrittweisen Lockerung ist für manche ein bedrohliches Szenario – nicht, weil sie polizeiliche Regulierung bis ins Privatleben hinein für gut erachten, sondern weil vorher das Misstrauen gegenüber „der Gesellschaft“ so nachhaltig mobilisiert wurde.

Entsprechend widersprüchlich reagieren die Menschen nun auf die Lockerung des Lockdowns: Einerseits wird die Politik für unstete, regional unterschiedliche, zu schnelle oder zu langsame Veränderungen kritisiert. Andererseits werden realitätsnahe Reaktionen vor Ort dann gefordert, wenn man sich selbst zu Unrecht durch die allgemeinen Verordnungen blockiert fühlt. Klarheit und Eindeutigkeit sind wichtige Schlüsselbegriffe in der emotionalen Diskussion über die Lockerungspolitik.

Der Motor des Autoritarismus

Die Forderung nach mehr Klarheit steht jedoch im Gegensatz zur Notwendigkeit, Entscheidungen mit Augenmaß zu fällen. Keine Handlungsanleitung kann so klar und perfekt sein, dass sie keine Fragen offenlässt. Solange die Gesellschaft aber weiterhin klare Ansagen und Handlungsanweisungen fordert, treibt sie den Motor des vermeintlich wohlmeinenden Autoritarismus an.

Ins Stottern gerät dieser Motor erst, wenn nicht mehr gefragt wird, was warum erlaubt ist, sondern wenn wir vehementer Erklärungen fordern, warum wir konkrete Verbote und Einschränkungen brauchen sollen und welche Alternativen es gibt. So setzen wir die Entscheidungsträger unter den Rechtfertigungsdruck, der in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich ist.

Die mediale Verzerrung der Wirklichkeit

Diese dringend notwendige Wiederbelebung der Diskussionskultur wird nicht zuletzt durch die Sensations-Obsession vieler Medien blockiert: Die Suche nach immer neuen Ungereimtheiten innerhalb der unübersichtlichen Verordnungslandschaft sowie die ausgeprägte Tendenz, die Bevölkerung als unvernünftig und im Kern reaktionär darzustellen, führen zu einer Verzerrung der Wirklichkeit, in der es fast nur noch Extremes und Skandalöses zu geben scheint.

Deutlich wird dies an der Diskussion über die „Anti-Corona“-Demonstrationen. Mediales Interesse wecken hier fast nur wirre Verschwörungstheoretiker, abstruse Esoteriker und politische Sonderlinge, die versuchen, im Heer der Verärgerten und Verunsicherten politische Beute zu machen. Den weitgehenden Verdruss der Bevölkerung haben die Leitmedien mit ihrem Bemühen um öffentlichen Corona-Gehorsam mitzuverantworten.

Die Republik als Kindertagesstätte

Keine gängige Nachrichtensendung kommt ohne den Verweis auf die vermeintliche Unvernunft und Ignoranz der Leute aus. Die Botschaft ist eindeutig: Beschränkungen müssen jederzeit möglich sein, da sonst der Untergang naht – eine Argumentation, die wir nicht erst seit Corona kennen.

Da ist es durchaus ermutigend, wenn mehr und mehr Bürger das Interesse an gebetsmühlenartig vorgetragenen Appellen verlieren und nicht mehr wie unmündige Kinder behandelt werden wollen. Teilweise konnte man das Gefühl haben, dass sich die Corona-Krise nicht durch die Schließung der Kitas auszeichnete, sondern dadurch, dass die ganze Republik in eine einzige Kindertagesstätte umgewandelt worden war.

Freiheit ist kein Erwachsenenspielplatz

Die Veränderung des gesellschaftlichen Klimas in der Corona-Krise hat unser Freiheitsverständnis auf den Kopf gestellt. Mittlerweile ist die Vorstellung weit verbreitet, dass der Staat nicht nur Straßen vorhalten muss, sondern auch noch sagen soll, wohin die Reise geht – beziehungsweise wohin sie nicht geht. Dieses Obrigkeitsdenken fliegt der Politik nun um die Ohren: Zunehmend überfordert versucht sie, die gelähmte Gesellschaft aus der Schockstarre herauszubewegen und langsam wiederzubeleben. Das gelingt ihm mehr schlecht als recht. Der Lockdown hat sich mental verfestigt.

Diese Blockade können wir nur selbst lösen. Die zentralen Freiheiten und Bürgerrechte werden dadurch verteidigt, dass sie mit Leben gefüllt und ihre Grenzen beständig ausgetestet werden. Mündiges Freiheitsdenken ist der beste Impfstoff gegen Angstkultur und Obrigkeitsdenken. Oder kurz gesagt: Erinnert Euch daran, was es heißt, mündig und erwachsen zu sein!

Der Artikel ist am 17. Mai 2020 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.