Mehr Kohl wagen

Aktuelle Politiker werfen in Krisenzeiten ihre Konzepte über den Haufen. Sie reagieren mit Alarmismus und Risikoaversion. Dabei könnten sie von Helmut Kohl lernen. Viele Eigenschaften, die man ihm nachträgt, fehlen heute.

Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, war ich 11 Jahre alt; als er Altkanzler wurde, war ich 27. In dieser Zeit wurde Kohl der Randstein, an dem man sich ausrichtete: Entweder man hielt Sicherheitsabstand oder man ging auf Konfrontationskurs. Für mich wurde er zum Inbegriff dessen, was man als aufmüpfiger Jugendlicher beinahe automatisch ablehnte. Inzwischen sehe ich Kohl ein wenig anders. Nicht, weil ich ihm jetzt politisch näherstehen würde – das tue ich nicht –, sondern weil ich ihn mit denen vergleichen kann, die ihm nachfolgten.

Tatsächlich war ich mit Helmut Kohl politisch fast nie einer Meinung. Ich muss aber dennoch zugeben, dass ich 1991 erstmals ein bisschen Sympathie für ihn empfand: Bei einem Besuch in Halle wurde der „Kanzler der Einheit“ von Demonstranten mit Eiern und Tomaten beworfen und auch hart getroffen. Ich konnte zwar den Ärger der Werfer verstehen. Aber es gefiel mir, wie Kohl versuchte an den Ordnern vorbeizukommen und durch das Absperrgitter hindurch sich die Werfer zu greifen. Man stelle sich eine solche Szenerie mit dem heutigen Politpersonal vor: Die meisten hätten sofort die Sicherheitskräfte auf den „Pöbel“ gehetzt und selbst die Flucht ergriffen, anstatt wie Kohl auf die Störer zuzustürmen. Heiko Maas hätte Proteste bei öffentlichen Politiker-Auftritten unter Strafe gestellt sowie entsprechende Foto- und Filmaufnahmen zensiert. Ich mochte Kohls Hemdsärmlichkeit und auch seinen offensichtlich kaum zu kontrollierenden Hang zu robuster Handgreiflichkeit.

Auf schwarzen Dauerregen folgte die rot-grüne Traufe

Als 1997 Kohls Kanzlerdämmerung einsetzte, diskutierten wir in der Redaktion des Magazins Novo schon darüber, dass die bereits mit den Hufen scharrende rot-grüne Opposition, allen voran Gerhard Schröder und Joschka Fischer, alles andere als den notwendigen Befreiungsschlag für Land und Leute bringen würden. Klar war aber, dass von der Ära Kohl nicht viel bleiben würde – zu sehr war er über Jahre zum Kristallisationspunkt des linken Unterlegenheitshasses sowie zur unüberwindbaren Schwelle für die nächsten Politikergenerationen in der CDU geworden.

„Der Dicke“ schien in den Jahren zuvor geradezu unschlagbar zu sein, obwohl die von ihm angekündigte „geistige und moralische Wende“ ausgeblieben war. Nicht eigene Ideen und Vorstellungen, sondern die Weltgeschichte hatte ihn 1989 an die vorderste Front der Zeitenwende gespült. Ihn zum Antreiber epochaler Veränderungsprozesse gemacht, nachdem er Monate zuvor selbst schon fast abgeschrieben worden war.

Die Rückschau wird zur Nabelschau

Die nun nach dem Tode Helmut Kohls durch das Land schwappende Welle an Rückblicken ist nicht deswegen interessant, weil es noch irgendwelche Leichen aus dem Oggersheimer Bungalowkeller zu bergen gäbe oder der Rekordkanzler bislang verborgen gebliebene Seiten gehabt hätte. Viel interessanter ist, was die Rückblicke und der seltsam hölzerne Umgang mit Helmut Kohl über die heutige politische Landschaft und das dazugehörige Personal aussagen.

Noch einmal werden viele Vorurteile und Kritikpunkte herausgeholt, mit denen man gegen Kohl zu Felde zu ziehen versuchte – und sich doch meistens die Zähne ausbiss. Und als jemandem, der zeitlebens auf der anderen Seite der politischen Barrikade stand, wird mir angesichts der seltsamen Rückschau auf den bei vielen in Ungnade gefallenen „Einheitskanzler“ klar: Viele Eigenschaften, die man Kohl vorhält und auch nachträgt, fehlen heute.

Aussitzen statt hyperventilieren

Einer der zentralen Vorwürfe gegen Kohl bezog sich auf seinen Umgang mit Kritik und politischen Herausforderungen. Immer wieder hieß es, er hätte sie einfach ausgesessen, anstatt sie aktiv anzugehen. Heute fehlen diese Fähigkeit und die innere Stabilität, nicht sofort auf aktuelle Anlässe pro- oder gar hyperaktiv zu reagieren oder eigene Konzepte über den Haufen zu werfen. Stattdessen regieren heute Alarmismus, Risikoaversion und Orientierungslosigkeit gepaart mit fehlendem Rückgrat. An ein in aller Ruhe ausgesessenes Problem kann ich mich in den vergangenen Jahren kaum erinnern, wohl aber an eine Vielzahl herbeiverbesserter Missstände.

Um den Unterschied deutlich zu machen: 2011 nahm Angela Merkel den Atomunfall in Fukushima zum Anlass, um die eben noch verlängerten Restlaufzeiten der als sicher geltenden deutschen Atomkraftwerke abrupt auszusetzen und stattdessen die Energiewende einzuleiten. Wie reagierte im Gegensatz dazu Helmut Kohl 1986 auf den Unfall im sowjetischen Kernkraftwerk von Tschernobyl? Er richtete ein Bundesumweltministerium ein, machte ein paar Zugeständnisse an die Umweltbewegung, hielt aber ansonsten an seinen Überzeugungen – und der Atomkraft – fest.

Heutige Politiker: mehr Honecker als Kohl

Gegen den Altkanzler wird auch gerne angeführt, er habe sich nur durch die friedliche Revolution der Ostdeutschen an der Macht halten können. Da ist sicherlich etwas dran. Die Frage ist nur, ob sich das zum Vorwurf eignet. Tatsächlich gab es Ende der achtziger Jahre so gut wie niemanden im westdeutschen Establishment, der ernsthaft an eine baldige Wiedervereinigung glaubte. Man hatte es sich politisch mit und in der deutschen Teilung gut eingerichtet. Mit vielen Krediten wurde das Regime in der DDR von Bonn aus gestützt und dies gerade nicht von Rotfront-Sympathisanten in der SPD, sondern von den konservativen Flaggschiffen der westdeutschen Politik: Franz Josef Strauß und eben Helmut Kohl.

Als 1989 plötzlich der Wind drehte, ergriff Kohl die Chance und ging dabei auch hohe Risiken ein. SPD und Grüne haderten hingegen zu lange mit der Vereinigung der deutschen Staaten. Was die einen den sicher geglaubten Wahlsieg und die anderen gar den Einzug ins Parlament kostete. Kohl zauderte nicht, er handelte, auch gegen den Rat mancher Experten. Ein derart mutiges politisches Agieren wäre heute fast unvorstellbar. Es ist traurig, aber wahr: In ihrem Verhältnis zu Veränderungen erinnern die heutigen Politiker heute eher an Erich Honecker als an Helmut Kohl.

Kohls notorische Zuversicht 

Des Weiteren wurde Kohl gerade von Linken immer wieder vorgeworfen, er habe mit seinem Gerede von den „blühenden Landschaften“ in Ostdeutschland die Menschen in Ost und West belogen. Doch fast 30 Jahre nach dem Mauerfall ist Ostdeutschland tatsächlich in vielen Teilen dynamisch und modern, auch wenn nicht alles überall besser geworden ist.

Wenn man sich aber vor Augen hält, dass heute das Eintreten für Verbesserungen und Zukunftsoptimismus gerade in vermeintlich progressiven Kreisen an sich schon zu einer Art Kardinalsünde geworden ist, dann wirkt Kohls gebetsmühlenartig vorgetragene Zuversicht fast schon erfrischend. In der heute allgegenwärtigen Kultur der Risikoscheu bräuchten wir mehr Politiker, die auch selbst an eine positive Zukunft glauben und daran arbeiten.

Helmut legt auf, Joschka macht ihn rein

Natürlich darf in der Liste der Kritikpunkte auch nicht der Vorwurf fehlen, dass Helmut Kohl die neue deutsche Großmachtpolitik begonnen hätte. Diese Sichtweise ist heute genauso fragwürdig wie damals, weil gerade dies dem konservativen Kanzler nicht gelang und auch nicht gelingen konnte. Die „Befreiung“ der Bundeswehr aus den äußeren wie inneren Limitationen wurde stattdessen zur historischen Aufgabe der Grünen unter Joschka Fischer. Niemand anders hätte diese Aufgabe erfüllen und die in weiten Teilen pazifistisch eingestellte Bevölkerung mit der Idee friedensstiftender Militäreinsätze versöhnen können.

Bis heute sind der humanitäre Interventionismus der neunziger-Jahre sowie das Vorsorge- und Präventionsprinzip Kernelemente grünen und grenzenlosen Denkens. Dagegen ist das weniger stark globalisierte Beharren auf nationalstaatlicher Souveränität, wie es Helmut Kohl sowohl für die Bundesrepublik als auch für Osteuropa anstrebte, aus demokratietheoretischen Gründen durchaus bedenkenswert – wenngleich auch heute höchst unpopulär.

Ein Versprechen wird zum Verbrechen

Wer Kohl in all diesen Punkten die Treue gehalten hatte, der wurde nach dem Ende seiner Kanzlerschaft auf die größte Probe gestellt. Bis zuletzt wurde Kohl vorgehalten, im Spendenskandal der CDU des Jahres 2000 der eigenen Partei schwer geschadet zu haben. Der Vorwurf lautet, er habe das „Spenden-System Kohl“ schützen wollen mit dem Hinweis auf das von ihm gegebene Versprechen, die Namen der Spender geheim zu halten. Bis heute ist der Umgang der CDU mit ihrem ehemaligen Anführer ein äußerst umstrittenes Thema.

Letztlich war die Art und Weise, mit der die nachkommende Generation von CDU-Politikern die Affäre nutzte, um den mittlerweile zum Ehrenvorsitzenden gemachten Altkanzler Kohl moralisch abzusägen, der eigentliche Skandal. Dass Kohl sein Versprechen hielt, die Spendernamen nicht preisgab und dafür sogar den Ehrenvorsitz abgab, ist ihm hoch anzurechnen. Es ist sicherlich etwas ungewohnt, wenn Politiker ein gegebenes Versprechen ernstnehmen und sich nicht dem Druck beugen. Aber es zeugt von Rückgrat.

Der letzte große Europäer

Die auf diesen zahlreichen Vorwürfen und Zerwürfnissen basierende Distanz zu Helmut Kohl zeigt sich auch nun in seiner Verabschiedung. Man gedenkt ihm als Kanzler der Deutschen und als Vorkämpfer der europäischen Einigung – doch genau dies lässt ihn angesichts des aktuellen Zustandes der Europäischen Union wie einen politischen Dinosaurier erscheinen. Kohl selbst hatte zuletzt auch nicht mit Kritik an der Entwicklung der EU gespart. Es war kein Zufall, dass einer seiner letzten prominente Gäste in Oggersheim im vergangenen Jahr eben keiner der führenden Protagonisten der europäischen Einigung war, sondern der EU-kritische ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán. Pikant zudem: Wäre es nach den Vorstellungen der Kohl-Witwe Maike Kohl-Richter gegangen, hätte wohl Orbán und nicht „Kohls Mädchen“ Angela Merkel die Trauerrede beim Staatsakt gehalten.

Der nun für den Verstorbenen geplante und von ihm selbst gewünschte europäische Staatsakt hat daher auch etwas Tragikomisches: Er könnte der erste und gleichzeitig auch der letzte seiner Art werden. Ich kann mir jedenfalls niemanden aus den heutigen Politikerkreisen vorstellen, der einer solchen Zeremonie würdig wäre. Fast hat man den Eindruck, als ob am 1. Juli 2017 mit Helmut Kohl nicht einfach nur der Kanzler der deutschen Einheit, sondern zugleich auch der letzte große und optimistische Europäer zu Grabe getragen wird. Dieser Umstand ist – allen grundlegenden politischen Differenzen zum Trotz – keine gute Nachricht für die Zukunft des europäischen Kontinents. Ein bisschen mehr Kohl täte der Politik ganz gut.

Dieser Artikel erschien am 25. Juni 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online.