Die im Zuge der „Harmonisierung des EU-Urheberrechts“ drohende De-facto-Abschaffung der „Panoramafreiheit“ ist ein typisches Beispiel für die gewollte Entpolitisierung des europäischen Einigungsprozesses: Vereinheitlicht wird grundsätzlich immer auf dem rechtstaatlich und freiheitspolitisch niedrigstem Niveau – und möglichst ohne öffentliche Debatte.
Ferienzeit ist Reisezeit ist Selfiezeit. Ob mit oder ohne Selfie-Stick aufgenommene Selbstportraits vor bekannten Sehenswürdigkeiten über soziale Netzwerke verbreiten gehört ebenso zum üblichen (wenngleich zuweilen leicht anstrengenden) Urlaubsritual, wie es früher der Versand von Postkarten mit Urlaubsgrüßen war. Doch aus diesem belanglosen wie beschwingten Reisevergnügen droht nun eine Angelegenheit zu werden, deren Rechtmäßigkeit von Fall zu Fall, von Foto zu Foto, auf der Kippe steht. Einmal mehr geht die Regulierungswut der europäischen Politik zulasten der Freiheit.
Am 16. Juni 2015 hat der Rechtsausschuss des Europaparlaments einen „Bericht über die Evaluation des EU-Urheberrechts“ angenommen. Ziel ist es, EU-weit das Urheberrecht zu „harmonisieren“. Die so angestrebten Veränderungen betreffen auch die sogenannte „Panoramafreiheit“. Darunter versteht man, wie Rechtsanwalt Hendrik Wieduwilt in seiner Kolumne „Fokus Fotorecht“ auf www.fotomagazin.de erklärt, „grob gesagt die Freiheit, Gebäude und dauerhafte Kunstwerke zu fotografieren und entsprechende Fotos beliebig zu verbreiten.“
Diese Panoramafreiheit existiert bislang in der Mehrheit der EU-Staaten, auch in Deutschland: Hier dürfen (mit ein paar Einschränkungen) Gebäude samt Kunstwerken von öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen aus fotografiert von jedem Menschen werden. In anderen Ländern ist hingegen nur das private, nichtkommerzielle Fotografieren gestatten. In Frankreich existiert die Panoramafreiheit in dieser Form hingegen gar nicht: Daher kann das Verbreiten von Fotos über soziale Netzwerke des bei Nacht beleuchteten Eiffelturms im Internet eine Urheberrechtsverletzung darstellen. Der Grund: Die Betreibergesellschaft „Illuminations Pierre Bideau“ pocht auf ihrem Urheberrecht für nächtliche Aufnahmen, auf denen der bestrahlte Eiffelturm das Hauptobjekt darstellt („Eiffelturm bei Nacht: Zum Abschuss freigegeben!“).
Wie in sehr vielen anderen Zusammenhängen in den letzten Jahren immer wieder zu beobachten war, bedeutet „Harmonisierung“ in der Europäischen Union nichts Gutes: Denn europaweite Vereinheitlichungsprozesse werden von den Politstrategen in Brüssel und Straßburg nicht in öffentliche politische Diskussionen darüber eingebettet, auf welche Art von „Harmonisierung“ sich die europäischen Wahlbevölkerungen verständigen wollen und auf welchem der unterschiedlichen existierenden Regulierungsniveaus man sich letztendlich einigen will. Stattdessen wird der Vereinheitlichungsprozess mehr oder minder unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgewickelt, ohne dass hier eine Rückkopplung zu den Menschen erwünscht ist.
Die in dieser Form üblichen EU-Entscheidungsverfahren haben in der Regel eine Konsequenz: Sie führen zu Entscheidungen, in denen konkrete Interessen der Menschen oder aber das Kriterium der Alltagstauglichkeit kaum eine Rolle spielen. Bei „Harmonisierungen“, die Fragen individueller Freiheiten oder Rechte berühren, kann daher fast mit Gewissheit davon ausgegangen werden, dass der Kompromiss, dem die angestrebte „Vereinheitlichung“ zugrunde liegt, sich am restriktivsten existierenden nationalen Regulierungsniveau orientiert, um die Nationenvertreter nicht vor den Kopf zu stoßen und um wütende nationale Debatten zu vermeiden. Lieber passt man sich in Brüssel und Straßburg an diese niedrigen Standards an und versucht, dies möglichst unbemerkt zu tun. Oft gelingt dass, denn das Ur-Motiv der europäischen Einigung, Entscheidungsprozesse aus den nationalen politischen Räumen herauszuheben und damit auch aus dem konkreten politischen Interesse und der Aufmerksamkeit der Menschen Europas zu tilgen, funktioniert prächtig.
Die am 9. Juli 2015 zu beschließende Harmonisierung des EU-Urheberrechts droht, die restriktive französische Regelung, die einer Abschaffung der Panoramafreiheit gleichkommt und der es zu verdanken ist, dass nächtliche Eiffelturm-Fotos im Zweifel Urheberrechtsverletzungen darstellen, auf ganz Europa auszuweiten. Zwar sollen die Beschränkungen, wie beschwichtigend betont wird, nur auf zu kommerziellen Zwecken erstellte Fotografien ausgerichtet sein. Doch hier zeigt sich einmal mehr die gewollte Realitäts- und Menschenferne des Brüsseler Beschlusswesens: Natürlich werden die privaten Urlaubs-Selfies nicht von einer Bildpolizei aus den Digitalkameras oder Handys gelöscht, und selbstverständlich darf man seine Urlaubsfotos auch weiterhin Oma und Opa zeigen, ohne dafür Gebühren entrichten zu müssen.
Anders sieht es hingegen aus, wenn man seine Fotos oder gar sein Urlaubsvideo auf Facebook veröffentlichen möchte. Da die Nutzer von Facebook in Abschnitt 9.1 der Nutzungsbedingungen dem Netzwerk die Erlaubnis „zur Nutzung deines Namens, Profilbilds, deiner Inhalte und Informationen im Zusammenhang mit kommerziellen, gesponserten oder verwandten Inhalten“ erteilen und sich Facebook zusätzlich in Abschnitt 5.1 versichern lässt, dass die Nutzer „keine Inhalte auf Facebook posten oder Handlungen auf Facebook [durchführen werden], welche die Rechte einer anderen Person verletzen oder auf sonstige Art gegen das Gesetz verstoßen“, verlässt das Foto oder das Filmchen mit dem Hochladen den Bereich der eindeutig ausschließlich nicht-kommerziellen und rein privaten Nutzung. Juristen befürchten, dass künftig Facebooknutzer aufgrund des Veröffentlichens von Fotos, mit dem diese die Rechte anderer verletzt oder gegen das Gesetz verstoßen, massenweise abgemahnt werden können, „mit bis zu 1.500 Euro pro Bild“. (Stephan Ebmeyer: „Selfie könnte zum Streifall werden“, 25.6.15)
Die im EU-Bürokratendenken scheinbar so klare Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Nutzung ist eben in der modernen Wirklichkeit nicht so leicht möglich; die Welt ist komplexer, als man von Brüssel aus sehen kann. In einem solchen Falle greift dann aber der EU-Reflex: im Zweifel harmonisieren auf unterstem Level, damit alle Fälle rechtlich einwandfrei geklärt sind, unabhängig davon, ob das nun mit Bürger- und Freiheitsrechten kollidiert oder nicht, solange nur die Grauzonen verschwinden, denn Grauzonen sind gefährlich: sie suggerieren Freiräume, und solche sind immer potenzielle Brutstätten von Kriminalität und Terror.
Die drohende Zerstörung der Panoramafreiheit ist also in seiner Wirkung eben nicht nur für professionelle Fotografen ein Problem, sondern für jeden Bürger. Selbst wenn aber die Panoramafreiheit lediglich eine Freiheit für Fotojournalisten wäre, hätten alle Bürger unter den Konsequenzen ihrer Abschaffung zu leiden. Schon allein der Versuch, die Menschen mit dem Argument zu beschwichtigen, es gehe ja nur um professionelle und kommerziell arbeitende Fotojournalisten, offenbart, wie in der EU auf die eigenen Bürger herabgeblickt wird: Es scheint, als müssten unbescholtene Bürger von „professionelle und kommerziell arbeitenden Journalisten“ abgesondert und geschützt werden, denn deren Berufung besteht offenbar darin, bestehende Freiheitsrechte moral- und hemmungslos zu missbrauchen.
Diese Sichtweise ist kein Ausrutscher – denn tatsächlich sind es gerade die politischen Eliten, die die Vorstellung von der schmarotzenden machtgeilen Medienwelt erst populär machen. Es sind auch dieselben Politiker, die dann, wenn ebendieses Denken Fuß fasst und von wütenden Menschen auf den Straßen lauthals mit Beschimpfungen der „Lügenpresse“ zum Ausdruck gebracht wird, umgehend weitere Beschneidungen von Freiheitsrechten fordern. So entwickelt sich der europäische Regulierungs- und Kontrollapparat zu einem Perpetuum mobile: Er heizt die Freiheitsfeindlichkeit an, um dann im Kampf gegen diese Freiheitsfeinde weitere Freiheiten dem Recht auf Sicherheit zu opfern.
Gegen diesen autoritären Automatismus sollten sich alle Bürger zu Wehr setzen – egal ob sie nun professionelle Fotografen oder Selfie-Schützen sind, ob sie sich für Kunst und Kultur interessieren oder nicht. Gerade auch Fotojournalisten sollten sich bei dieser Frage nicht länger hinter ihrer Kamera verstecken und die Welt nur durch ihr eigenes Objektiv beobachten – dazu steht zu viel auf dem Spiel: Die drohende De-facto-Abschaffung der Panoramafreiheit ist nur eine Variante des schrittweisen Abbaus von Freiheitsrechten in Europa, allerdings eine mit Symbolcharakter: Der Gedanke der Demokratie war und ist untrennbar verbunden mit dem Gedanken, dass sich jeder Mensch selbst ein Bild von der Welt machen und seine Sicht der Welt mit anderen Menschen teilen können soll. Wir brauchen klare Sicht, um bewusste Entscheidungen zu treffen. Insofern ist die „Panoramafreiheit“ auch im übertragenen Sinne eine demokratische Kernfreiheit, die wir nicht einem inhaltsleeren technokratischen Harmonisierungsstreben opfern sollten.
Der Artikel ist am 25.6.2015 auch auf der Website BFT Bürgerzeitung erschienen.