Urlaub vom Pessimismus

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Karl Valentin freute sich, wenn es regnet. Er erklärte diese Haltung damit, dass es ja auch dann regnen würde, wenn er sich nicht freut.  Auch wenn Bauern, alte Menschen und Kinder darunter leiden. Warum nicht Valentins Motto auf den „Sahara-Sommer“ ausweiten?

Sommer 2018. Eigentlich der Stoff für ein echtes Sommermärchen: Stabiler Hochdruck, Sonne pur, ideales Schwimmbad- oder Strandwetter, und wer lieber spazieren oder wandern geht, findet in den Wäldern Abkühlung. Tolle Sonnenuntergänge und Mondfinsternisse, laue Abende in Biergärten oder auf den Plätzen der Städte, Eis essen dreimal täglich, Eintracht Frankfurt ist Pokalsieger – Herz, was willst du mehr?! Man muss in diesem Jahr nicht verreisen, um den Sommer zu genießen.

Wenn da nicht diese andere Wirklichkeit wäre, in der der Sommer kein Sommer, sondern nur einer glühender Vorbote des vermeintlich sich immer weiter beschleunigenden Klimawandels ist, der uns eher früher als später alle umbringen wird; die Wirklichkeit, in der die ausgedörrten Wälder brennen und die Ernte vernichtet wird, in der die Igel verdursten und die Menschen durchdrehen, in der das Wasser angeblich knapp wird und wir schon morgens nass geschwitzt und geschlaucht aufwachen. Welche Wirklichkeit ist die richtige? Oder gibt es doch mehrere und diese sind gleichzeitig richtig? An der Beantwortung dieser einfachen Frage zeigt sich, wie jemand gestrickt ist und wie er tickt.

Pessimisten neigen zu Intoleranz
Ein Mensch, der zu einer eher negativen Sicht auf die Welt, also zum halbleeren Glas tendiert, wird sich recht eindeutig positionieren. Je stärker sein Denken durch eine pessimistische Grundhaltung geprägt ist, desto vehementer wird er die positive und optimistische Weltsicht ablehnen. Anders formuliert: Einem überzeugten Pessimisten stellt sich die Frage, welche Wirklichkeit denn die richtige sei, so gar nicht. Es kann für ihn eigentlich nur eine geben. Denn schon das Einräumen anderer Interpretationsmöglichkeiten gilt ihm als Feigheit im Angesicht des Untergangs.

Ein Optimist ist sich eher der Tatsache bewusst, dass man die Welt auch anders sehen kann als er selbst. Er weiß das, weil er sehr viel häufiger in die Situation gerät, seine eigene Sichtweise gegen negatives Denken rechtfertigen zu müssen. Das führt dazu, dass ein Optimist eher auf Widerspruch vorbereitet ist als ein Pessimist. Probieren Sie es einmal aus, am besten bei einem Thema, zu dem positive Aussagen nicht so verbreitet sind. Sie werden feststellen, wie sehr manche Pessimisten an ihrem Pessimismus hängen und wie intolerant sie sein können. Kritische Haltungen gelten gemeinhin als fundierter, als reflektierter und daher als gehalt- und niveauvoller. Und kritische Haltungen zeichnen sich naturgemäß dadurch aus, dass sie Finger in Wunden legen anstatt der Heilung zu applaudieren. Manche pressen ihren Finger aber auch solange auf eine ihnen genehme Stelle, bis sie wund wird.

Die deutsche Lust am Klagen
Wer also etwas auf sich hält, wird instinktiv eher zu negativen oder pessimistischen Interpretationen der Wirklichkeit tendieren. Doch den Umkehrschluss sollte man daraus nicht ziehen: Weder sind alle Pessimisten klug, noch sind alle Klugen pessimistisch. Wenn ich morgens beim Bäcker die Gespräche höre, dann überwiegen eindeutig die negative Sicht und die sich daraus speisende Lust am Klagen, schon auf der unverbindlichsten Ebene jeder Gesprächsführung, dem Wetter. Die Deutschen aller Altersklassen sind besonders gut darin, ihre persönlichen Befindlichkeiten schon hier unmissverständlich zu kommunizieren. Gäbe es das sich stets wandelnde und bis heute nicht steuerbare Klima nicht, man hätte es erfinden müssen.

Und so stehe ich ärmellos und mit Sonnenbrille beim Bäcker, höre das Wehklagen ob des strahlend blauen und wolkenlosen Himmels und frage mich für einen kurzen Moment: Wie kommt es, dass ich einfache Seele nur die profane Schönheit der Morgensonne wahrnehme und nicht die tödliche Gefahr? Was habe ich verbrochen, dass ich mir bei Sonnenschein nicht vom Regenmangel und bei grauem Himmel nicht durch das Fehlen der Sonne mein Denken und meine Stimmung beeinträchtigen lasse? Was hat mich so gefühlskalt und so teilnahmslos am tagtäglichen Albtraum werden lassen, und was so arrogant und eingebildet, dass ich wirklich manchmal kurz davor bin, den Klagekanon durch ein lapidares, aber lautes „Ich liebe heiße Sommer!“ abrupt abzuwürgen?

Optimisten sind robuster
Das Gebot der Ausgewogenheit schreibt vor, dass ich spätestens jetzt all jenen die Ehre erweisen und moralische Anerkennung zuteilwerden lassen sollte, die unter dem heißen Sommer, den ich so liebe, zu leiden haben. Ja, ich habe mich in meinem Leben genug um ältere und behinderte Menschen gekümmert, um zu wissen, dass Hitze für sie eine große Belastung ist. Ja, ich kenne auch Dachdecker und zahlreiche Menschen, die unter freiem Himmel arbeiten und froh wären über eine Abkühlung. Und dennoch möchte ich an diesem Punkt ob meiner Liebe zu heißen Sommertagen nicht zu Kreuze kriechen. Denn ob ich mich freue über das Wetter oder nicht, es hilft dem Dachdecker nicht, und es hat keinen Einfluss auf das Klima, höchstens auf das gesellschaftliche, und dem täte manchmal ein bisschen weniger Klagen ganz gut.

„Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.“ In dieser dem französischen Aufklärer Voltaire zugeschriebenen Aussage geht es nicht um eine Flucht ins Wolkenkuckucksheim, sondern darum, sich dafür einzusetzen, im Hier und Jetzt glücklich zu sein. Gerne wird der Einwand erhoben, dass notorische Optimisten mehr Enttäuschungen und böse Überraschungen erleben als Menschen mit niedrigen Erwartungen. Das mag sein, andererseits sind Pessimisten gezwungen, positive Überraschungen in negative umzudeuten, und das macht mit Sicherheit auch nicht gerade glücklicher. Optimisten sind in der Regel robuster und verkraften Rückschläge besser, sie sind davon überzeugt, dass es sich lohnt, immer wieder aufzustehen.

Ohne Zuversicht keine Freiheit
Die meisten Pessimisten hingegen sehen einen positiven Ausreißer als Affront, als Lüge und somit als Bedrohung ihres eigenen widerspruchsfreien Mikroklimas, das es möglichst schnell wieder herzustellen gilt. Wohlgemerkt, nur das eigene Mikroklima, denn der auf dem Dach beinahe verbrutzelnde Dachdecker und die alte, bettlägerige und sich wund schwitzende Dame von nebenan sind dem handelsüblichen Pessimisten zutiefst schnuppe. Pessimisten sind keine besseren Menschen, denn das Streben nach „besser“ gilt ihnen bereits als Wurzel allen Übels. Daher haben sie auch kein inniges Verhältnis zu Freiheit. Wer davon ausgeht, dass eine Verbesserung der Lage nur auf Kosten einer Verschlechterung an einer anderen Stelle möglich ist, dem wird mehr Freiheit auch kein besseres Gefühl, sondern eher Sorgen bereiten.

Ich habe keine Lust, mich in der Mitte zwischen heiß und kalt aufzuhalten und mitzujammern. Ich liebe heiße Sommer, auch dann, wenn Igel durstig sind und der Rasen braun wird. Punkt. Ich liebe auch kalte und schneereiche Winter, selbst wenn Obdachlose das aus gutem Grund anders sehen. Und wenn wir schon dabei sind: Ich liebe es, bei Hitze mit offenen Fenstern grundlos über leergefegte Landstraßen zu dieseln. Außerdem grille ich am liebsten Steaks auf Holzkohlegrills und ohne Alufolie, ich mag Durchzug und fordere das Grundrecht auf Klimaanlagen. Das Ganze natürlich ohne Zwang. Obwohl, nicht ganz: Denn wenn ich ehrlich bin, fordere ich Zwangsurlaub vom Pessimismus für Jeden, und das 12 Monate im Jahr! Und für die alte Dame von nebenan eine optimistische und fröhliche Betreuung. Kurz gesagt: Mehr Valentin für Alle, damit allen klar wird: Die Sonne scheint auch, wenn es regnet. So geht Klimawandel.

 

Dieser Artikel ist am 5. August 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.