Meinungsforschung – Die hausgemachte Krise

Für Nordrhein-Westfalen hatten Meinungsforscher ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPD und CDU vorausgesagt. Zuletzt lagen die Wahlprognosen oft daneben, und teilweise noch deutlicher als bei den Wahlen in NRW. Das liegt nicht nicht nur an der wachsenden Unberechenbarkeit der Wähler, sondern auch am fehlenden politischen Kompass der Eliten.

2016 war ein überraschendes und damit schlechtes Jahr für die politische Meinungsforschung: Spätestens seit dem Votum der Briten für den Brexit, der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten und den guten Wahlergebnissen der AfD im vergangenen Jahr wird angeregt über das „Versagen der Demoskopen“ philosophiert. Ähnlich wurde zuletzt in den Jahren 2012 und 2013 diskutiert. Damals waren es die überraschenden Ergebnisse der Piratenpartei und auch das unerwartet schlechte Abschneiden der FDP, die die Frage aufwarfen, ob die üblichen Methoden der Meinungsforschung noch in der Lage seien, aktuelle Stimmungslagen akkurat einzuschätzen.

Vorhersagbare Meinungen werden zu rarem Gut

Die heute angeführten Ursachen für die Krise der Demoskopie ähneln denen, die bereits vor vier Jahren diskutiert wurden. Insgesamt, so betonen Forscher, sei es wesentlich komplizierter und aufwändiger geworden, die Meinungen von Menschen zu erheben. Da Meinungsumfragen traditionell telefonisch und regional durchgeführt werden, aber gerade junge Leute keinen Festnetzanschluss mehr besitzen, ist es schwierig, manche Befragtengruppen überhaupt noch zu erreichen. Zudem sei die Bereitschaft, an Meinungsumfragen teilzunehmen, in den letzten Jahren rapide gesunken. Dies hat nach Ansicht der Forscher einerseits mit der insgesamt gestiegenen Anzahl von Befragungen aller Art und der daraus resultierenden Übersättigung, andererseits aber auch mit dem gesunkenen Interesse an politischen Themen zu tun.

Insgesamt gilt der heutige Wahlbürger als weniger partei- und milieugebunden, er wird als wechselfreudiger wahrgenommen und auch als emotionaler und spontaner beeinflussbar. Gleichzeitig wird jedoch angeführt, dass das in den verganenen Jahren polarisierter gewordene gesellschaftliche Klima dazu führe, dass der Druck auf „andersdenkende“ Wähler größer geworden sei. Dies habe zur Konsequenz, dass häufiger mit den eigenen Überzeugungen „hinter dem Berg“ gehalten werde und man schneller bereit sei, „sozial erwünschte“ Antworten zu geben, um nicht aufzufallen.

Meinungsforscher müssen auch sich selbst erforschen

All diese Gründe klingen plausibel, sie haben alle ihre Berechtigung und ihr Gewicht. Und dennoch fällt auf, dass sich die Problembetrachtung stark darauf konzentriert, Verhaltensveränderungen bei den Wählern in den Blick zu nehmen. So richtig und wichtig diese Untersuchung auch ist – sie ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn die sich verändernde politische Kultur wirkt sich eben nicht nur auf den „Untersuchungsgegenstand“ – also auf die Menschen und ihre Ansichten – aus, sondern auch auf diejenigen, die ihn untersuchen sowie auf die Bedeutung, die diesen Ergebnissen beigemessen wird. Während die Demoskopen ganz gut darin sind, die Veränderungen ihres Spezialgebietes zu analysieren, kommt der Aspekt der kritischen Selbstanalyse häufig zu kurz. Diese Analyse wäre jedoch sehr wichtig, um die aktuellen Probleme des Forschungszweiges zu verstehen.

Meinungsforscher diagnostizieren Veränderungen der politischen Kultur in erster Linie anhand des messbar veränderten Befragtenverhaltens – das ist ihr Job. Aus ihrer Sicht zeichnet sich diese Kultur dadurch aus, dass Menschen scheinbar immer schwerer nachvollziehbare, zunehmend irrational handelnde und schwer zu greifende und begreifende Wesen sind: Sie sind schwer erreichbar, treffen seltsame Entscheidungen, die so mancher „Experte“ als uninformiert und „falsch“ einordnet, und noch dazu wird man auch noch misstrauisch beäugt, nur weil man sie nach ihrer Meinung fragt. Anders formuliert: Aus dieser Perspektive erscheint die Gruppe der Befragten häufig nicht als das, was sie eigentlich ist: eine repräsentative Stichprobe des „Souveräns“ der Demokratie, den es respektvoll zu analysieren gilt.

Forschung und Politik: in Ratlosigkeit vereint

Diese Sichtweise und Erfahrung der Forscher kann problemlos anknüpfen an die Einstellungen, die in der etablierten Politik gegenüber den Bürgern vorherrschen: Auch hier dominieren Skepsis und Misstrauen gegenüber der Masse der „Normalverbraucher“ sowie der pädagogische Impuls, diesen Hilfestellungen für die Alltagsbewältigung geben zu müssen, um die Welt im Lot zu halten. Auch hier wird regelmäßig die ernüchternde Erfahrung gemacht, dass die Menschen so ganz anders leben und auch so ganz anders wählen, als die Expertenriege empfiehlt, anstrebt und für richtig hält. Es gibt also einige entscheidende Punkte, in denen Meinungsforschung und Politik auf Basis ähnlicher Erfahrungen zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen. Diese Schlussfolgerungen kreisen zumeist um die Frage, wie mit einer offenbar immer unberechenbarer werdenden Bevölkerung umzugehen ist und wie sie besser erreicht werden kann.

Demoskopen und Politiker haben also auf mehreren Ebenen viel miteinander zu besprechen. Naturgemäß hat sich die Politik immer für die Ergebnisse der Meinungs- und Wahlforschung interessiert – das an sich ist auch kein Problem. In den vergangenen Jahren hat sich dieses Interesse an der öffentlichen Meinung jedoch zu einer Abhängigkeit entwickelt. Dies hat das Verhältnis zwischen der Meinungsforschung und der Politik grundsätzlich verändert: Im Zuge der inhaltlichen Angleichung und auch der ideologischen Entleerung politischer Parteien ist es zuletzt immer wichtiger geworden, auch kurzfristige Stimmungslagen im Auge zu behalten und darauf zu reagieren. An die Stelle langfristiger und inhaltlich fundierter Strategien sind kurzfristiges Denken und Anpassung an den Zeitgeist und die aktuelle Stimmung getreten. Dies ist der Grund dafür, warum wir heute fast täglich mit neuen Umfrageergebnissen konfrontiert werden. Sie sind der Ersatz für den unserer führenden Elite abhanden gekommenen politischen Kompass.

Diese Veränderung macht die neue Dimension der Krise der Demoskopie aus: Eben weil wir in einer politischen Kultur leben, die auf quasi stündlich ermittelten Stimmungsbarometern beruht, erfährt die Meinungsforschung einen enormen politischen Bedeutungszuwachs. Sie wird selbst zu einem politischen Hebel – ohne dies anzustreben. Dies hat erheblichen Einfluss auf ihre Qualität und Intention: Meinungs-„forschung“ hört auf, reine Forschung zu sein, denn sie entscheidet Politik, insbesondere in Zeiten sinkender inhaltlicher Parteibindung, zunehmender Personalisierung und spontanerer Mobilisierungspotenziale.

Die Politisierung der Meinungsforschung ist ihr Untergang

Dieses Wechselspiel zwischen zunehmend oberflächlicher und stimmungsabhängiger Politik und daher immer entscheidungsrelevanter werdender Demoskopie geht natürlich auch an den Befragten nicht spurlos vorbei: In dem Maße, in dem Demoskopen in der öffentlichen Wahrnehmung immer stärker mit dem politischen Apparat verschwimmen, verändert sich auch das allgemeine Teilnahme- und Auskunftsverhalten. Die Menschen erkennen, dass die Meinungsforschung selbst zu einem Instrument geworden ist, mit dem Politik gemacht, zumindest aber gezielt beeinflusst werden kann. Es überrascht nicht, dass der Eindruck weit verbreitet ist, dass Politiker stärker auf Umfragewerte achten als auf Wählerinteressen. Es ist daher auch kein Wunder, dass in Befragungssituationen anders agiert wird als in Zeiten, in denen man meinte, man habe es mit hoch angesehener und wissenschaftlich-neutraler Sozialforschung zu tun. Und so passt man sein Verhalten an: beispielsweise durch Nichtteilnahme oder durch gezielte Andersbeantwortung von Fragen, um ein „Zeichen zu setzen“.

Die Krise der Demoskopie wird sicherlich zu einem großen Teil durch gesellschaftliche Modernisierungen und die hinterherhinkende Entwicklung moderner Forschungsmethoden ausgelöst. Der unverstandene  und bislang auch kaum thematisierte Teil der Krise ist aber interessanterweise genau der Aspekt, unter dem auch die Politik leidet: Politiker wie Forscher unterschätzen die tatsächliche Rationalität des Wählerverhaltens. Aus politikwissenschaftlicher Sicht sind Wählerentscheidungen wie die für den Brexit, die Wahl für Trump oder auch der zeitweise Erfolg der AfD keinesfalls Folge wachsender Irrationalität, sondern durchaus logisch nachvollziehbar – vorausgesetzt, man erachtet es für wichtig, sich mit diesem Denken zu beschäftigen. Interessant ist, dass sich sowohl die etablierte Politik als auch die Wahlforschung genau solchen Einsichten verweigern. Wenn sich dies nicht ändert, wird die Meinungsforschung parallel zur etablierten Politik an Einfluss verlieren.

Dieser Artikel erschien am 14. Mai 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online.