28.09.2021 – Zeit zum Bilanzieren: Freiheit und Demokratie gehen nicht von Parlament und Regierung aus, sondern müssen von der Gesellschaft am Leben erhalten, eingefordert und erkämpft werden, auch gegen Parlament und Regierung, wenn es sein muss. Und es muss.
So, jetzt haben wir den Salat. Nach 16 Jahren Angela Merkel haben sich die Deutschen gesagt: Diese Hektik in der Politik muss endlich ein Ende haben! Diese Umtriebigkeit, dieses beständige Vorantreiben des Fortschritts in der Merkel-Zeit, es ist jetzt genug! Politik muss endlich mal zur Ruhe kommen! Keine Experimente mehr! Die Wähler haben entschieden: Wir brauchen einen Zeitenwechsel, hin zu weniger Veränderung, zu mehr Entschleunigung, zu mehr Langsamkeit! Wir brauchen wat laschet.
Und wer wirklich wat laschet wollte, der konnte eigentlich nur Olaf Scholz wählen. Die New York Times hatte das bereits erkannt. Ihr Artikel über die beiden stärksten deutschen Kanzlerkandidaten trugt den Titel „Bitte kein Charisma!“. Laschet und Scholz wurden hier höflich als „Anzug tragende Karrierepolitiker“ beschrieben, die und „alles andere als aufregend“ seien. Und als dann auch noch Armin Laschet die Gesichtszüge zur Unzeit entgleisten, war es ganz aus. Ein solcher Fauxpas konnte Olaf Scholz gar nicht passieren: Bewegliche Gesichtszüge und emotionale Regungen sind dem völlig fremd.
Aber was bedeutet dieses Wahlergebnis nun? Wahrscheinlich ist der Versuch, diese Frage zu beantworten, das Frustrierendste überhaupt. Denn wir wählen ja seit Jahren Parteien, die dann nach der Wahl sagen, dass sie eigentlich auch mit denen zusammenarbeiten können, gegen die sie über Monate Stimmung gemacht haben.
Wer CDU gewählt hat, dem musste klar sein, dass seine Partei im Zweifel den grünen Robert Habeck zum Vizekanzler macht – oder Olaf Scholz zum Kanzler. SPD-Wähler mussten damit rechnen, dass ihre Partei es sich offenhält, außer der AfD alle anderen Parteien mit ins Regierungsboot zu holen. Wer Grüne oder FDP gewählt hat, hat ebenfalls keinerlei Entscheidung darüber getroffen, wer Kanzler wird. Sprich, egal welche Parlamentspartei man gewählt hat, es ist gut möglich, dass diese nun den Kandidaten einer anderen Partei wählt.
Das hat man davon, wenn es, wie hierzulande, als Ausdruck staatspolitischer Verantwortung gilt, dass alle Demokraten untereinander koalitionsfähig sind. Die eigene Stimme verliert dadurch an politischer Bedeutung, da die wenigen Inhalte, die es in den Parteien noch gibt, bis auf die Grundmauern herausverhandelbar sind.
FDP-Chef Christian Lindner verkündete am Montag, dass man, da es zwischen seiner Partei und den Grünen die größtmöglichen Unterschiede gäbe, nun ausloten müsste, ob man gemeinsam ein fortschrittliches Zentrum bilden könne. Warum muss das so sein? Wäre es nicht cool, es gäbe zwischen demokratischen Parteien tatsächlich mehr unüberbrückbare Unterschiede? In Deutschland ist das geradezu unvorstellbar. Dissens gilt hierzulande als letzte Vorstufe zur Anarchie. In Österreichs zweitgrößter Stadt, Graz, könnte demnächst eine kommunistische Bürgermeisterin regieren. Denn am Sonntag hat die KPÖ die dortigen Gemeinderatswahlen gewonnen – erdrutschartig. Man stelle sich das mal in Deutschland vor!
Wobei es daran zu erinnern gilt, dass bei der Bundestagswahl 2017 die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 0,1% der Stimmen erreicht hat. Das klingt nicht besonders, und ist es auch nicht. Aber die wirklich wichtigen Werte werden ja heute nicht mehr in Prozent dargestellt, sondern in Inzidenzen pro 100.000. Wenn man das Ergebnis der MLPD auf Inzidenzbasis von 100.000 umrechnet, hatten wir 2017 landesweit eine MLPD-Inzidenz von 100! Wir sind also gefühlt haarscharf an einer Revolution vorbeigeschrammt – ohne zu merken! Im Nachhinein ist es ein Wunder, dass angesichts dieser Bedrohung damals nicht das Wahlrecht eingeschränkt wurde, um die Demokratie zu verteidigen.
Dissens können wir in Deutschland nicht ertragen, weil wir ja auch nicht mehr debattieren können und wollen, ohne dass es persönlich und schmutzig wird. Das elfte Gebot der unbedingten Koalitionsfähigkeit von Demokraten ist das Gefäß, in dem Merkels Mantra der Alternativlosigkeit fortbesteht.
Die Wahl zwischen Laschet, Scholz und Baerbock war schon schmerzhaft genug. So richtig furchtbar wurde es aber, wenn man sich das Personal dahinter anschaute: Wer Olaf Scholz gewählt hat, ebnet im Zweifel Sasia Esken und Kevin Kühnert den Weg in die Regierung, vor allem aber: Es droht ein Gesundheitsminister Karl Lauterbach! Wer Armin Laschet gewählt hat, hat eine Regierungspartei bestätigt, die tatsächlich glaubte, das Land mit Jens Spahn, Peter Altmeier und Andreas Scheuer für die Zukunft so gut aufgestellt zu haben, dass man zahlreiche sozialdemokratische und grüne Bundesminister innen wie außen tolerieren kann. Und als wäre Annalena Baerbock noch nicht kompetent genug, drohen mit ihrem Einzug in eine Koalitionsregierung ein Finanzminister Robert Habeck und ein Bundesverkehrsminister Anton Hofreiter. Himmel hilf!
Betrachtet man aber das real existierende Politikangebot, dass bei dieser Wahl zur Auswahl stand, dann haben die Deutschen doch eine recht gute Wahl getroffen. Man kann das Ergebnis nämlich auch anders lesen:
Die stärkste Partei hat gerade einmal ein gutes Viertel der Stimmen erhalten. Das bedeutet: Knapp drei Viertel aller Wähler haben die Kanzlerpartei nicht gewählt. Der kommende Kanzler muss mit einer historisch niedrigen Wählerzustimmung auskommen. Und selbst in der eigenen Partei sind sowohl Laschet als auch Scholz durchaus unbeliebt und umstritten.
Für viele Menschen galt einst die Maxime, das kleinere Übel wählen zu wollen. Bei dieser Wahl haben die Menschen diesen Gedanken weitergesponnen: Sie haben so gewählt, dass alle Übel möglichst gleich klein sind, sprich, alle Parteien im Parlament ähnlich schwach sind, sodass sie sich zumindest in ihren krassesten Auswirkungen gegenseitig neutralisieren.
Ein flotter Dreier wird die neue Regierung und deren Genese sicherlich nicht. Auch wenn das Gefummel untereinander bereits begonnen hat, das Ganze dürfte eine sehr zähe und zutiefst unerotische Veranstaltung werden. Vielleicht sollten wir uns einfach darüber freuen, dass die Wahl nun vorbei ist. Ich denke, auf die neue Regierung brauchen wir uns nicht freuen. Aber wohl auf das, was wir selbst in den nächsten vier Jahren erreichen und verändern können. Denn auch wenn es viele von uns über die Jahre vergessen haben: Demokratie lebt nicht von Wahlen; es ist genau umgekehrt.
Das Wählengehen ist bei uns in den letzten Jahren zu einem religiösen Ritual geworden. Es erinnert an den bei Christen obligatorischen Besuch des Weihnachtsgottesdienstes. So unchristlich man das Jahr über auch ist, Heiligabend geht’s in die Kirche. Ähnlich verhalten sich viele Stimmzetteldemokraten: So sehr man auch das Aussetzen von Grundrechten für Andere fordert und Leute verteufelt, die anders leben, anders aussehen, anders reden oder anders denken – am Wahlsonntag pilgert man an die Urne in guter alter Bürgerpflicht.
Die Feiertage der Demokratie sind nicht die Wahltage, sondern alle Tage dazwischen. Wenn Sie die Stimmabgabe mit der Vorstellung verbunden haben, sich in den kommenden vier Jahren genau wieder so regieren zu lassen wie in der Vergangenheit, dann ist es völlig egal, wen Sie gewählt haben. Die letzten Monate haben deutlich gezeigt: Freiheit und Demokratie gehen nicht von Parlament und Regierung aus, sondern müssen von den Bürgern am Leben erhalten, eingefordert und erkämpft werden, auch gegen Parlament und Regierung, wenn es sein muss. Und ich glaube, es muss.