„Lockerdown“ forever? Der Zug in Richtung Normalität fällt aus – die Gleise fehlen

Lost Places, Bahnhof, Bahnsteig, Kante

11.02.2021 – Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder ist ja stets um starke Worte bemüht, jedoch gelingt es ihm nur selten, sich so auszudrücken, dass er tatsächlich in Erinnerung bleibt. Doch gelegentlich hat er solche Momente: Seine Aussage „Die Maske ist ein Instrument der Freiheit“ aus dem Oktober letzten Jahres war ein solcher Moment. Gestern war es wieder soweit. Auf der Pressekonferenz nach der Ministerpräsidenten-Konferenz (MPK), auf der um Wegen aus dem Lockdown gerungen werden sollte, begann Söder seinen Auftritt mit einer bemerkenswerten und, ja, denkwürdigen Aussage: „Es ist leichter zuzumachen als zu öffnen. Das erste erfordert Mut, das zweite Klugheit.“

Womöglich war Söder gar nicht bewusst, was er da eigentlich sagte, so vielseitig interpretierbar ist diese Aussage. Kombiniert mit seiner gestern sogar für das anwesende und zumeist handzahme Journalistenpublikum auffälligen Griesgrämigkeit könnten Übereifrige den Söder-Satz als Ankündigung des eigenen Rücktritts umdeuten, nach dem Motto: Für den Mut des Zumachens habe ich bislang gesorgt, weil es leicht war. Jetzt aber wird es schwierig, denn Klugheit ist gefragt. Es klingt nach der Polit-Variante des Erlösungssatzes „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ Doch bei aller Fantasie und aller Hoffnung auf die Zukunft: Das wird so eher nicht geschehen.

Dennoch hat sich Söder mit diesem Satz Wege verbaut, die er vielleicht doch in Zukunft als Fluchtwege hätte nutzen können. Merkel, Müller und Söder versuchten gestern auf der Pressekonferenz, den Eindruck zu erwecken, es sei hauptsächlich um Wege aus dem Lockdown gegangen. Söder betonte, dass man es sich beim Einstieg in ein kluges Lockerungsmanagement nicht leicht mache und es für haltlose Öffnungsorgien weder Anlass noch Raum gäbe. Sollte Söder aus welchen Gründen auch immer doch demnächst wieder nach Wegen suchen, um das eine oder andere Freiheitchen wieder einzukassieren, so hat er Kritikern bereits eine verbale Steilvorlage geliefert. Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: „Neue Verschärfungen: Söder lieber mutig als klug“.

Söders denkwürdige Gegenüberstellung von Mut und Klugheit sowie das mit einem fast schon unerträglichen leichten Lächeln zelebrierte Kokettieren mit der psychologischen Systemrelevanz von Frisören haben ihr Ziel der Ablenkung erreicht. So geriet es fast in den Hintergrund, dass die MPK die Zahl 35 zur neuen 50 erklärte und man dies damit erklärte, einen Sicherheitspuffer um den heiligen Gral der 50 Neuinfektionen in sieben Tage herumlegen zu wollen. Der Trick ist so banal wie alt: Wer sich auf einen baldigen Haarschnitt freut, merkt vielleicht nicht, wenn die Möhre, der man nachjagt, still und heimlich immer höher gehängt wird. Wir dürfen gespannt sein darauf, wie dick solche Puffer noch werden können und mit welcher Logik man künftig abstreiten möchte, dass eigentlich die 15 die richtige, weil sichere 35 ist.

Es ist immer eine blöde Idee, wenn Politiker numerische oder inhaltliche Leitplanken setzen, ohne zu wissen, wo später einmal der Weg entlangführen soll. Es erinnert mich daran, dass ich als kleiner Junge jedes Mal, wenn ich im dunklen Keller unseres Hauses etwas holen sollte, laut pfiff, damit man den von mir befürchteten Überfall der bösen Kellergeister sofort anhand der plötzlichen Stille hätte bemerken müssen. So ähnlich wirken die kernig anmutenden Parolen aus der Berliner Corona-Fürstenrunde. Man gaukelt Entschlossenheit vor in der Hoffnung, dass die Öffentlichkeit dies glaubt – und irgendwann auch man selbst.

Söder, der seit Monaten die Einwohner des „Freistaats“ Bayern wie 13-Jährige um 21 Uhr nach Hause beordert, pfeift mit am lautesten. Tatsächlich ist seine Aussage, das Verbieten erfordere Mut und das Erlauben Klugheit, grottenfalsch: Verbote und das Außerkraftsetzen von Freiheitsrechte ist immer ein Eingeständnis, einen Missstand anders nicht beheben zu können als durch das Auslösen eines weiteren. Dafür braucht es keinen Mut. Es braucht vielmehr tiefsitzende Angst und die Bereitschaft, die eigene Vorstellung notfalls mit (Staats-)Gewalt durchzusetzen.

Wer Verbote rückgängig machen und dies sinnvoll kommunizieren will, dem wird Klugheit grundsätzlich nicht schaden. Doch gerade für das ernsthafte Aufmachen bräuchte man Mut – den Mut einzugestehen, dass sich eine Lage verändert hat, dass der eigene harte Zugriff nicht erforderlich ist und sein Fortdauern sogar schädlich wäre. Und es erfordert den Mut, sich der offenen Debatte darüber zu stellen, ob womöglich in Ermangelung von Klugheit einige Verbote abgrundtief falsch und grundgesetzwidrig gewesen sein könnten.

Die Lockerungslogik in Gang zu setzen, erfordert Mut und auch die Bereitschaft zur selbstkritischen Fehleranalyse. Kommen wird diese Kritik ohnehin, und es ist davon auszugehen, dass sie einige Köpfe nicht nur zum Rauchen, sondern zum Rollen bringen dürfte. Da wäre es tatsächlich auch taktisch klug, sich schon jetzt der Kritik zu öffnen und nicht auch noch bei schlingernder und orientierungsloser Fahrt auf hoher See Unfehlbarkeit und Unentbehrlichkeit zu behaupten. Mut bräuchte es auch, die Rückkehr aus dem Notstandsmodus in die Normalität verlässlich als Ziel auszugeben. Doch all dies vermeiden Merkel, Söder & Co.; ihre Politik lebt nicht von Mut, sondern von Angst – Angst vor der Normalität.

Rückblende: Am 15. April letzten Jahres formulierte Bundesfinanzminister Olaf Scholz die Mutter aller Corona-Phrasen: „Wir bewegen uns in eine neue Normalität.“ Gleichzeitig sprach er auch von einem „Fahrplan zurück ins Leben“, von der „Rückkehr in die Normalität“, vom „Wiederhochfahren von Gesellschaft und Wirtschaft“ sowie von „Lockerungen“, ohne hier aber konkret zu werden. Zehn Monate später sind die Äußerungen nicht weniger dehnbar.

Im April 2020 schrieb ich auf Cicero Online zur neuen Normalität von Olaf Scholz und zu seinem „Fahrplan“: „Er konzentriert sich auf die Festlegung von Standzeiten, die Ankunftszeit spielt keine Rolle. Zudem ist fast unbemerkt auch das ursprüngliche Ziel der Fahrt ersetzt worden. Scholz geht es nicht um die Wiederherstellung einer ‚alten Normalität‘, sondern um das Erreichen einer neuen. Doch wie sieht diese neue Normalität aus? Wer hat darüber entschieden? Und wenn wir nicht wissen, wie diese neue Normalität aussieht, wie können wir erkennen, ob und wann wir sie erreichen? Können wir nicht, denn wir sind ja nur Passagiere. Die Notstandspolitik suggeriert Streckenkenntnis und Zielstrebigkeit, sie fordern von den Mitfahrenden, sich gefälligst hinzusetzen und nicht durch Fehlverhalten den Zeitplan zu gefährden. Ganz wichtig: Abstand halten, Gurt anlegen und während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen!“

Schon damals wurde deutlich, dass die Politik Gefahr lief, einem verhängnisvollen Irrtum zu verfallen. Denn „Normalität“ ist kein Ort, den man verlassen und wieder aufsuchen kann, sie ist auch kein Stoff, den man einfrieren und, wenn die Luft rein ist, wieder auftauen kann. Ich schrieb damals: „Wer die Normalität verlässt, gibt sie auf. Was auch immer auf sie folgt, es ist nicht normal. Zudem hat die Politik ein völlig weltfremdes Verständnis davon, wie Normalität entsteht. Diese hält sich nämlich nicht an Skizzen und Entwürfe, sondern sie ist das Produkt unzähliger menschlicher Prozesse, sie wächst aus Erfahrungen, Entwicklungen, grandiosen Siegen und schmerzhaften Niederlagen und Brüchen. Sie existiert nur, wenn sie von normalen Menschen mit Leben gefüllt wird. Und es gibt sie nur am Stück.“

Es ist erstaunlich, wie weit das heutige Leben von dem entfernt ist, was wir noch im April 2020 als Normalität erinnerten. Aber es sollte uns nicht überraschen. Nochmal ein Zitat aus besagtem Artikel: „Die heutige Situation entzieht dem gesellschaftlichen Leben seine urwüchsige Widerspenstigkeit, und sie befördert Übergriffigkeit, Selbstkontrollverlust, Allmachtsfantasien und Größenwahn aufseiten von Politikern und staatlichen Autoritäten. Zugleich stärkt das erfolgreiche Verbreiten von Angst und Schrecken obrigkeitsstaatliches Denken. Die Frage der Stunde lautet: ‚Darf ich das?‘. Zweifel und Dissens gelten in diesem Klima nicht als Keimzellen der Freiheit, sondern als Quelle der Gefahr. Und plötzlich gehen dann Dinge, die noch vor Kurzem undenkbar waren. Der Ausnahmezustand frisst die Normalität. Die bloße Vorstellung, aus dieser Anomalie mithilfe eines maßvoll getakteten Fahrplans in die Normalität zurückkehren zu können, ist selbst zutiefst abnormal.“

Vor diesem Hintergrund klingt die Ankündigung Söders, zum Öffnen brauche es Klugheit, fast schon wie ein Hilfeschrei. Denn das Lockern des Griffes ist in einer Politik, die ihre Energie aus der erzeugten Angst der Bürger zieht, schlicht nicht vorgesehen. Das permanente Ausdehnen des Ausstiegs aus den Beschränkungen bedeutet in der Praxis die Zementierung des Notstands als „neue Normalität“. Diese ist aber keine gewachsene, sondern eine verordnete und damit keine Normalität.

Wer tatsächlich eine gewachsene Normalität wünscht, in der Menschen frei und selbst entscheiden, der muss sein eigenes Verhältnis zu Unsicherheit und Risiko normalisieren. Die Auftritte der deutschen Politiker zeigen in ihrer Unentschlossenheit und Ängstlichkeit eines ganz deutlich: Für eine Rückkehr zu Freiheit und Zivilität sind sie die falschen Entscheider. Es fährt nicht nur kein Zug zurück in die Normalität, die Politik hat zudem auch noch die Gleise systematisch entfernt. Es liegt an uns, an Hinz und Kunz, wie sich die Welt im Zuge der Corona-Pandemie entwickelt. Es wäre unklug, diese Entwicklung am verlassenen Bahnsteig der erschöpften Berliner Politik zu verpassen.

Dierser Artikel ist zuerst bei Reitschuster erschienen.
Foto: pixabay.com

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