Macron, Kurz & Co.: Die Rebellion von oben


Mit Emmanuel Macron in Frankreich und Sebastian Kurz in Österreich ist eine neue Generation von Politikern aufgetaucht. Die jungen Männer inszenieren sich als Reformer. Doch wollen und können sie wirklich die verkrusteten Parteienlandschaften aufbrechen?


Dass Menschen sich eigentlich kaum für politische Parteien interessieren, ist seit mehreren Jahrzehnten Realität. Die fortschreitende Erosion politischer Bindungen zeigt sich in der wellenförmig anschwellenden Parteiverdrossenheit, in überraschenden Wählerwanderungen, aber auch in den Versuchen, Politik außerhalb gängiger Strukturen in neue Formen zu gießen: Die Gründung der Grünen als „Anti-Parteien-Partei“ war ein solcher Versuch, ebenso wie neu entstehende Parteien am rechten Rand des Spektrums, die zahlreichen Spaß- und Protestparteien oder lokale Zusammenschlüsse, die Politik fernab der etablierten Parteikartelle und näher am Menschen gestalten wollen.

Sklerose der alten politischen Kultur

Obwohl es vielen dieser neuen Formationen an inhaltlich fundierter Stabilität und Langlebigkeit fehlt, gerät die klassische Parteiendemokratie zunehmend in die Defensive. In vielen Staaten der westlichen Welt haben die Parteien der Nachkriegszeit, wenn sie noch existieren, große Mühe, ihre Machtpositionen zu behaupten. In Italien kollabierte dieses erstarrte System bereits vor einigen Jahren und spülte Anti-Politiker wie Silvio Berlusconi und seine Forza Italia an die Macht. In Frankreich sieht sich die politische Klasse ebenfalls gezwungen, sich bei Wahlen immer wieder gegen den Front National der Familie Le Pen zwangszuvereinigen. In Großbritannien wurde im vergangenen Sommer gleich das komplette politische Establishment dazu gezwungen, den Kurs zu ändern. Der Brexit hat zwar die konservativen Torys in der Regierung belassen, nötigt sie aber zu einer klaren Kurskorrektur und legt sie inhaltlich an die kurze Leine.

Auch in Österreich, in den Niederlanden und in Skandinavien sind in den vergangenen Jahren alte, häufig sozialdemokratisch geprägten Machtkartelle von neuen, umstrittenen Akteuren offen infrage gestellt worden. In Deutschland hat diese Entwicklung zwar nicht zum Verschwinden von Parteien, wohl aber zu ihrer inhaltlichen Entleerung und Nivellierung geführt. Die daraus erwachsende Entfremdung nicht unerheblicher Teile der Bevölkerung von der bisherigen Politik äußert sich derzeit eher in kurzem Aufflackern, nicht aber in der Herausbildung tatsächlich stabiler politischer Alternativen.

Populismus nicht Ursache des Niedergangs

Die überall in Europa entstehenden Protestgruppierungen nutzen brachliegende politische Begriffe wie „Freiheit“, „Wahrheit“, „Alternative“ und „Bewegung“, um sich von den versteinerten Überbleibseln der einst lebendigen demokratischen Kultur Europas abzugrenzen. Doch es wäre ein Irrtum, die Sklerose der alten Parteienoligarchien des Westens einfach auf den „Aufstieg des Populismus“ zurückzuführen.

Tatsächlich ist der teilweise, zumeist aber nur kurzfristige Erfolg von Protestparteien unterschiedlicher Machart eher die Folge des Niedergangs der alten Parteienkultur als dessen Ursache. Und paradoxerweise zeigt sich gerade im heutigen Ringen der europäischen Eliten mit ihren „populistischen“ Widersachern, dass die eigentliche zerstörerische Dynamik gar nicht von außen kommt, sondern die Zersetzung von innen voranschreitet. Diese politische Leere bleibt aber häufig unbemerkt, da weiterhin die Abwehr der „Feinde der europäischen Demokratie“ die öffentliche Aufmerksamkeit dominiert.

Brüssel bejubelt Zerfall der eigenen Basis

Wie weit die unerkannte Selbstzerstörung der alten politischen Ordnung bereits fortgeschritten ist, kann man am erleichterten Jubel der europäischen Regierungen über die Wahl von Emmanuel Macron zum neuen französischen Staatspräsidenten ablesen – oder genauer gesagt: am Jubel über die Nichtwahl von Marine Le Pen. Denn dem Erreichen dieses Ziels wurde politisch in den vergangenen Monaten nicht nur alles untergeordnet, sondern auch alles geopfert. Konkret bedeutete das: Frankreich musste das komplette Parteiensystem der Fünften Republik einmotten, um Le Pen zu verhindern.

Das Land hat nun erstmals einen Präsidenten, dessen Erfolg genau darauf beruht, dass er dem alten System den Rücken zugekehrt hat. Es ist grotesk zu beobachten, wie verzweifelt Europa sich bemüht, eben dies nicht zur Kenntnis zu nehmen und stattdessen den vermeintlich „europafreundlichen“ Macron sogar zum neuen Hoffnungsträger der EU zu stilisieren. So gesehen könnte sich ein Bestatter in Brüssel auch als Heiler positionieren, schließlich ist sein Einsatz oft gleichbedeutend mit dem Ende menschlichen Leidens.

Parallelen zwischen Macron und Trump

Die Erleichterung der „Pro-Europäer“ ist auch deswegen so irrational, als der ehemalige Sozialist und frühere Wirtschaftsminister Macron im Umgang mit dem traditionellen Parteiensystem mehr Ähnlichkeiten mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump aufweist als mit den alten Eliten Europas. Trotz aller stilistischen Unterschiede: Wie Trump gerierte sich auch der 39-jährige Macron als Abtrünniger und Außenseiter mit einer reformatorischen Mission. „En marche!“ (Vorwärts!) heißt seine Bewegung, mit der er Frankreich gewissermaßen von oben herab dazu bewegen will, ihm zu folgen.

Auch wenn sich Macron nach seiner Wahl bislang deutlich kooperativer und elitenfreundlicher zeigte als Trump: Seine Wahl öffnet kein Hintertürchen, durch das sich die Macht des traditionellen Parteien-Establishments wiederherstellen ließe. Wenn Macron politisch überleben will, muss er Profil gewinnen und auf Konfrontationskurs gehen: Bei den anstehenden Parlamentswahlen muss seine erst wenige Monate alte Bewegung ihm nun aus dem Nichts folgen, um seine Machtposition zu festigen. Das Paradoxe ist: Brüssel wird ihm dabei kaum große Steine in seinen Konfrontationsweg legen wollen – zu sehr fürchtet man sich vor der nächsten Präsidentschaftswahl und einer dann drohenden Präsidentin Marine Le Pen.

Die One-Man-Show des Sebastian Kurz

Ein weiterer aufsteigender Polit-Newcomer ist zweifellos der österreichische Außenminister Sebastian Kurz. Schon seit ein paar Jahren macht der gerade 30-jährige Hoffnungsträger der verkrusteten Österreichischen Volkspartei (ÖVP) Schlagzeilen mit seinen frisch, klar und direkt inszenierten öffentlichen Auftritten. Immer deutlicher wurde in letzter Zeit, dass die ÖVP eigentlich für seine Machtambitionen eine Barriere darstellt – zu unbeweglich und letztlich zu ineffizient ist die regional tief verankerte Volkspartei für jemanden, dem eigentlich eher an einer One-Man-Show gelegen ist als an graswurzelig-bäuerlicher Basisunterstützung.

Doch anders als Macron verließ Kurz seine Partei nicht, sondern ließ sich im Gegenteil im Mai zu ihrem Obmann wählen – jedoch nicht, um die von ihm und seiner Popularität abhängige Partei zu modernisieren, sondern um sie sich vom Leib halten zu können. Denn gleichzeitig kündigte er an, seine Kanzlerkandidatur samt seiner Kandidatenauswahl unabhängig zu gestalten. Mit seiner eigenen „Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei“, bei deren Zusammenstellung er eher auf Expertise als auf Parteizugehörigkeit setzen wolle, hat Kurz die alte demokratische Partei entmachtet, der er selbst vorsitzt.

Flucht nach vorn

Beide, Macron und Kurz, sind rebellische Kinder der Ära der Parteiverdrossenheit. Beide sind in ihr politisch sozialisiert worden, und beide haben eine entsprechend niedrige Hemmschwelle, parteidemokratische Traditionen als Ballast zu werten und über Bord zu werfen. Das bringt zweifelsfrei neuen Wind in die Kabinette auf dem Kontinent. Fraglich ist indes, ob dieser Wind auch ein frischer ist.

Denn die von den jungen „bewegten“ Männern angestoßene Rebellion ist eine Rebellion von oben, mit dem neue und ambitionierte Sektionen der alten Elite die Flucht nach vorn antreten. Anstatt einer Demokratisierung und Öffnung der Politik haben diese Manöver eher das Gegenteil im Sinn, nämlich die Befreiung von alten demokratischen Fesseln. Selbstverständlich entsprechen wuchtige Volksparteien nicht den Effizienzrichtlinien schlanker Unternehmensführung. Aber genau deswegen ist es falsch, Politik und Gesellschaftsgestaltung als ökonomisches Projekt misszuverstehen.

Wirkliche demokratische Belebung fehlt

Dass die alten Parteistrukturen, die immer noch den Muff des Kalten Krieges atmen, nicht mehr taugen, um im 21. Jahrhundert Freiheit und Demokratie mit Leben zu füllen, steht außer Frage. Es ist daher grundsätzlich zu begrüßen, dass diese Formationen abgelöst und durch neue ersetzt werden. Doch die Leichtigkeit, mit der die Nachwuchshoffnungen des Establishments alte Instanzen demokratischer Meinungs- und Regierungsbildung auf den Müllhaufen der Geschichte befördern und durch nichts ersetzen außer ihrer eigenen persönlichen Authentizität, offenbart die erschreckende Substanzlosigkeit von Politik und die inhaltliche Entleerung zentraler politischer Begriffe, wie etwa des der „Bewegung“. Dass Bewegungen heute fast ausschließlich aus den Schaltzentralen der Macht heraus inszeniert und angeführt werden, macht deutlich, wie sehr es der politischen Landschaft in Europa an wirklicher demokratischer Belebung fehlt.

Skepsis ist angesagt

Die Rebellionen eines Macron und auch eines Kurz sind letztlich zynische Versuche, im Windschatten der öffentlichen Parteiverdrossenheit ihre eigenen Machtstrukturen von demokratischer Verantwortung und Rechenschaftspflicht abzukoppeln. Weitere solcher Rebellionsversuche werden folgen. Daher ist Skepsis angesagt, wenn Politiker, die in traditionellen Zusammenhängen mächtig wurden, plötzlich ihre Liebe zur Rebellion entdecken und kurzerhand ihre eigenen Läden aufmachen.

Diese Initiativen mögen zwar nach „neuen sozialen Bewegungen“ klingen. Doch in Wirklichkeit sind es Absetzbewegungen zum Wohl des eigenen politischen Überlebens und Befreiungsbewegungen aus der Demokratie heraus. Diese Initiativen haben in etwa so viel mit demokratischen Aufbrüchen zu tun wie Ratten, die ein sinkendes Schiff verlassen, mit Entdeckergeist.

Dieser Artikel ist am 28.5.2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ bei Cicero Online erschienen.