Fußball-WM 2018: Rote Karte für die Politik


Politikern gelingt es immer weniger, die Massen zu begeistern. Sie benutzen stattdessen große Sportevents wie die Fußball-WM. Warum lässt sich der Fußball das gefallen?

In wenigen Tagen beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland. Nicht nur die Teams formieren sich, auch die Politik bringt sich in Stellung, um im Windschatten von „König Fußball“ ein gutes Bild abzugeben. Das sind Momente, in denen wie unter einem Brennglas deutlich wird, wie es um die politische Kultur bestellt ist – nicht nur hierzulande, sondern in der Welt. Die öffentliche Erregung über die politische Instrumentalisierung des Turniers durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin ist ein Beleg dafür, wie löchrig zuweilen das kollektive Gedächtnis und wie einseitig und getrübt die öffentliche Wahrnehmung der Wirklichkeit ist. Dass sich die Politik gerne im Scheinwerferlicht des Spitzenfußballs sonnt, ist weder ein neues Phänomen noch eine Besonderheit autoritärer Staaten. Dies allein wäre auch noch keine Politisierung des Sports. Was kümmert es das Licht, wenn es viele Motten anzieht? Dies ist höchstens ein Beleg seiner Strahlkraft.

Interessant wird die Beziehung zwischen Sport und Politik erst dadurch, dass sich ersterer vor den Karren der zweiten spannen lässt und dies als Aufwertung der eigenen Rolle feiert. Wie dieser Prozess vonstatten geht, hat Deutschland im Zuge des „Sommermärchens“ von 2006 erfahren. Schon etliche Monate vor Beginn des Turniers schien sich die gesamte deutsche Öffentlichkeit – und mit ihr Wirtschaft und Politik – nahezu verzweifelt an den WM-Zug zu klammern, um ein Gefühl von Aufregung, Bewegung, Dynamik oder einfach nur ein bisschen Fahrtwind zu spüren. Dies war angesichts hoher Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Stagnation und einem ausgeprägten Mangel an Zukunftsoptimismus auch bitter nötig.

Vom Sommermärchen zum Sommernachtsalbtraum
Das spürte auch die frisch gewählte Kanzlerin Angela Merkel: Nicht von ungefähr übernahm sie gleich in ihrer ersten Adresse an die Nation die Fußballsprache und betonte mehrere Minuten lang die nationale Bedeutung des anstehenden Turniers: Zehntausende Arbeitslose sollten auf neue Jobs, Unternehmen auf rasante Umsatzsteigerungen, Geldanleger auf Gewinne aus WM-Finanzprodukten, das Bruttoinlandsprodukt auf ein halbprozentiges Wachstum, die Umwelt auf ein klimaneutrales Turnier und die ganze Nation auf einen regelrechten Befreiungsschlag hoffen. Die Fußball-Weltmeisterschaft wurde als Ereignis inszeniert, in dem die Nation „zu sich selbst finden“, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen und neu erfinden sollte. Fast jedes Bundesministerium unterhielt eine eigene Werbekampagne mit Fußballbezug. Nationale Kampagnen wie „Land der Ideen“ oder „Du bist Deutschland!“ sollten zusätzlich Offenheit, Orientierung und Optimismus ausstrahlen.

Es schien, als müssten die vier Wochen, in denen „Die Welt zu Gast bei Freunden“ (das Motto der WM) sei, zur Lösung beinahe aller Probleme genutzt werden, da sich sonst das Zeitfenster für Veränderungen schließe. Man fühlte sich ein wenig wie in einem mittelalterlichen Dorf, das sich wochenlang herausputzt und eine grundlegende Verbesserung seiner Situation erhofft, nur weil der König mit seinem Gefolge hindurchreitet. Die Art und Weise, in der das Sportereignis zu einem Katalysator für einen neuen Aufbruch stilisiert wurde, war bezeichnend für den politischen und wirtschaftlichen Stillstand des Landes. Angesichts dieser nationalen Herkulesaufgabe, die dem Turnier aufgebürdet wurde, ist der niedrige Millionenbetrag, der offenbar aus schwarzen Kassen wohin auch immer floss, um die Entscheidung der Fifa bei der Vergabe des Turniers zugunsten Deutschlands zu beeinflussen, geradezu schnäppchenhaft niedrig. Dennoch reichte dieser Betrag aus, um das „Sommermärchen“ in der heutigen öffentlichen Erinnerung in eine Lüge und gewissermaßen in einen „Sommernachtsalbtraum“ zu verwandeln.

WM als Turbo der Wirtschaft?
Dabei waren die Erwartungen an die WM 2006 in Deutschland enorm: Der Hoffnung, ein solches Großereignis könne die politische wie wirtschaftliche Situation eines Landes nachhaltig verbessern, wurde nahezu alles untergeordnet. Als die deutsche Mannschaft im Vorfeld des Turniers bei einem Testspiel in Italien eine heftige Niederlage erlitt, kam hektische Betriebsamkeit im politischen Berlin auf. Bundestagsabgeordnete von CDU, SPD und FDP wollten sogar den damaligen DFB-Teamchef Jürgen Klinsmann vor den Bundestags-Sportausschuss zitieren, damit dieser darlegen könne, wie er die WM zu einem guten Ende zu führen gedenke. Die Nervosität hatte Gründe: Schließlich hatte man das Beispiel Südkorea vor Augen: Immerhin konnte sich das asiatische Land, dass vier Jahre zuvor gemeinsam mit Japan die Fußball-Weltmeisterschaft ausgerichtet hatte, über direkte wirtschaftliche Wachstumseffekte von mehr als 3,4 Mrd. Euro freuen. Diese Aussicht wollte man sich nicht durch schlechten Fußball zerschießen lassen.

Letztlich blieb die Fußball-WM 2006 für Deutschland wirtschaftlich nahezu irrelevant. Kein Wunder, war doch der Vergleich mit Südkorea von Anfang an surreal: Da die Wirtschaft Südkoreas bereits in den Jahren vor 2002 überaus dynamisch war, fiel der leichte Fußball-Impuls auf fruchtbaren Boden – ein Umstand, der in Deutschland so gerade nicht gegeben war. Dementsprechend bezifferten Ökonomen den WM-bedingten Primär-Effekt durch Mehrausgaben für Übernachtungen und Ticketkäufe in Deutschland auf eine halbe Milliarde Euro – viel zu wenig, um den Konsum messbar zu beeinflussen. Auch die Baubranche profitierte kaum: Da neben der erforderlichen Infrastruktur auch schon viele moderne Stadien im fußballbegeisterten Deutschland vorhanden waren, waren große Bauvorhaben kaum nötig. Daher hatte die WM auch auf den Arbeitsmarkt keinen nachhaltigen Effekt: Die zusätzlichen Jobs waren zeitlich eng befristet und endeten, kurz nachdem der Fifa-Tross und der Weltpokal das Land wieder verlassen hatten.

Streiks, Intrigen, Korruption
Auch die Weltmeisterschaft von 2010 in Südafrika wurde zu einem zutiefst politischen und politisierten Ereignis. Erstmals fand das Turnier in Afrika statt, und noch dazu in Südafrika, also genau in jenem Land, das die Hoffnung für die Überwindung von Rassismus und Unfreiheit nährte und zugleich den Aufstieg Afrikas symbolisierte. Doch kaum waren die ohrenbetäubenden Vuvuzelas in den Stadien verklungen, versank das Land in gewalttätigen Streiks und politischen Intrigen, in Korruption und in Versuchen, die Rechte der freien Presse zu beschneiden. Insgesamt entstanden dem Land durch die WM Kosten von 6 Milliarden Euro – ohne dass der erhoffte Entwicklungsschub eintrat. Fünf neue Stadien wurden gebaut, und keines erwirtschaftet bis heute Überschüsse. Der südafrikanische Tourismus entwickelte sich nach 2010 sogar rückläufig. Forscher bezifferten den Konjunktureffekt insgesamt auf maximal 0,5 Prozent – viel zu wenig, um Südafrika wirtschaftlich voran zu bringen. Auch die großen Hoffnungen auf eine bessere politische Zukunft am Kap der guten Hoffnung erfüllten sich nicht: Die gesellschaftliche Depression nimmt seither immer weiter zu.

Nicht viel positiver fällt die Bilanz Brasiliens nach der Weltmeisterschaft von 2014 aus – und dies nicht nur wegen der historischen Halbfinalniederlage. Schon in den Wochen vor dem ersten Anpfiff hatten immer wieder Hunderttausende gegen die horrenden Kosten des Großereignisses protestiert und die Verschwendung von Steuergeldern angeprangert. Positive Impulse für die Wirtschaft des Landes gingen von dem Turnier ebenfalls nicht aus – schwerer wog die Ernüchterung ob der ausbleibenden Verbesserungen, die die Politik immer wieder versprochen hatte.

Arm in Arm mit verschwitzten Fußballern
Der Fußball blickt also auf eine lange Geschichte der Instrumentalisierung durch die Politik zurück. In dem Maße, in dem es Politik immer weniger gelingt, gesellschaftliche Dynamik und Begeisterung zu erzeugen, wächst die Bedeutung des Fußballs. Das Fußballstadion ist einer der wenigen Orte, an denen Politiker sich heute „eins“ fühlen können mit den Wählern: als Anhänger eines Teams. Gleichzeitig bietet der Sport der Politik eine Ebene, um den Menschen näher zu kommen. Man erinnere sich daran, wie lange die Aufnahmen der im Stadion jubelnden Kanzlerin Merkel ihr Image positiv beeinflussten. Immer wieder versuchte sie seither, diese Wirkungen zu wiederholen: Doch ihre mittlerweile zur Routine verblassten Besuche im Trainingslager des DFB-Teams haben nicht mehr den öffentlichen Effekt, sondern wirken inszeniert. Das politische Klima hat sich verändert, und diese Veränderung lässt sich auch nicht durch Aufnahmen im Kreise siegestrunkener und verschwitzter Fußballer überdecken.

Ähnlich gewollt und künstlich wirken auch die Bemühungen von Wladimir Putin, sich selbst sowie Mütterchen Russland als fußballbegeistert zu präsentieren. Schließlich ist bekannt, dass Putins Herz nicht für den Spitzenfußball schlägt. Die russische Equipe bietet dazu auch keinen Anlass. Im Kern tut der Kremlchef zwar nichts anderes als alle anderen Politiker, die die Nähe zum Spitzensport suchen. Nur ist es in seinem Fall besonders wenig überzeugend. Was es wiederum leicht macht, Putin der Instrumentalisierung des Sports zu überführen.

Wie westlich ist Russland wirklich?
Wie so oft sind aber nicht die offensichtlichen und direkt in Erscheinung tretenden Akteure das Hauptproblem. Der Vorwurf, die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland sei „Putins WM“, offenbart das Fehlen sowohl eines historische Bewusstseins als auch echten Interesses an der Entwicklung des Fußballs. Das Turnier in Russland wird aufzeigen, wie westlich Russland tatsächlich ist und wie wenig sich die Politik und die Kultur des Westens in Wirklichkeit von der Putins unterscheiden. Es wäre im Sinne des Sports, der Politik insgesamt die Rote Karte zu zeigen, denn sie hat auf dem Fußballplatz nichts verloren. Doch dazu müssten aber nicht nur die offensichtlichen, sondern auch die versteckten politischen Fouls geahndet werden – und das auf beiden Seiten.
Dieser Artikel ist am 10. Juni 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.