Wir brauchen weniger Mimimi und mehr Ahab!

Demonstration, Demonstrieren, Verbot

Kompromissfetischisten in Politik und Medien können es nicht verknusen, wenn reale Interessenkonflikte öffentlich ausgetragen werden und so die gesellschaftliche Friedhofsruhe stören. Zuletzt standen Lokführer und Bauern als Störenfriede auf der Abschussliste. Doch wer kommt danach?

Ich bin weder Sozi noch Gewerkschafter. Und in vielen politischen Fragen bin ich anderer Meinung als die meisten Menschen aus diesen Welten. Doch ganz unabhängig von Inhalten muss ich gestehen: Claus Weselsky beeindruckt mich.

Es mag an meiner fast bockigen und biografisch geprägten Grundsympathie für Außenseiter und Sündenböcke liegen, aber Fakt ist: Wenn alle Welt unisono und öffentlich auf jemanden eindrischt, dann werde ich neugierig, weniger auf die Person selbst, sondern darauf, zu erfahren, warum alle auf sie eindreschen. In den seltensten Fällen ist die öffentliche Aufregung tatsächlich der einzigartigen Boshaftigkeit des Verdroschenen geschuldet. Viel wichtiger ist es herauszufinden, warum bei den Verdreschenden bestimmte Nerven getroffen werden oder blank liegen.

Der eigentliche Stein des öffentlichen Anstoßes ist daher oft weit weniger aufregend als das, was er auslöst. Claus Weselsky ist so ein Stein des Anstoßes. Was ist an einem Bundesvorsitzenden einer Bahner-Gewerkschaft so haram, dass beinahe die komplette Öffentlichkeit ihn zum Teufel jagt? Und warum stimmen selbst diejenigen mit ein, die schon seit Jahren keinen Waggon der Deutschen Bahn mehr von innen gesehen haben? Nach dem letzten Lokführerstreik werden in der Politik sogar schon Forderungen laut, das Streikrecht einzuschränken. Sicherlich sind Streiks, die den ÖPNV beeinträchtigen, weithin spürbar und auch unangenehm – wobei das nebenbei bemerkt keine besonders perfide Strategie von Herrn Weselsky, sondern die Grundidee eines jeden Streiks ist, ohne die zu streiken gar keinen Sinn machen würde.

Ein Kampf um Existenzen und Schicksale

Im Gegensatz zu den heute so populären Demonstrationen der gemeinschaftlichen Betroffenheit und des kollektiven Zeichensetzens an Samstagnachmittagen oder Montagabenden haben Arbeiterstreiks oder auch Bauernproteste keine rein symbolische und appellierende Wohlfühl-Bedeutung. Sie sind im Gegenteil Machtdemonstrationen in einem handfesten Interessenkonflikt, in dem es um konkrete Existenzen und Schicksale geht.

Über die Aktionen der Gewerkschaft der Lokführer kann man unterschiedlicher Ansicht sein. Sollte man auch, denn die Lokführer vertreten schließlich Lokführerinteressen, und diese unterscheiden sich naturgemäß von denen anderer Menschen. Das hat mit der „Geiselnahme von Bahnreisenden“, wie es Vertreter der Deutschen Bahn gebetsmühlenartig vortragen, nichts zu tun. Umgekehrt könnte man argumentieren, dass die DB ihre eigene Kundschaft nur allzu bereitwillig als moralischen Bremsklotz nutzt, um Druck auf diejenigen auszuüben, denen sie Egoismus vorwirft, während sie zeitgleich Boni in den eigenen Führungsriegen verteilt.

Aber so ist das bei Streiks, nicht nur bei der Bahn, und auch nicht erst heute. Dass diesen Arbeitnehmeraktionen die „politische“ Dimension abgesprochen wird – denn „politische Streiks“ sind in der Bundesrepublik ja verboten –, macht sie noch lange nicht zu unpolitischen Ritualen. Im Gespräch mit Leuten auf der Straße (oder in der Bahn) hört man erstaunlich viel Verständnis für die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung, gerade auch angesichts gestiegener Preise und der hohen Arbeitsbelastung im Schichtbetrieb.

Dinosaurierzahn im Fleische der Bequemen

Doch die Sympathie hat eine imaginäre Grenze. Diese spiegelt sich in dem häufig geäußerten Argument wider, demzufolge bei aller Sympathie diese Formen des Arbeitskampfes als irgendwie veraltet und als „nicht mehr zeitgemäß“ gelten. Wenn sich dies auf das Schwenken roter Fahnen bezöge, wäre der Fall klar. Das ist es aber nicht, denn genau diese Farben wird man bei GDL-Demonstrationen nur sehr selten finden. GLD-Chef Weselsky legt großen Wert darauf, die Arbeitskampfrhetorik nicht allzu „sozialistisch“ anmuten zu lassen. Alles andere wäre auch seltsam: Der vor fast 60 Jahren in Dresden geborene gelernte Schienenfahrzeugschlosser war zu DDR-Zeiten nie SED-Mitglied, gehört aber seit 2007 der CDU an.

Was ist also nicht mehr zeitgemäß an Weselsky, wenn es nicht die Forderungen an sich sind? Meine Vermutung: Es ist seine Bereitschaft, in die Vollen zu gehen, sich freiwillig zum Fokus eines Shitstorms zu werden und alles dafür in die Waagschale zu werfen, um Standpunkte durchzusetzen und in einem harten Interessenkonflikt taktisch und auch manchmal kompromisslos vorzugehen.

In unserer Zeit, in der weder viele Leute klare Interessen formulieren noch sich in Kooperation mit anderen Menschen für Ziele engagieren, und in einer Welt, in der die harte Konfrontation an sich als schlecht und der Kompromiss per se als gut gilt, wirkt Claus Weselsky wie aus der Zeit gefallen, wie ein Dinosaurierzahn im Fleische der Bequemen, Gemäßigten, Kompromissverliebten und Konfliktscheuen.

Gegenwind lässt ihn zur Höchstform auflaufen

Weselsky scheint sich im Lichte der Empörung zu sonnen und im Gegenwind des Shitstorms zur Höchstform aufzulaufen, bleibt dabei aber bei seiner ruhig-energischen, autoritativen Ausdrucksform, um damit noch mehr Empörung zu säen. Ich bin ehrlich: Gäbe es mehr Typen wie Weselsky, die sich so klar für diejenigen, denen sie Rechenschaft schuldig sind, einsetzen, der Verdruss gegen Institutionen, Verbände und Parteien wäre weniger stark verbreitet. Und man hätte Gegenspieler, die einen selbst zur Höchstleistung animieren.

Dass Weselsky kein angenehmer Zeitgenosse ist und innerhalb der GDL mit harter Hand agiert, ändert daran nichts. Geradezu peinlich wirken die Versuche, seine Hartnäckigkeit als Folge eines eigenen Rachefeldzuges gegen die Bahn abzukanzeln. Natürlich braucht es einige Charakterzüge eines Kapitän Ahab, um den Konflikt mit weißen Walen oder eben der DB zu suchen.

Doch Weselskys Kampf auf „Eigeninteresse“ zu reduzieren, zeugt von der Begrenztheit gesellschaftlicher Vorstellungskraft und vom weitgehenden Verlust politischen Bewusstseins. Manch Landwirt in Deutschland würde sich freuen, wenn Joachim Rukwied, der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, weniger durch seine knarzige Stimme als vielmehr in Sachen inhaltliche Robustheit an Claus Weselsky heranreichen würde.

Ohne Dinosaurier gäbe es heute keine Vögel

Dass sowohl Rukwied als auch Weselsky als „lebende Fossile“ erscheinen, deutet eher auf die zunehmenden Konfliktunfähigkeit und Geschichtsvergessenheit unserer Gesellschaft hin als auf das Alter der beiden Protagonisten. Deren Nachfolger werden es genauso schwer haben wie alle jene, die in Zukunft überhaupt noch Interessen vertreten wollen, wenn der öffentliche Raum nicht offen gehalten wird für Konflikte und Dissens. Weselsky mag ein Dinosaurier sein. Doch ohne Dinosaurier gäbe es heute keine Vögel.

Natürlich nervt es auch mich, wenn meine Bahn nicht fährt oder meine Autobahnauffahrt von Traktoren blockiert wird. Noch schlimmer aber wäre es, wenn in der Gesellschaft niemand mehr für seine Interessen eintreten würde. Denn dann müsste ich meine Freiheiten allein gegen den Chor der Ängstlichen verteidigen.

Der Artikel ist am 2. Februar 2024 unter dem Titel „Weniger Gemeinwohl, mehr Interessenpolitik!“ auf Cicero Online erschienen.