Ein sehr ausführliches Gespräch mit biografischen Zügen, aber auch hochaktuellen Bezügen. Themen: AfD, Grüne, Parteienkrise, Zeitgeist, Optimismus und der Weg von der Straßenpolitik auf die Bühne. Dank an Kai Rogusch.
Novo-Mitbegründer Matthias Heitmann nimmt seit 2017 als kabarettistische Kunstfigur namens „FreiHeitmann“ den Zeitgeist aufs Korn. Sein aktuelles Programm heißt „Fürchtet euch nicht!“
Kai Rogisch (Novo): Du analysierst und kommentierst seit über 30 Jahren das politische Geschehen. Wie hast Du die Gesellschaft wahrgenommen, als Du Ende der 1980er-Jahre als Linker politisch wurdest? War die Zeit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks für Dich eine Phase der Befreiung?
Matthias Heitmann: Meine politische Orientierung begann, als im Frühjahr 1989 die rechte Protestpartei „Die Republikaner“ in den Frankfurter Römer gewählt wurden. Ich wuchs in die links-autonome Szene hinein. Dort wurden die Jahre 1989 und 1990 nicht als Zeit der Freiheit angesehen, sondern als Zeit der enormen Bedrohung: Die Erfolge von Protestparteien wurden mit dem Untergang der DDR als Anfang des sogenannten „Vierten Reichs“ interpretiert.
Warst Du schon damals in der Linken ein Nonkonformist?
Nein, ich hatte aber das Glück, auf Leute zu treffen, die viele Sachen anders sahen als klassische Linke. Auf einer linken Anti-Wiedervereinigungsdemonstration nahm ich ein Flugblatt mit, auf dem aus linker Perspektive für die Wiedervereinigung argumentiert wurde. Das war für mich kontrovers, aber intellektuell interessant, und ich begann, mich damit auseinanderzusetzen. Die Gruppe nannte sich „Linkswende“, und zwei Jahre später war ich dann selbst an der Gründung ihres Magazins „Novo“ beteiligt.
Das führte bei mir zu einer Entfremdung von meinem linken Umfeld, denn die „Linkswende“ hatte auch mit dem typischen Antifaschismus nichts am Hut. Sie argumentierten aus antirassistischer Sicht gegen ein Verbot von Rechtsradikalen, da sie den Staat nicht als Lösung sahen und ihm nicht zugestehen wollten, darüber zu entscheiden, was Leute sagen dürfen und was nicht. Da wurde mir zum ersten Mal klar, dass es große inhaltliche Unterschiede in der Linken gibt und ich inhaltlich bislang nur an der Oberfläche gekratzt hatte. Als ich mich der Gruppe anschloss, büßte ich fast meinen kompletten Freundeskreis ein.
In den frühen 1990er-Jahren begann der Jugoslawienkrieg. Das westliche militärische Eingreifen wurde von den Autoritäten nicht mit klassischen imperialistischen Gründen gerechtfertigt, sondern mit menschenrechtlichen. Wie hat die Linke damals auf diese Argumente reagiert?
Die radikale Linke war damals weitgehend gegen Bundeswehreinsätze. Aber im grün-pazifistischen Milieu änderte sich die Einstellung. Es gab Berichte über „KZs in Jugoslawien“, und da kippte die Stimmung. Aus dem platt-pazifistischen „Nie wieder Krieg“ wurde bei vielen der pro-interventionistische Slogan „Nie wieder Auschwitz“.
In der heutigen grünen Politik ist der der Trend zu Elitenherrschaft kaum zu übersehen. Wann wurde Dir zum ersten Mal bewusst, dass diese Ausrichtung eigentlich der Grundidee eines linken Humanismus zuwiderläuft?
Das war ein langsamer, schmerzhafter Prozess, da ich ja als linksgrün-autonomer Alternativer mich von meinen eigenen Wurzeln trennen musste. Im Rahmen meiner Magisterarbeit habe ich mich dann in den späten 1990er-Jahren intensiv mit den Grünen beschäftigt. Immer wieder stolperte ich über deren offen elitäre Ausrichtung, die Distanz zu den normalen Leuten und den Impetus, diese umerziehen zu müssen. Joschka Fischer hatte gerade als erster grüner Bundesaußenminister deutsche Truppen auf den Balkan geschickt. Es gab dann zwar noch den Farbbeutelwurf auf Fischer beim Grünen-Parteitag 1999, aber das war nur noch ein Wurf der Verzweiflung, weil der Drops schon gelutscht war.
Wann wurde Dir klar, dass die Ideen der Grünen mehr und mehr Besitz ergriffen von den anderen Parteien?
Dass Politik insgesamt grün wird, wurde bereits in den 1980er-Jahren in Ansätzen klar. Nach dem Atomunfall von Tschernobyl 1986 wurde unter Kanzler Helmut Kohl das Bundesumweltministerium geschaffen. Der erste Bundesumweltminister wurde der erzkonservative Walter Wallmann, der zuvor Oberbürgermeister von Frankfurt war. Da merkte ich: Man kann Umweltpolitik ohne Zottelhaare machen, man kann grüne Politik aus dem ursprünglichen Kontext herauslösen und in andere Kontexte hineinpflanzen.
Schon ab Mitte der 1990er-Jahre wurden Kritiker von EU, Klimapolitik etc. mehr und mehr ins politische Abseits gedrängt. Die Diskursverweigerung und Intoleranz war gerade auf Seiten der Linken sehr stark und hat sich dann immer mehr in die politische Mitte ausgedehnt. War das damals schon absehbar?
Die Diskursverweigerung gab es damals schon, gerade auch unter Linken. Gleichzeitig gab es aber noch viel mehr politische Debatten, es herrschte noch eine lebendigere und robustere Debattenkultur. Und es gab unterschiedliche politische Flügel in den Parteien. Gleichzeitig hatten die Parteien aber auch noch stärkere politische Profile, und um diese herum gab es dann die Reibereien. In dem Maße, in dem die Profile der Parteien seither abgeflacht sind, haben auch die Diskussionen nachgelassen.
Man muss sich die Situation vor Augen führen: Wir hatten 1990 die Wiedervereinigung und den Triumph des marktwirtschaftlichen westlichen Systems erlebt, was eigentlich auch den Triumph klassisch marktwirtschaftlich orientierter Politik gegenüber linker sozialistischer Politik hätte bedeuten müssen. Doch diese Euphorie verpuffte schnell, wenn sie überhaupt jemals existiert hat. 1992, also nur zwei Jahre später, wurde in Deutschland „Politikverdrossenheit“ zum Wort des Jahres gekürt. Die Wiedervereinigung war nur ein kurzer Moment der Euphorie, und dann setze der Zerfall der politischen Orientierungen wieder ein.
Da konnte man sehen, wie sich die doch sehr verunsicherte politische Elite gedanklich nach Brüssel flüchtete. Die Europäische Union wurde zu einer Art Schutzburg für unter Druck geratene nationale Eliten. Man mauerte sich dort ein vor den Leuten und entzog sich zunehmend der demokratischen Rechenschaftspflicht. Dennoch war schon damals Kritik an der EU nichts linkes, sondern galt als Versuch, Nationalismus hoffähig zu machen. Seitdem ist ein beschleunigter Zerfall der politischen Ausrichtungen nicht nur links, sondern auch rechts zu beobachten, und dieser Zerfall schreitet weiter voran, bis heute.
Ende 2017 hattest Du unter dem Kunstnamen „FreiHeitmann“ Deinen ersten Auftritt als Kabarettist. Wie kam es dazu?
Nach 18 Jahren bei Novo hatte ich mich journalistisch selbstständig gemacht und mir neue Publikationsorte erschlossen. 2011 war das noch sehr interessant, weil es noch mehr Veröffentlichungsorte gab. Ich begann, mich intensiver mit dem Thema Zeitgeist auseinanderzusetzen. So entstand 2015 mein Buch „Zeitgeisterjagd“, ein Essayband, in dem ich ganz unterschiedliche Aspekte des Zeitgeistes beleuchtet habe.
Gemeinsam mit dem Radiomoderator Tim Lauth entwickelte ich eine wöchentliche Radiokolumne, die anderthalb Jahre auf Antenne Frankfurt lief. Irgendwann fragte dann jemand, was mit dem ganzen Material passiere. Und so entstand die Idee, dass vielleicht Kabarett auf der Bühne auch ein Weg sein könnte, um politische Punkte zu machen, gerade in Zeiten, in denen andere Möglichkeiten kleiner wurden.
Ein Bekannter stellte uns dann der hochgeschätzten Leiterin des Frankfurter Kabarett-Theaters „Die Schmiere“, Effi Rolfs, vor. Die hatte tatsächlich den Mut, uns auftreten zu lassen, und es funktionierte. So öffnete sich für mich ein neuer Veröffentlichungsraum. Solche Möglichkeiten zu nutzen ist bis heute mein Antrieb.
Hast Du den Eindruck, dass aller Diskursverengung in den etablierten Medien zum Trotz in der Bevölkerung die Aufgeschlossenheit gegenüber abweichenden Sichtweisen größer geworden ist?
Die Neugier der Menschen ist immer da, bricht aber in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich stark durch. In der Coronazeit haben viele Leute dicht gemacht und wollten nichts hören, weil sie verängstigt waren und nicht in radikale Ecken gedrängt werden wollten. Es gibt aber immer Leute, die merken, wenn irgendetwas nicht stimmt, und die dann abweichende Standpunkte entwickeln. Es fällt heute nur sehr schwer, diese unterschiedlichen Punkte der Abweichung sinnvoll miteinander zu vernetzen, damit eine Art programmatisches Netz entsteht, das dabei hilft, die Welt besser zu verstehen. Es geht dann zumeist sehr emotional, spontan, aber sehr selten nachhaltig zu.
Aber kann man nicht sagen, dass die Erfolge populistischer Parteien in Europa darauf hindeuten, dass der Populismus gekommen ist, um zu bleiben? Wir sehen ja Entwicklungen wie den vollzogenen Brexit…
Ich weigere mich, diese Dinge in den Topf zu werfen, den uns die etablierten Parteien hinhalten. Für mich ist der Brexit ein ganz anderes Thema als die AfD. Der Brexit ist eine offene Auflehnung einer knappen, aber trotzdem einer hinreichenden Mehrheit der britischen Bevölkerung gegen die Fremdbestimmung aus Brüssel. Diese Auflehnung hatte institutionelle Folgen: Die Briten wollten ihre Politiker selbst zur Verantwortung ziehen können, sie wollten ihnen die Möglichkeit nehmen, sich hinter Entscheidungen aus Brüssel zu verstecken. Deswegen bin ich auch heute noch ein großer Brexit-Fan. Natürlich regieren in Großbritannien immer noch die alten Parteien, doch eröffnete sich die Möglichkeit, dass sich die Strukturen auch einmal ändern können. Der Brexit war deshalb ein Ausbruch aus der Versteinerung, aus dem tiefgefrorenen politischen System.
Die AfD ist das Gegenteil eines Aufbruchs. Ich halte sie für ein Auffangbecken für politisch entwurzelte Inlandsflüchtlinge. Ein großer Teil von Leuten, die jetzt der AfD die Stimme gegeben haben, hätte sie lieber jemand anderem gegeben. Die Flüchtlinge gehen ja auch nicht ins Flüchtlingslager, weil sie das Flüchtlingslager toll finden, sondern weil sie eigentlich woanders hinwollen.
Die Leute bleiben in der AfD stecken, sie werden dort zusammengepfercht. Von außen wird auf sie eingeschlagen, und daraus verfestigt sich etwas, was inzwischen der Wählerstamm ist, der sie bequem in den Bundestag bringt. Die Leute werden dort außen eingesperrt, es werden ihnen keine Möglichkeiten gegeben, dort wieder herauszufinden, es werden keine Türen geöffnet, es gibt keinerlei diplomatischen Bemühungen, mit diesen Leuten auf Augenhöhe in Kontakt zu treten, man hält sie in politischer Quarantäne.
Kann man sagen, dass man es gerade durch die Quarantänepolitik gegenüber abweichenden Ansichten über die AfD auch geschafft hat, immer mehr Positionen, die früher einmal legitime Minderheitenposition waren, jetzt unter Rechtsextremismusverdacht zu stellen und damit vollständig aus der politischen Diskussion herauszunehmen?
Ja, mit Sicherheit hat dies die akzeptablen Meinungskorridore weiter verengt. In der AfD sitzen vielleicht Leute, die den einen oder anderen interessanten Punkt machen. Als eine funktionierende politische Partei, die ihre Dynamik nicht nur aus den Schwächen der Konkurrenz zieht, ist sie aber nicht existent. Dass sie Stimmungen nutzt, ist legitim, aber die AfD bleibt auf diesem rein emotionalen Level und versucht eben nicht, dies in ein halbwegs kohärentes Programm zu gießen. Sie bleibt zumeist bei ihrer inhaltslosen Bockigkeit und gefällt sich darin. So entwickelt man keine Alternativen für Deutschland. Die AfD stellt sich stattdessen als Gegenpol zu Political Correctness und Gendern auf. Das ist alles schön und gut, nur: Da sonst wenig Substanz da ist, macht sich die AfD selbst zu der Karikatur, die andere von ihr malen. Und das ist auf Dauer langweilig.
Was verstehst Du unter Zeitgeist? Was unterscheidet den heutigen Zeitgeist von dem früherer Epochen?
Der Zeitgeist spiegelt gesellschaftliche Grundstimmungen und Grundhaltungen wider. Die kommen in unterschiedlichen Facetten daher, werden zwar tagespolitisch eingefärbt und überlagert, aber es gibt darunter grundlegende, prägende Trends und langfristig wirkende politische Entwicklungslinien: die Unzufriedenheit mit der Demokratie, die Abgehobenheit, das Elitäre. Aber der tiefere Trend ist, dass sich der Humanismus und damit der Glaube an die Entwicklungsfähigkeit des Menschen in der Defensive befinden. Das prägt unseren Zeitgeist sehr stark.
Antihumanistisches Gedankengut erscheint heute gerne verpackt als grünes Denken. Das Interessante ist, dass es heute als fortschrittlich und alternativlos gilt, Menschen vorzuschreiben, wie sie sich in Umweltfragen oder Geschlechterfragen zu verhalten und in sprachpolizeilicher Korrektheit auszudrücken haben. Dieses pessimistische Menschenbild veränderte das linke Denken. Einst glaubten Linke an die potenziell allmächtige Arbeiterklasse: an den kleinen Mann als politisches, wertschöpfendes und kreatives Subjekt, das die Dinge gemeinschaftlich nach vorne bringt. Diese Vorstellung gibt es in der politischen Landschaft nicht mehr. Stattdessen sagt man, die Leute sind so blöd und machen den Planeten kaputt, und deshalb brauchen sie erleuchtete Regierungen, um ihn zu retten.
Ein Kern unseres Zeitgeistes ist die Vorstellung, dass Menschen nicht bewusst planen, nicht abstrahieren und aus sich selbst heraus Ziele entwickeln können, um entsprechend strategisch zu handeln. Selbst auf der Ebene der Eliten scheint zumindest im öffentlichen Blickfeld die Fähigkeit abhanden zu kommen, überhaupt positive Ziele zu setzen, in Abstraktionskategorien und langfristiger zu denken. Man redet zwar unentwegt von Nachhaltigkeit, jedoch ist die sogenannte Halbwertzeit politischer Aktionen immer kürzer. Woher kommt das?
Es gibt große historische Wellen. Einerseits gab es die Zeiten von Revolution und Aufbruch – liberté, egalité und fraternité –, in denen der Humanismus durchbrach und anciens régimes wegfegte. Es entstand eine neue, kapitalistische Gesellschaft. Die entfaltete eine enorme Dynamik und hob den Lebensstandard enorm an. Doch sie stieß an Grenzen und innere Widersprüche, was zu Konflikten führte. Und diese Konflikte wurden nicht gelöst, sondern kriegerisch zwischen den kapitalistischen Nationen und auch zwischen den gesellschaftlichen Klassen ausgetragen. Es gab Revolten, die jedoch häufig steckenblieben und sich nicht so entwickelten wie gedacht.
Das alles mündete ab Mitte des 20. Jahrhunderts in einer enormen Frustration. Die zunehmende Kritik am als naiv und als zu optimistisch geltenden Humanismus zeigte sich zuerst in den akademischen Diskussionen. Die zunehmende Skepsis gegenüber dem, was der Mensch tatsächlich alles erreichen kann, ist ein Kennzeichen unseres heutigen Zeitgeistes. Der Blick auf die zurückliegenden Jahrzehnte ist sehr stark durch die Vorstellung geprägt, dass wir als Menschheit scheitern. Wir scheitern uns zwar langsam voran, aber gefühlt dominiert das Scheitern, da wir immer wieder zurückgeworfen werden und nur Bruchteile von dem erreichen, was eigentlich möglich wäre.
Ist der zunehmende Opferkult eine Folge dieses Defätismus? In Deinem neuen Bühnenprogramm sagst Du ja, dass die Leute nur noch dann so etwas wie Sinn in ihrem Leben finden, wenn ihnen das Schicksal schwere Prüfungen auferlegt, wenn sie von Krankheiten befallen werden und immer neue Ausnahmezustände in ihr Leben treten. Bekommt man heute ein Problem, wenn man kein Problem hat?
Ja, man wird dann sogar als Verharmloser angesehen. Nach dem Motto: Wie kannst Du kein Problem haben, wo doch gerade die Welt untergeht? Heute ist persönliche Betroffenheit eine der Hauptantriebsfedern auch für gemeinschaftliches Handeln. Das zeigte sich in der Corona-Zeit an den Montagsdemos und Spaziergängen, die übrigens ebenfalls klassische Opferproteste waren. Die Leute fühlen sich als Opfer von Überwachung, als Opfer von der Pharmaindustrie. Manche fühlten sich bei den Coronaprotesten sogar als Opfer einer jüdischen Weltverschwörung. Es ist ein sehr diffuses Bedrohungsgefühl, das die Leute auf die Straßen bringt. Und dieses Gefühl der Bedrohung und Entfremdung aufzunehmen ist, nebenbei gesagt, eine Kernkompetenz der AfD. Sie ist nicht nur ein Flüchtlingslager, sondern auch ein Opferlazarett.
Gibt es unterhalb der Ebene des herrschenden Zeitgeistes eine Parallelgesellschaft mit einem Gegenzeitgeist?
Der Zeitgeist hat immer eine leicht autoritäre Note. Er ist tendenziell darauf ausgerichtet, zu verallgemeinern und die ganze gesellschaftliche Kultur in eine eindimensionale Richtung zu entwickeln. Insoweit gibt es auch immer Gegenentwicklungen zum jeweiligen Zeitgeist. Im Moment sind diese ebenfalls ängstlich und basieren hauptsächlich auf persönlichen Betroffenheiten.
Es ist gut, dass es diese Gegenbewegungen gibt. Aber man sollte zur Kenntnis nehmen, dass auch sie Kinder ihrer Zeit sind. Sie reflektieren den Zustand unserer politischen Debattenkultur. Es ist ja nicht so, dass man in diesen Kreisen mit offenen Armen empfangen würde, wenn man eine abweichende Meinung hat. Auch dort haben wir es nicht mit Toleranz zu tun, sondern man gerät auch hier schnell zwischen die Mühlsteine.
Es wird heute viel über Verschwörungstheorien diskutiert. Doch wird der Begriff mittlerweile inflationär verwendet? Denn es ist doch legitim, Machenschaften und Ungereimtheiten aufzudecken …
Vielleicht ist es schwieriger, zwischen Verschwörungstheorien und sogenannter „ernstzunehmender“ Kritik zu unterscheiden, wenn diese Kritik selbst absurde Formen annimmt und offen wissenschaftliche Standards untergräbt. Das Problem ist, dass sich viele moderne Verschwörungsdiskurse kaum noch von offiziellen politischen Debatten unterscheiden.
Zudem finde ich den Umgang mit den Verschwörungstheorien problematisch. Man sollte niemandem den Mund verbieten. Stattdessen wäre es angebracht, Absurditäten in der Debatte öffentlich vorzuführen. Aber da wir es mit einer sehr ängstlichen und auch sehr unsicheren politischen Klasse und Debattenkultur zu tun haben, werden abstruse Meinungen nicht mehr zerlegt, sondern mystifiziert und dadurch interessant gemacht. Das ist nicht besonders klug, da es den modernen Protestkulturen eine Dynamik verleiht, die sie aus sich heraus nie entwickeln könnten.
Entsteht und entwickelt sich der Zeitgeist nicht auch durch mächtige Organisationen, wie das Weltwirtschaftsforum oder den Club of Rome?
Ich halte Organisationen wie das Weltwirtschaftsforum für Zeitgeist-Schwämme. Sie nehmen den Zeitgeist auf, sie sind aber keine Urheber. Ich habe von dort nichts gehört, was ich nicht schon woanders gehört habe. Inhalte werden dort verdaut, in Formen gegossen, und dann mit entsprechenden Mitteln anders positioniert und verstärkt. Aber das WWF ist kein Think-Tank, dort versammeln sich Mächtige und Regierende, die einen Raum finden, wo sie sich selbst mehr Widerhall geben können.
Um den Zeitgeist zu beeinflussen, bedarf es sehr viel grundlegenderer Veränderungen, das passiert nicht einfach so. Ich glaube, es sind eher Ereignisse, die ein relativ abruptes Umdenken ermöglichen können. Auf einer ganz niedrigen Ebene war das deutsche Heizungsgesetz so ein Ereignis, das den Leuten kurz die Augen geöffnet hat. In dem Gesetz steht eigentlich nichts Revolutionäres drin. Aus ökologischer Sichtweise macht es sogar Sinn. Da es aber in Regierungspolitik gegossen werden sollte, wurde deutlich, wie sich diese Politik auf das Leben auswirken kann. Dann reagierten die Leute wieder aus Betroffenheit, sehr abrupt, und dann auch sehr wütend. Das hält nicht lange an, aber es bleiben Kerben und Schrammen in der glatten Oberfläche des Zeitgeistes zurück, die man nicht mehr kaschieren kann.
Das sind Momente, in denen die grüne Partei spürt, dass auch sie nur auf der Bugwelle des Zeitgeistes surft und schnell abstürzen kann. Genauso wie das Weltwirtschaftsforum nicht am Steuer sitzt, so gilt das auch für die Grünen. Als sie vor zwei Jahren bei über 20 Prozent standen, lag das auch nicht daran, dass die Leute plötzlich die Grünen für eine super Partei hielten. Das hatte damit wenig zu tun, da sind ganz andere Dynamiken am Werk.
Das Wichtige ist meiner Meinung nach, dass man immer weiter Kerben in die Oberfläche des Zeitgeistes haut, dass man aufzeigt, welche Spannungen und welche Widersprüche es gibt. Und für dieses Projekt suche ich nach Wegen, ganz gleich, ob das ein Text ist oder ein Buch oder ein Podcast oder ein Bühnenprogramm ist.
Dein jetziges Bühnenprogramm trägt den Titel „Fürchtet Euch nicht!“. Nach allem, was Du hier gesagt hast: Was macht Dich dennoch zu einem Optimisten?
Letztlich kann jeder selbst entscheiden, ob er ein Optimist sein will oder nicht. Es wird Optimisten oft vorgeworfen, dass sie naiv seien, den Ernst der Lage nicht erkennen könnten oder esoterisch angehaucht seien. Optimismus hängt meiner Meinung nach nicht vom Zustand der Welt ab. Das hätte ja bedeutet, dass es im Nationalsozialismus überhaupt keinen Widerstand hätte geben können.
Optimismus bedeutet, dass man sich Gedanken darüber macht, wie die Zukunft besser werden kann, und wie man dahin kommt. Deshalb sollte der Optimist die Gegenwart schonungslos analysieren, weil er dann die besseren und belastbareren Wege findet, diese Realität vielleicht zu verändern. Der Pessimist hingegen sollte versuchen, die Welt vielleicht nicht ganz so schlecht zu sehen, wie sie ist. Denn er muss ja klarkommen in einer Welt, die er glaubt, nicht verändern zu können.
Als Humanist sehe ich, dass Menschen bewusst Dinge verändern, und in ganz vielen Bereichen in eine großartige Richtung. Das muss man sehen wollen. Pessimisten sind dafür häufig nicht kreativ genug. Sie nehmen die Welt von heute und denken sie geradlinig weiter, ohne die menschliche Kreativität einzubeziehen. Sie saugen den Zeitgeist auf, extrapolieren und sagen dann, dass im Jahr 2030 oder 2040 oder 2050 die Welt untergeht. Der moderne Zeitgeist stärkt Pessimisten den Rücken, weil er selbst sagt, den Menschen ist nicht über den Weg zu trauen.
Optimismus ist heute der Nagel im Fleisch des Zeitgeists, damit bringst du die Leute schnell auf die Palme. Dann fangen sie an zu diskutieren, ärgern sich und sie öffnen sich kurz. Deshalb ist es mir wichtig, optimistisch zu sein und sich nicht vor allem zu fürchten. Darum geht es in meinem Bühnenprogramm: einfach mehr zulassen, sich selbst und anderen mehr zutrauen. Optimismus ist der radikalste Widerstand.
Das Gespräch führte Kai Rogusch. Das Interview ist am 04.10.2023 auf der Website von Novo erschienen.