Wer die Kindheit retten will, muss das Erwachsensein verteidigen

Die Weihnachtszeit ist vorbei, das Fest der Kinder. Doch unser Verhältnis zu ihnen ist aus der Balance geraten. Eine kinderfreundliche Gesellschaft braucht vor allem eine positive Einstellung zu dem, was es heißt, erwachsen zu sein.

Und wieder ist es vollbracht: Weihnachten, das Fest der Liebe und der Familie, ist überstanden. Wenn es gut gelaufen ist, haben die Kinderaugen wieder geglänzt, und wenn es wirklich gut gelaufen ist, hat man auch selbst wieder etwas von der inneren Wärme verspürt, wegen der man als Kind selbst fast platzte vor vorweihnachtlicher Ungeduld.

Weihnachten ist die Zeit im Jahr, in der wir allem Stress zum Trotz versuchen, ein bisschen mehr so zu sein, wie wir eigentlich sein wollen. Allein schon der Kinder wegen, aber nicht nur: Wir wollen auch selbst Emotionen zeigen und mehr Bedeutung auf das Schöne legen. An Weihnachten lassen wir Kindheit zu, auch die eigene: Wir zelebrieren sie dann als die Zeit, in der das Leben noch schön und unbeschwert war: Es wird an Peter Pan oder an Momo gedacht, an Bullerbü und Lönneberga, an Harry Potter, Narnia oder an zahlreiche weitere Märchenwelten – oder eben an Weihnachten im elterlichen Wohnzimmer. Wir wissen, dass bis zum nächsten Weihnachtsfest auch wieder Zeiten kommen werden, in denen Kinder und die eigene Kindheit keine so wichtige Rolle spielen.

Kindheit als Spielball verunsicherter Erwachsener
Unser Verhältnis zu Kindern und zu Kindheit ist gesellschaftlich betrachtet seltsam und aus der Balance geraten. In der Weihnachtszeit wird dies ganz besonders deutlich: Einerseits werden gerade am Jahresende Kinder medial zum eigentlichen moralischen Gewissen der Welt stilisiert. Sei es im Zuge von Spendenkampagnen oder aber im Rahmen der adventlichen Klimakonferenz: Überall treten Kinder als die Träger von Einsicht und Wahrheit auf und schlüpfen – auf Geheiß der Erwachsenen – in die Rolle der naiv-realistischen und unverblendeten Mahner und Botschafter des gesunden Menschenverstandes. Andererseits bemühen wir uns aber gerade in der Weihnachtszeit darum, Kindern mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Wir geben dem Spielerischen, Verträumten und Emotionalen mehr Raum und erfreuen uns daran, wenn Kinder einfach mal nur Kinder sind – und dies ein wenig auf uns abfärbt.

Diese Zerrissenheit der Kindheit zwischen verschiedenen Ansprüchen ist kein Weihnachtsphänomen, sondern setzt sich im Alltagsleben fort: Denn selbstverständlich würde jeder Erwachsene bei klarem Verstand das Recht auf Kindheit, auf Wildheit, auf Streiche und auf sinnlosen Spaß an der Freude als etwas eminent Wichtiges erachten. Eine behütete und erfüllte Kindheit zu ermöglichen, ist die Mindestanforderung an Eltern. Viele verschreiben sich mit Haut und Haar diesem Ziel aus der Überzeugung heraus, dass die Kindheit die einzige Lebenszeit sei, die Raum für Erfüllung biete. Die Furcht, dass die eigenen Kinder zu früh ihre Unbekümmertheit verlieren könnten, prägt das Denken nicht weniger Eltern. Sie setzen viel daran, ihre Kinder erst möglichst spät mit „der Welt da draußen“ in Kontakt zu bringen.

Wer nicht Hänschen sein darf, wird niemals ein Hans
Die Tendenz zur Überbehütung von Kindern wird mit dem Verweis darauf erklärt, dass die Gesellschaft auf Kinder weniger Rücksicht nehme als früher. Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall: Noch nie wurden Kinder so speziell und gut behandelt und verfügten über eine solche Sonderstellung in der Gesellschaft wie heute. Dass dies kaum gesehen wird, hat einen Grund: Die Ängste um die Kinder reflektieren das Unbehagen der Eltern mit dem modernen Erwachsenenleben. Die sich verstärkenden Erwachsenen-Ängste vor der Gegenwart – und erst recht vor der Zukunft – werden auf Kinder projiziert. Eltern trainieren so jungen Menschen nicht nur die Fähigkeit ab, sich durchzusetzen, sondern auch die, unvoreingenommen und vorurteilsfrei auf andere Menschen und die Welt zuzugehen. In gewisser Hinsicht wird also gerade das verhindert, was eigentlich mit dem Erwachsenwerden verbunden werden sollte.

Die Kehrseite der Überbehütung ist die zielgerichtete, durchgeplante und spielraumfreie Abrichtung des Nachwuchses zu gut funktionierenden Erwachsenen. Interessant ist dabei zu beobachten, dass diese Motivation letztlich der der Helikoptereltern ganz ähnlich ist: Manche Eltern empfinden das eigene Erwachsenenleben als so schwierig und kompliziert, dass sie ihnen vor lauter Vorbereitung auf später die Kindheit abspenstig machen. Das gezielte Trainieren beginnt häufig schon im Kindergartenalter. Zwar ist die Zeit der frühen Kindheit tatsächlich diejenige, in der die Grundsteine für ein späteres, erfolgreiches Leben gelegt werden. Aber das gilt eben nicht nur für Fremdsprachen, sondern auch für individuelle, soziale, emotionale und kreative Fähigkeiten: Wenn Kindheit als Zeit des straff organisierten und mit allem Nachdruck betriebenen Grundsteinlegens interpretiert wird, hört sie auf, Kindheit zu sein. Dem Satz „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ sollte neben der Betonung frühkindlicher Erziehung noch die folgende zusätzliche Bedeutung beigemessen werden: „Wer nicht Hänschen sein darf, wird niemals ein Hans.“

„Verwässerte Ausdehnung“ der Kindheit
Viele Eltern glauben, ihre Kinder möglichst früh auf den beruflichen Überlebenskampf in der Erwachsenen-Welt vorbereiten zu müssen, in der sie selbst nur schwer zurechtkommen. Sie impfen ihnen früh Werte ein und wollen, dass sie von klein auf lernen, verantwortungsvoll zu handeln. Gleichzeitig wollen sie sie aber vor allen möglichen unschönen Erfahrungen bewahren, die sie als Überforderungen ansehen. Dass angesichts des so erlernten Blicks auf das eigene, spätere Leben der Drang junger Menschen, Neues auszuprobieren, zu experimentieren oder gar das Leben in die eigenen Hände zu nehmen und etwas zu riskieren, nicht unbedingt wächst, ist fast schon logisch. Seit ein paar Jahren werden an deutschen Universitäten „Elternsprechtage“ veranstaltet – eine noch vor 20 Jahren unvorstellbare Entwicklung! Aber inzwischen scheint es sowohl für Eltern wie auch für ihre erwachsenen Kinder nahezu selbstverständlich zu sein, die universitäre Laufbahn als Verlängerung der Schulzeit und somit als Familienangelegenheit zu begreifen.

Wir haben es also gewissermaßen mit einer „verwässerten Ausdehnung“ von Kindheit zu tun: Sie ist verwässert, weil Kinder immer früher in das Denken von Erwachsenen gepresst werden und insofern kindliche Entwicklungsfreiheit verloren geht. Gleichzeitig wird die Kindheit ausgedehnt, weil der Zeitpunkt, an dem junge Menschen aus der elterlichen Fürsorge entlassen werden und auf eigenen Beinen zu stehen und frei zu sein haben, immer weiter hinausgezögert wird. Betrachtet man zudem, wie wenig Freiheiten und Selbstbestimmungsrechte Erwachsene heute haben, könnte man fast sagen: Die Mündigwerdung wird auf den Sankt-Nimmerleinstag vertagt. Dies bedeutet aber auch für die Kindheit einen enormen Bedeutungsverlust: Wir tun zwar weiterhin viel dafür, dass unsere Gesellschaft als „kinderfreundlich“ gilt und meinen damit zumeist Kita-Plätze, Spiel- und Bolzplätze sowie verkehrsberuhigte Straßen. Was aber verloren zu gehen droht, ist der positive Ausblick auf ein erfülltes Leben als befreite und eigenständige Erwachsene. Unsere Gesellschaft meint zwar, Kinder zu lieben, aber den Erwachsenen, zu denen sie heranwachsen sollen, traut sie nicht über den Weg – und vielleicht konzentriert sie sich gerade deshalb so angsterfüllt auf Kinder.

Eine kinderfreundliche Gesellschaft muss erwachsen sein
Die zunehmend verunsicherte Erwachsenen-Gesellschaft läuft Gefahr, aus Kindern junge Greise zu machen. Dies nicht, weil Erwachsene Kinder nicht lieben, sondern weil sie die eigene Erwachsenen-Welt verabscheuen. Und weil sie dies tun, verschwimmen auch langsam die Unterschiede zwischen Kindheit und Erwachsensein. Da man seinen Mitmenschen nicht viel zutraut, schon gar nicht den Umgang mit Freiheiten, werden Kinder dazu erzogen, sich frühzeitig mit engen Grenzen und niedrigen Erwartungen an das spätere Leben anzufreunden. Weil in der weit verbreiteten Vorstellung Erwachsene nicht wirklich vertrauenswürdiger und verlässlicher sind als Kinder, behandelt man junge Menschen einerseits wie rohe Eier, aber andererseits gleichzeitig viel früher als „gleichberechtigt“ und bietet ihnen früher Zugänge zur Erwachsenenwelt.

„Kinder an die Macht“, sang dereinst Herbert Grönemeyer und brachte in diesen Zeilen die Hoffnung zum Ausdruck, Kriege würden „einfach aufgegessen“ wenn man Kindern das Kommando überließe. Doch diese Hoffnung stützt sich nicht auf eine realistische Einschätzung der Fähigkeiten von Heranwachsenden, sondern spiegelt einfach nur die tiefe Desillusionierung mit der Welt der Erwachsenen wider. Mit einem solchen Welt- und Menschenbild wird die Unterscheidung zwischen Erwachsenen und Kindern tatsächlich immer schwieriger. Doch nicht nur das: Sie wird auch immer nebensächlicher, denn Mündigkeit erscheint als ein unerreichbarer Zustand – ganz egal, wie alt man ist. Damit Kinder Kinder sein können, müssen Erwachsene wie Erwachsene leben können. Eine kinderfreundliche Gesellschaft braucht daher vor allem eines: eine positive Einstellung zu dem, was es heißt, erwachsen, selbstbewusst und mündig zu sein – damit sich sowohl Kindheit als auch Erwachsenwerden wieder lohnen. Und dies nicht nur zu Weihnachten!

Dieser Artikel ist am 30. Dezember 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.