Politik als gewissensfreie Zone

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26.01.2020 – Wenn Parteien an die Grenzen ihrer Willensbildung stoßen, müssen die Abgeordneten ihrem Gewissen und nicht der Fraktionsdisziplin folgen. Das schadet der Debattenkultur. Die Gewissensfreiheit hat es nicht verdient, als Lückenbüßerin für eine desorientierte Politik herhalten zu müssen.

Mitte Januar 2020 war es wieder einmal soweit: Im Deutschen Bundestag stand eine Entscheidung auf der Tagesordnung, bei der sich die Abgeordneten nicht der Fraktionsdisziplin beugen, sondern ihrem eigenen Gewissen folgen sollten. Solche „freien“ Abstimmungen sind eher selten. Sie finden in der Regel bei Themen statt, denen eine besondere ethische Dimension zugeschrieben wird. Diese sollen nicht nach parteitaktischen Erwägungen diskutiert werden, sondern werden dem Gewissen des einzelnen Abgeordneten überlassen. Jüngst wurde im Bundestag über die künftige Organspende auf dem Wege einer freien „Gewissensentscheidung“ der Abgeordneten befunden: Es lagen zwei Gesetzesentwürfe vor, die von Abgeordneten verschiedener Fraktionen ausgearbeitet worden waren. Die Abstimmung erfolgte frei.

Welche Entscheidung ist keine Gewissensentscheidung?

Auf Basis von Gewissensentscheidungen wurde 2017 auch über die „Ehe für Alle“ entschieden. 2016 stimmte der Bundestag „offen“ über die Zulassung von Medikamententests an Demenzkranken ab, ein Jahr zuvor war es das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe, 2011 die teilweise Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. Historisch war die freie Entscheidung der Parlamentarier über den künftigen Regierungssitz im Jahre 1991. Interessant ist, dass immer dann die besondere Qualität der parlamentarischen Debatte betont wird, wenn es dort „frei“, also ohne Fraktionszwang zugeht – ganz so, als empfinde der politische Apparat seine eigenen Gepflogenheiten als wenig hochwertig. Dem interessierten Beobachter drängt sich da die Frage auf: Warum eigentlich nicht öfter auf diesem Wege Entscheidungen fällen?

Weitere Fragen tauchen auf: Wie und nach welchen Kriterien soll zwischen Themen, die nicht unter Fraktionszwang entschieden werden und denen mit freier Entscheidung unterschieden werden? Und wer entscheidet das? Wenn in beiden Fällen am Ende Gesetzesbeschlüsse stehen, woran zeigt sich in der Umsetzung, welches Gesetz in Fraktionsdisziplin und welches in einer freien Entscheidung beschlossen wurde? Sind die einen für die Bürger weniger bindend als andere, haben die einen weniger Auswirkungen als die anderen? Wenn bei manchen Fragen das Gewissen des einzelnen Abgeordneten entscheiden soll, ist dies dann bei anderen Entscheidungen nicht der Fall? Gibt es objektiv und notwendigerweise gewissenlose Entscheidungen? Und wenn ja, welche sind das? Sind Fragen, über die Parteien geschlossen abstimmen, keine ethisch relevanten? Muss ein Abgeordneter bei Entscheidungen über Krieg und Frieden, Altersarmut oder Krankenhausfinanzierung sein Gewissen ausschalten, weil seine Partei dies so beschließt?

„Ethik“ ist nicht unpolitisch

Nein, ein Bundestagsabgeordneter muss sein Gewissen nicht ausschalten. Formal gibt es keinen Fraktionszwang. Jeder Bundesabgeordnete ist als freier Mandatsträger immer und zu jeder Zeit seinem Gewissen verpflichtet. Weder seine Partei noch seine Fraktion oder sein Wahlkreis können ihm Weisungen erteilen oder sein Verhalten sanktionieren. In der Praxis sieht das freilich anders aus: Als Abgeordneter verdankt er seine Nominierung seiner Partei, und wenn er nach Ablauf seines Mandats erneut nominiert und auch gewählt werden möchte, empfiehlt es sich, parteikonformes, zumindest aber parteinahes Verhalten an den Tag zu legen.

Dass diese unausgesprochene Verpflichtung bei manchen Abstimmungen praktisch ausgesetzt wird, wird damit erklärt, dass es bestimmte Themen gebe, in denen die Freiheit der Meinung schwerer wiege als die durch die Parteien organisierte politische Willensbildung. Diese Fälle werden in der Regel als „ethisch und moralisch komplex“ und damit als für kontroverse Debatten ungeeignet beschrieben. Doch thematisch haben die Fälle, in denen frei entschieden wird, tatsächlich kaum Berührungspunkte, die sie nicht auch mit anderen Fragen hätten. Es ist nicht einzusehen, warum die Entsendung von Bundeswehrsoldaten nicht auch aus Gewissensgründen abgelehnt werden oder die Kürzung von Bildungsetats oder Sozialabgaben mit dem Gewissen eines Abgeordneten nicht vereinbar sein könnte.

Politik auf dem Rückzug

Ich denke, Ehrlichkeit wäre auch hier angebracht. Die unterschiedliche Behandlung von bestimmten politischen Fragestellungen zeigt mehr als alles andere, dass es Themen gibt, bei denen die organisierte Willensbildung in den Parteien an Grenzen stößt. Diese Bereiche dann aber als besonders hochwertig, weil ethisch weitreichend zu beschreiben, hilft niemandem weiter. Es ist schlicht nicht erklärbar, warum die Festlegung des gesellschaftlich akzeptablen Mindestrenteniveaus keine Frage ethischer Dimension und nicht Gegenstand kontroverser Debatten sein soll, zumal das die Themen sind, die auch die Bürger bewegen. Das Ausklammern mancher Themen aus dem Ideenwettbewerb wertet Politik insgesamt nicht nur ab, sondern entlässt die gewählten Parteien endgültig aus ihrer politischen wie auch moralischen Verantwortung gegenüber den Wählern.

Man kann die Tatsache, dass es bei manchen Fragen keine bindenden Parteilinien gibt, durchaus kontrovers diskutieren. Doch gerade diesen Umstand als Ausdruck der Qualität der demokratischen Debattenkultur zu zelebrieren, halte ich für problematisch. Es ist spannend zu beobachten, wie bei manchen politischen Themen nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Bereitschaft schrumpft, persönlich klare Standpunkte zu vertreten und entsprechend Entscheidungen für oder gegen etwas zu verantworten. Das ist alles andere als ein verantwortungsbewusster Umgang mit Fragen des täglichen Lebens. Für mich klingt das Ganze eher wie ein Versuch, das Scheitern der organisierten Willensbildung und das Fehlen inhaltlicher Kohärenz von Parteien als „moralisch gebotene Zurückhaltung“ und somit als Stärke umzudefinieren.

Elitäre Debattenverweigerung

Da dies häufig Themen betrifft, die in der Gesellschaft besonders emotional diskutiert werden, kann die Verweigerungshaltung der Parteien durchaus auch als Mutlosigkeit interpretiert werden. Paradoxerweise vertieft gerade dies den Graben zwischen der Politik und der Bevölkerung: Während die Bürger die Gesetze zu befolgen haben – ganz gleich, wie sie beschlossen wurden – schleicht sich die organisierte Politik aus der Arena und tut so, als dürfe man hier nicht mit harten Bandagen argumentieren. Während also das Volk sich zu Fragen über Krieg und Frieden, über Altersarmut, Abtreibungsrecht, Migration, Hartz IV, Gesundheitsversorgung undsoweiter die Köpfe heiß redet, feiern sich die ethisch-bewussten Politiker als Bewahrer der demokratischen Debattenkultur, weil sie sich weigern, manche Themen kontrovers zu debattieren.

Dies, mit Verlaub, ist ein fatales Signal. Gerade so wird die Annahme zementiert, als habe Politik weder etwas mit Ethik noch mit Moral oder mit dem wirklichen Leben zu tun. Die Furcht, Konflikte und Meinungsunterschiede innerhalb von Parteien offen zu diskutieren, zeugt von der Unfähigkeit, stringente Positionen und entsprechende Profile zu entwickeln. Dabei täte heute ein höherer Anspruch an die eigene Willensbildung Not. Und wenn schon das nicht gelingt, dann wäre zumindest das offene und selbstbewusste Aushalten grundlegender Differenzen ein ermutigendes Lebenszeichen der Demokratie. Die freie Gewissensentscheidung hat es nicht verdient, als Ersatz für eine desorientierte Politik herhalten zu müssen.

Dieser Artikel ist am 26. Januar 2020 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.