Politische Korrektheit: die westliche Burka für den Verstand

Wir drücken uns davor, die Dinge klar auszusprechen. Und warum? Weil wir nicht glauben, offensichtliche Widersprüche in unserem Leben auflösen zu können. Doch wer nur politically correkt denkt und handelt, der verpasst das Leben.

Unser modernes Leben gilt als unheimlich komplex. Es sei hyperbeschleunigt, extrem fordernd bis überfordernd und lasse uns kaum noch Zeit und Raum, das zu tun, was wir eigentlich wollten. Aber sind wir in unserem unerschütterlichen Glauben an die eigene Überforderung nicht himmelschreiend ungerecht gegenüber früheren Generationen? Ist es wirklich so, dass das Leben früher übersichtlicher, handhabbarer, sorgloser und besser war? Meine Großmutter hatte zwei Weltkriege, drei Evakuierungen und nicht weniger als fünf Staatsformen in Deutschland erlebt. Demgegenüber wirkt es fast lächerlich, sich alle paar Jahre darüber zu ärgern, die eigene Musiksammlung wegen des rasanten technischen Fortschritts schon wieder auf ein neues technisches Format umrüsten oder das Mobiltelefon mit mehr Speicherkapazität ausrüsten zu müssen.

Kein Zweifel: Das Leben vieler Menschen ist auch heute noch hart. Doch interessanterweise sind es in der Regel gerade nicht diese Leute, die sich öffentlich darüber beklagen. Sie bestreiten einfach ihr Leben, und das klingt schon von der Wortwahl her nicht unbedingt tiefenentspannt. Aber sie lamentieren zumindest nicht so öffentlichkeitswirksam. Dass früher alles besser gewesen sei, hat man „früher“ eher von Menschen gehört, die dieses selbst erlebt haben. Mittlerweile scheint die Sehnsucht nach der Vergangenheit aber auch bei Menschen durchzubrechen, die „früher“ noch gar nicht auf der Welt waren.

Am Straßenrand des Fortschritts

Woher rührt also das weit verbreitete Gefühl der modernen Überforderung? Es hat damit zu tun, dass wir zwar am eigenen Leib spüren, dass die Welt sich verändert, wir aber gleichzeitig nicht den Eindruck haben, an dieser Veränderung aktiv beteiligt zu sein. Häufig stehen wir wie angewurzelt am Straßenrand der Entwicklung und betrachten ungläubig die Veränderungen, wie sie sich auf uns zubewegen und – wenn wir weit genug vom Straßenrand entfernt stehen – an uns vorbeirasen. Unsere Gesellschaft ermuntert uns dazu, beiseite zu treten, wenn es spannend wird. Wer weiß schon, was alles passieren kann in dieser viel zu komplexen Welt?

Dabei ist die Vorstellung, dass die Realität zu schnelllebig und kompliziert ist, um das eigene Leben tatsächlich einigermaßen unter Kontrolle behalten zu können, eine Frage der eigenen Einstellung. Ich persönlich sehe es genau umgekehrt: In dem Maße, in dem es gelingt, die Zusammenhänge besser zu durchschauen und dadurch das eigene Leben zumindest besser einzuordnen, verflüchtigt sich der Eindruck, ständig von den Wellen der Wirklichkeit überrollt zu werden. Wenn wir uns einen Reim auf das machen können, was wir erleben, kommen wir besser klar. Und je weiter wir den Rahmen dessen setzen, was wir zu verstehen anstreben, desto seltener werden wir von Großereignissen auf dem falschen Fuß erwischt.

Widersprüche fesseln uns auf Dauer

Soweit die Theorie. In der Praxis stößt man dabei jedoch auf interessante Hindernisse. Nicht alles lässt sich logisch erklären und das Leben ist voller Widersprüche. Wir Menschen können uns aber glücklicherweise an unglaubliche Mengen von Widersprüchlichkeit gewöhnen und damit arrangieren. Auch wenn wir eigentlich rationale Wesen sind, so sind wir eben auch ökonomisch und vorsichtig. Das Auflösen von Widersprüchen ist aufwendig und kann unerwünschte Konsequenzen nach sich ziehen. Doch wir haben gelernt, ungelöste Widersprüche einzubauen – in unser Denken und in unser Leben.

Freilich bleibt auch das nicht ohne Folgen: Jeder einzelne verinnerlichte Widerspruch sorgt dafür, dass wir uns ein bisschen mehr fesseln. Wir schauen nicht mehr überall hin, denken nicht mehr über alles nach und engen unseren Horizont selbst ein. Wir mögen Widersprüche nicht, versuchen aber trotzdem ein gutes Gefühl zu haben. Gleichzeitig verstricken wir uns immer mehr in seltsame Kompromisse und Sichtweisen, deren einziger Zweck darin besteht, offensichtliche Falschheiten zu überdecken und unser Denken einzuhegen. Hierzu habe ich ein paar haarsträubende Absurditäten zusammengetragen, die derzeit unsere Sicht auf die Welt vernebeln und uns daran hindern, uns selbst klar und widerspruchslos zu positionieren.

Gefangen im Strudel menschengemachter Absurditäten

Wir schalten in Deutschland Atomkraftwerke ab, weil bei einem Unfall in einem japanischen Kernreaktor, der durch einen Tsunami ausgelöst wurde, kein Mensch zu Tode gekommen ist. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was passiert, wenn wir dieses Denken, mit dem wir jedes noch so unrealistische Risiko ausschließen wollen, auf die Flüchtlingspolitik anwenden würden? Wir müssten dann auch „Einwanderer“ wie die Kartoffel und die Tomate wegen akuter Allergiegefahr abschieben. Ganz zu schweigen von den Zugvögeln, diesen flatternden Viren-Schlepperbanden!

Wir essen vegane Leberwurst, haben aber Angst vor unnatürlichen Lebensmitteln. In unserer Liebe zur Natürlichkeit ziehen wir an den Stadtrand, um dort mehr Natur und Ruhe zu haben. Gleichzeitig packen die wilden Tiere dort ihre Koffer und ziehen in die City, weil es dort viel wilder zugeht und es mehr zu fressen gibt. Jeder Städter weiß inzwischen, dass man Füchse nicht in den symmetrisch durchpflügten Kulturlandschaften oder in den kultivierten Wäldern findet, sondern in den Stadtparks. Wir haben Angst vor Milben und Bakterien, freuen uns aber tierisch darüber, dass endlich wieder Wölfe in unseren Wäldern heimisch werden.

Wir machen uns stark gegen die moderne intensive Landwirtschaft, dabei ist sie der einzige Weg, wie wir den Flächenverbrauch in der Lebensmittelproduktion reduzieren können – es sei denn, wir verbieten den Armen das Essen. Wir nennen das dann Naturschutz und die Bewahrung traditioneller Lebensweisen, verdrängen aber, dass traditionelle Leben vor allem eins sind: kurz. Dabei wollen wir doch alle gesund leben und alt werden. Aber eine Gesellschaft, in der viele Menschen genau das schaffen, nennen wir überaltert und krank! Wir wollen alt werden, ohne alt zu sein, und kaufen alles, wo Anti-Aging draufsteht.

Wir haben kein Problem damit, wenn ein bulliger bärtiger weißer Mann von sich behauptet, eine im falschen Körper gefangene Lesbe zu sein. Wenn derselbe Kerl aber behauptet, mit dem Wort Negerkuss keine rassistischen Motive zu verbinden, dann sollen wir ihm dies nicht glauben, weil das ja gegen jede natürliche Logik wäre. Wir können selbst und aktiv ganze Länder in Schutt und Asche legen, wenn wir dabei nur ein gutes Gefühl haben und glauben, im Recht zu sein. Und wenn man das schlau einfädelt und freundlich dabei lächelt, ist man reif für den Friedensnobelpreis.

Politische Korrektheit verhindert Klarheit

Wir haben uns daran gewöhnt, solche offensichtlichen Widersprüche nicht zu thematisieren. Und warum? Weil wir nicht daran glauben, sie auflösen zu können. Wer nicht an die Lösung von Widersprüchen und Problemen glaubt, für den gibt es auch keinen Grund, sie beim Namen zu nennen. Lieber bleiben wir mit offenen, aber stummen Mündern am Straßenrand stehen und versuchen zu vergessen, dass es anders sein könnte. Und genau das ist der Treibstoff, der die Kultur der politischen Korrektheit befeuert: Instinktiv drücken wir uns davor, Dinge klar auszusprechen, weil uns anerzogen wurde, dass dies im Zweifel Probleme bereitet.

Wir haben diese Kultur der redseligen Sprachlosigkeit schon sehr weit verinnerlicht: Wir nutzen heute Sprache häufig nicht mehr zum Brückenbauen, sondern zum Verschleiern von Schluchten. Wir halten mit unseren wirklichen Überzeugungen hinter dem Berg und verbergen uns, um nicht anderen Menschen auf den Schlips zu treten. Politische Korrektheit ist kein Sprachführer in eine zivilisierte und anständige Gesprächskultur, sondern sie besiegelt das Ende des Gesprächs und formuliert ein Vermummungs-Gebot für unser Denken. Politische Korrektheit ist eine westliche Burka für den eigenen Verstand.

Alles, was anders ist, ist gut

Dabei gibt es zahllose Beispiele dafür, dass es auch anders geht. Ich meine damit weder besonders schlaue Bücher oder sonstige Erzeugnisse der Hochkultur. Auch die Alltagskultur hat so manche Perle zu bieten, auch wenn diese zuweilen verborgen sind im Trivialen und im Entertainment. Sie kennen bestimmt den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“: Der Zyniker und Menschenfeind Phil Connors, gespielt vom großartigen Bill Murray, wird solange in einer quälenden Zeitschleife festgehalten und muss ein und denselben Tag immer und immer wieder erleben, bis er seinen Zynismus überwindet, zu seinen inneren Gefühlen vordringt, seine Weltsicht verändert und sich so aus eigener Kraft zu einem anderen Menschen entwickelt hat.

Als er es nach unzähligen Versuchen tatsächlich schafft, der Zeitschleife zu entfliehen, sagt er diesen großartigen Satz: „Irgendwas ist anders. Alles, was anders ist, ist gut.“ Er meint damit nicht, dass nun wirklich alles gut wird. Er meint, dass Veränderung an sich gut ist, weil sie von uns beeinflusst werden kann, weil sie menschengemacht ist, und weil Menschen eben nicht nur Gefangene und Opfer sind, sondern Macher, Infragesteller, Zweifler, Umdenker, Umlenker und auch Rebellen für eine andere Zukunft. Ja, das ist auch anstrengend. Aber für was soll man denn eigentlich seine Kräfte aufsparen? Auch wer gesund stirbt, ist tot.

 

Der Artikel ist am 22. Juli 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.