29.05.2024 – Nach vielen Jahren des staatlich verordneten Dauernotstandes scheinen Land und Leute zu erschöpft zu sein, um sich mithilfe der UEFA EURO 2024 selbst aus dem moralischen Morast zu ziehen. Deutschland könnte einen Kick gut gebrauchen – und wenn es auch nur einer in den Hintern ist.
Ich liebe Fußball. Ich habe mehr als mein halbes Leben lang aktiv Fußball gespielt. Meine Liebe gilt dem Vereinsfußball und insbesondere der Eintracht Frankfurt. Mit der Nationalmannschaft halte ich es hingegen weniger – das war schon immer so. Ich genieße zwar die großen Fußballturniere als TV-Events, fühle aber keinen Sportpatriotismus, der weit über meine Stadt hinausgeht.
Worauf ich seit jeher allergisch reagiert habe, war die Vereinnahmung des Fußballs für politische oder moralische Zwecke. Politiker, die sich im hellen Schein der Sport-Scheinwerfer in Szene setzen, empfand ich immer als ideenlos und peinlich. Ich will einfach Fußball genießen: ohne Politik, ohne Diskussionen über die Vorbildfunktion von Leistungssportlern, ohne Rahmenprogramm, ohne Schweigeminuten für alles Mögliche, ohne erhobenen Zeigefinger gegenüber einfachen Leuten, ohne übersteigerte Nationalismen, aber auch ohne übersteigerte Empfindlichkeit, ohne Sprech- und Gesangsverbote, ohne Angst vor Emotionen und Hirnwäsche. Freien, wilden und puren Fußball, dessen Emotionalität vom Platz auf die Ränge und zurück schwappt, ungehemmt und ungezähmt.
Die Weltmeisterschaft 2006 war, was die gesamtgesellschaftliche Obsession mit Fußball in Deutschland anbelangte, ein erster Höhepunkt. Fast jedes Bundesministerium und nahezu jeder Kulturbetrieb ging mit seinen eigenen Aktivitäten und Öffentlichkeitskampagnen mit Fußballbezug hausieren und versuchte, ein wenig von der medialen Fußballfixierung auf sich abzuleiten. Im Zentrum stand die Standortinitiative von Bundesregierung und Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) mit dem hochtrabenden Namen „Deutschland – Land der Ideen“. Die Initiative sollte zur Entwicklung, „positiver“ nationale Symbole sowie mithilfe von „König Fußball“ zu einem besseren Image Deutschlands verhelfen, das damals sowohl wirtschaftlich als auch politisch und emotional am Stock ging.
Frühere Turniere blieben von solchen konzertierten Vereinnahmungskampagnen durch die Politik weitgehend verschont. Weder bei der Weltmeisterschaft 1974 (im Jahr 1 nach der Ölkrise) noch bei der Europameisterschaft 1988 sprang der Funke nachhaltig über – von den Turnieren im Frauenfußball ganz zu schweigen. Doch 2006 war das anders. Das sogenannte und dann später doch wieder verfluchte „Sommermärchen“ veränderte das Verhältnis vieler Menschen in Deutschland zur Nationalmannschaft, und ja, sogar zur eigenen Nation. Plötzlich war es hipp, Häuser und Autos mit Deutschland-Fähnchen zu schmücken und deutsche Fanutensilien zu tragen.
Ich habe damals zwar keine Fähnchen geschwenkt, empfand aber die für Deutschland geradezu erstaunliche Lockerheit im Umgang mit den eigenen wie auch mit Fans aus anderen Ländern als angenehm. „Die Welt zu Gast bei Freunden“ lautete das Motto des 2006er-Turniers, und ein bisschen hatte man tatsächlich den Eindruck, dass sich die Deutschen auch ein wenig mit sich selbst anfreundeten. Während ich diese Zeilen schreibe, fällt mir auf, dass ich gar nicht weiß, ob die UEFA Euro 2024, die in wenigen Tagen in Deutschland beginnt, auch ein Motto hat. Wenn man durch die Städte läuft oder die Medien beobachtet, fällt auf, dass einem nichts auffällt. Das Turnier ist kaum Gesprächsthema, und schon gar kein Anlass für Vorfreude.
Nun könnte man als Erklärung für die emotionale Zurückhaltung anbringen, dass die letzten Turniere sportlich gesehen wenig Anlass zur Vorfreude geboten haben. Doch das war 2006 nicht viel anders. Die deutsche Nationalmannschaft war zwar 2002 Vize-Weltmeister geworden, dies aber, ohne auch nur gegen eine einzige der führenden Nationen antreten zu müssen. Bundestrainer Rudi Völler hatte sich 2003 in einem legendären Interview sogar darüber aufgeregt, dass die Öffentlichkeit Siege über vermeintlich kleine Fußballnationen erwarte. Kein Wunder: Der letzte Pflichtspielsieg gegen eine der Fußball-Weltmächte lag viele Jahre zurück. 2004 schied das deutsche Team dann bei der Europameisterschaft in der Gruppenphase aus, und Rudi Völler trat als Bundestrainer zurück.
Sportliche Gründe für eine größere Begeisterung im Vorfeld des 2006er Turniers gab es also nicht. Nur wenige Monate vor Turnierbeginn war die deutsche Mannschaft vom späteren Weltmeister Italien mit 4:1 abgewatscht worden. Diese Niederlage erzeugte so viele öffentliche Unruhe, dass einige Politiker aus den Reihen der noch recht frisch inthronisierten Großen Koalition den neuen Bundestrainer Jürgen Klinsmann sogar vor den Sportausschuss zitieren wollten, um von ihm zu erfahren, wie er das anstehende Turnier im eigenen Land sportlich zu einem Erfolg zu machen gedenke.
Warum ist es so, dass sich damals das halbe Land an den Fußball klammerte und aufzurichten versuchte und es das heute nicht tut? Meine These lautet: Es hat wenig mit dem Sport zu tun. Denn gerade die letzten Leistungen der Nationalmannschaft unter dem neuen Trainer Julian Nagelsmann boten durchaus mehr Anlass zu Hoffnung als die letzten Spiele vor dem Turnier 2006. Es ist eher die Verfassung der deutschen Gesellschaft, mit den Diskursen und Empfindlichkeiten, die sie beschäftigen, die ihr jede Kraft und Muße rauben, um sich auf das Großereignis zu freuen.
Eigentlich könnte das anstehende Turnier ein Geschenk für das Land sein, ein Impuls, der die Stimmung ein wenig anhebt, der Menschen wieder ein wenig zusammenführen und sich freuen lassen könnte, jenseits des tristen Alltags. Deutschland erstickt nicht nur in Bürokratie, Innovations- und Investitionsstau, sondern auch in gesellschaftlicher Lähmung und Entzweiung sowie in politisch-medialer Dauerempörung trotz anhaltender Visionslosigkeit und wirtschaftlicher Stagnation. Nach vielen Jahren des staatlich verordneten Dauernotstandes – vom Klima über Corona bis hin zu Kriegsangst, Energiekrise und Preisschocks, garniert mit Angst vor islamistischen Terroranschlägen, Antisemiten-Demos, Reichsbürgerputschfantasien und vor Kontrollverlusten in der Migrationspolitik – scheinen Land und Leute zu erschöpft zu sein, um das Rettungsseil Fußball zu ergreifen und sich selbst aus dem moralischen Morast zu ziehen.
Zu aufgestachelt und visionslos und vergiftet ist das soziale Klima, als dass man sich vorstellen könnte, einfach mal für vier Wochen Land und Leute zu genießen und Gäste aus allen Ecken Europas zum gemeinsamen Feiern zu begrüßen. Stattdessen gelten 18 Jahre nach dem schwarz-rot-goldenen Sommermärchen Deutschlandfahnen vielen als „Nazi-Symbole“. Auch sonst sind es zähe, verstörende und verzichtsorientierte Wertedebatten, die sich über das Turnier legen: Unisex-Klos in allen EM-Stadien gelten den Veranstaltern als genau fortschrittlich wie verpflichtende Klimaschutzmaßnahmen und generelle Rauchverbote. Natürlich darf auch totale Bekämpfung aller Formen von Diskriminierung und die Verteidigung nahezu jeder Einzelidentität nicht fehlen, selbst wenn dies die letzten Reste von Zusammengehörigkeit und Gemeinschaftssinn, die es braucht, um gemeinsam zu feiern, untergräbt.
Die Fußball-Europameisterschaft droht, zu einem großangelegten Umerziehungs-Spektakel im Stile des Eurovision Song Contests zu werden, in dem alles verbannt wird, was nicht der gegenwärtigen kulturellen Großwetterlage entspricht. Raum für Ausgelassenheit, Spontanität und die Entstehung echter sozialer Bindungen gibt es außerhalb der von Gesellschafts-Architekten konstruierten politisch-korrekten, solarbetriebenen, rauchfreien und rundum videoüberwachten Sicherheitszonen kaum noch.
Ich hätte nie gedacht, dass das möglich ist, aber in den letzten Tagen habe ich mich das eine oder andere Mal dabei ertappt, mich an den Frühsommer 2006 zurückzuerinnern. Und obwohl ich die damaligen Kampagnen rund um das „Sommermärchen“ abgelehnt habe, muss ich eingestehen, dass ich die heutige gesellschaftliche Leere und Stille nur wenige Tage vor Turnierbeginn tatsächlich noch problematischer finde. Diese Stille ist kein Protest gegen die Vereinnahmung und Politisierung des Fußballs, sie ist einfach nur ein deprimiertes Achselzucken.
Wenn nicht einmal mehr „König Fußball“ Deutschland in Wallung bringt, dann hat die politische, wirtschaftliche und kulturelle Lähmung des Landes gefährliche Ausmaße angenommen. Deutschland könnte einen Kick gut gebrauchen, und wenn es auch nur einer in den Hintern ist.
Der Artikel ist in leicht veränderter Fassung bei Cicero Online erschienen.