Kuschelkurs oder Konfrontation: Was braucht Europa?

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Kann die Europäische Union die Zentrifugalkräfte kompensieren, die nicht nur Bevölkerungsgruppen, sondern mittlerweile sogar ganze Staaten zu Randständigen machen? Wie können Sprachlosigkeit und Fremdheit überwunden, wie kann der europäische Gedanke mit neuer positiver Bedeutung gefüllt werden?

Die politische Landschaft Europas ist ins Rutschen geraten. Die zunehmende Entfremdung zwischen der Politik und Teilen der Bevölkerung reißt alte Gräben und Wunden auf. Dies äußert sich nicht nur in der Wahlabstinenz der Europäer – die Beteiligung an den Europawahlen ist von knapp 62 im Jahr 1979 auf ca. 43 Prozent gesunken –, sondern auch in aktiven Absetzbewegungen. Diese eint vor allem eins: Sie streben weg von dem unzugänglichen und abgehobenen Politikgebilde namens EU, hin zu etwas anderem, Greifbarerem, zu etwas, das sich als volksnahe Alternative darstellt.

Viele politisch Enttäuschte sammeln sich als „politische Flüchtlinge“ in Organisationen, die man durchaus als „politische Auffanglager“ bezeichnen kann. Sie sind oft nur Provisorien, manche ohne jedes Fundament, andere basieren auf reinem Protest oder auf Satire, während sich wieder andere in den Ruinen alter Ideologien einrichten. Das Spektrum reicht von linken Organisationen wie der spanischen Podemos und der griechischen Syriza über die vom Kabarettisten Beppe Grillo gegründete Fünf-Sterne-Bewegung in Italien bis hin zu rechtskonservativen Organisationen wie dem französischen Front National, der niederländischen Partij voor de Vrijheid, Die Finnen (ehemals Wahre Finnen), dem Team Stronach und der Freiheitlichen Partei Österreichs, der United Kingdom Independence Party und der Alternative für Deutschland.

All diese Organisationen bieten etwas, was in etablierten politischen Zusammenhängen heute zu fehlen scheint. Sie ermöglichen das Entstehen von „Nähe“, sie proklamieren Verständnis, Einfachheit und Übersichtlichkeit, sie fordern fordert direkte Entscheidungskompetenzen für „das Volk“ und suchen in der Geschichte nach markigen Konzepten und schnellen Lösungen. Je mehr sich Krisenstimmung ausbreitet (etwa als Begleiterscheinungen der Flüchtlingspolitik oder der Terrorgefahr), desto lauter werden die Rufe nach Rückzug in homogene gesellschaftliche Einheiten mit klaren Unterscheidungen zwischen „dem Eigenen“ und „dem Fremden“.

Kann ein Konstrukt wie die Europäische Union überhaupt auf der Ebene einer solchen „Nähe“ konkurrieren? Prof. Dr. Beate Kohler, Project Director am Mannheim Centre for European Social Research (MZES), ist eher skeptisch. „Nähe“ ist für sie ein subjektives Gefühl zwischen Menschen. Die politische Entfremdung in Europa hat für sie nichts mit fehlenden Kontaktmöglichkeiten zwischen den Bürgern Europas zu tun: „In der Vergangenheit waren Städtepartnerschaften geeignete Instrumente, um Menschen einander näher zu bringen. Für meine Generation war es aufregend, unsere europäischen Nachbarn kennenzulernen. Das ist heute langweilige Realität und findet ohnehin statt.“

An Kontakten zwischen den Europäern mangelt es nicht. Anders sieht es im Verhältnis zwischen den Bürgern und der europäischen Politik aus. Hier herrschen Distanz, Misstrauen und Unverständnis. Wobei „Distanz“ für Prof. Kohler gar nicht das zentrale Problem ist: „Distanz zu Apparaten und Systemen ist wichtig, schließlich sollen die Menschen möglichst unabhängig und selbstverantwortlich handeln und entscheiden.“ Daher sieht Kohler auch die Forderung nach mehr „Bürgernähe“ kritisch: „Hier schwingt oft der Hang zur Bevormundung, Verhätschelung und Infantilisierung mit.“ In der Kommunalpolitik könne man das gut beobachten: „Wo früher Menschen an der Basis gemeinsam angepackt haben, da füllt man heute Anträge aus und hofft auf Unterstützung aus Brüssel.“

Zu viel Nähe der „großen Politik“ kann also gesellschaftspolitische Eigeninitiative erdrücken und selbst zur Entfremdung beitragen. Doch anstatt sich stärker auf den ernstgemeinten Austausch mit den Bürgern zu konzentrieren, liegt der Fokus der EU-Politik weiterhin auf der Ausgestaltung von Infrastrukturen. Dabei kann eine europäische Identität nur entstehen, wenn die Menschen sich auf Augenhöhe mit Europa identifizieren und aktiv vor Ort einbringen. Was Europa nach Ansicht von Beater Kohler braucht, ist eine „neue Kultur des Zuhörens und des Abwägens von Argumenten“. Eine solche demokratische Kultur benötigt Freiheiträume für Debatte und Dissens. Nur, wer sich auseinandersetzen kann, setzt sich auch wieder an einen Tisch.

Da die Entfremdung nicht zwischen den Menschen, sondern zwischen Menschen und Politik existiert, greift auch die vielfach geäußerte These, die Europaskepsis sei einfach nur die moderne Variante der alten Xenophobie, viel zu kurz. Tatsächlich entfremden sich die Völker Europas zugleich und aus nahezu identischen Motiven vom gemeinsamen Haus Europa. Sie ziehen sich zurück in die vorhandenen Gebäude des Nationalstaatlichen, die ihnen mehr „Nähe“ suggerieren. Natürlich versuchen Ewiggestrige, die Ströme der Verdrossenen auf ihre alten nationalistischen und fremdenfeindlichen Mühlen umzuleiten. Sie jedoch als Krisenverursacher zu bezeichnen, wäre ungefähr so töricht wie Bestatter für die Endlichkeit des Lebens verantwortlich zu machen.

Der fremdenfeindliche Akzent der heutigen Europakritik ist für den Soziologen Prof. Frank Furedi eine direkte Folge der „Marginalisierung EU-kritischer Stimmen“, wie sie gerade von der Europäischen Union forciert wird. Beispielhaft hierfür ist die Berliner Rede des damaligen EU-Ratspräsidenten Herman van Rompuy aus dem Jahr 2010, in der dieser den „Euroskeptizismus“ kurzerhand als geistige Vorstufe eines neuen Krieges bezeichnete. Die Krise Europas aber einfach nur auf einen Konflikt zwischen pro-europäischen Demokraten und nationalistischen Ewiggestrigen zu reduzieren, verhindert, dass Europa aus seiner Krise die richten Schlüsse zieht. So ist auch für Beate Kohler der „Brexit“ eher Ausdruck der Entfremdung von der EU als eine Indiz für eine um sich greifende Fremdenfeindlich- oder offene Feindseligkeit: „Viele Briten hofften, wieder eine größere Nähe zu ihren Entscheidungsträgern herstellen zu können.“

Diskussionen wie diese müssen kontrovers geführt werden, auch wenn sie unangenehm sind. Und sie müssen auf allen Ebenen und ebenenübergreifend möglich sein, wenn modernisierende und inspirierende Impulse gesetzt werden sollen. Tatsächlich aber gilt harte Kritik innerhalb Europas Institutionen als kaum noch legitim. Bereits vor über zehn Jahren konstatierte die Sozialanthropologin Maryon MacDonald, dass die EU selbst „das Anwachsen neonationalistischer rassistischer Bewegungen in Europa befördert“ habe, weil diese als „die einzig verbliebenden Orte erschienen, in denen Kritik an der EU möglich war“. Schon damals folgerte MacDonald daher, ein neuer Ort für ernsthafte Kritik sei „dringend vonnöten“.

Tatsächlich ist die Distanz zwischen den europäischen Institutionen und den einfachen Menschen keine unerwünschte Nebenwirkung, sondern Kernmerkmal der politisch-institutionellen Umsetzung des „europäischen Gedankens“. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller von der Universität in Princeton bringt dies in seinem Buch „Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert“ treffend zum Ausdruck: Die Abschottung von dem Druck populärer Empfindungen stellt für ihn nicht nur die Basis für die Anfänge der europäischen Integration, sondern des gesamten Wiederaufbaus Westeuropas nach 1945 dar.

Beate Kohler führt zwar an, dass die EU sogar viel stärker auf Konsultation, Beratschlagung und Vernetzung ausgelegt sei als die meisten Nationalstaaten. „Doch leider“, so ergänzt sie, „beschränkt sich diese Deliberation auf die in Brüssel ansässigen Nichtregierungsorganisationen. Ein wirklicher Austausch mit den Bürgern findet nicht statt, da sich NGOs mangels Verankerung nicht als Transmissionsriemen eignen.“ Daher werde, was in Brüssel als „demokratisch legitimiert“ gelte, häufig als Ausweitung der Bevormundung in den gesellschaftlichen Alltag hinein kritisiert.

Auch Furedi verortet die Ursache für Europas Diskursscheu in der Entwicklungsgeschichte der europäischen Einigung, die für ihn bis heute ein „Projekt ohne Namen“ ist. Während des Kalten Krieges und der Phase ökonomischer Stabilität in den 1950er- und 1960er-Jahren habe es kaum Kritik am europäischen Einigungsprozess gegeben. Die stabilen Rahmenbedingungen hätten dafür gesorgt, dass dieser Prozess als dynamisch und zukunftsorientiert wahrgenommen wurde. Erst in den 1970er-Jahren und insbesondere mit dem Ende des Kalten Krieges sei die ideelle Schwäche der europäischen politischen Identifikation immer deutlicher geworden.

Dieser Mangel wurde auch innerhalb der europäischen Institutionen erkannt. So weist der EU-Bericht „The Spiritual and Cultural Dimension of Europe“ aus dem Jahr 2004 darauf hin, dass der innere Zusammenhalt der Union nicht allein durch ökonomische Kräfte, durch den Auf- und Ausbau ihrer Institutionen und die Schaffung des europäischen Binnenmarkts gesichert werden könne. Zuvor hatte dies bereits der frühere Präsident der EU-Kommission Jaques Delors mit dem Bonmot „Niemand verliebt sich in eine Wachstumsrate“ formuliert.

Dennoch gelang es auch in der Folge nicht, diesen Mangel an klar kommunizierbarer Visionen zu tilgen. Stattdessen brachten die Bürger sowohl in nationalen Parlamentswahlen als auch in unmittelbar die EU-Politik betreffenden Abstimmungen immer häufiger ihre Verdrossenheit zum Ausdruck. Ob in Dänemark 1992, in Frankreich und in den Niederlanden 2005, in Irland 2008 oder jüngst im EU-Referendum in Großbritannien: Wo immer nationale Politiker entschieden, ihre eigene Europapolitik über Volksbefragungen absichern zu lassen, verteilten die Bürger Denkzettel. Diese hatten jedoch zumeist keinen Einfluss auf die politische Entwicklung: Sie wurden entweder ignoriert, oder es wurde kurzerhand neu gewählt – freilich nicht, ohne die jeweilige Bevölkerung zuvor einer umfassenden pro-europäischen PR-Kampagne auszusetzen.

Im Mai 2013 benannte der damalige Präsident der EU-Kommission José Manuel Barroso die inhaltlichen und hausgemachten Gründe der europapolitischen Krise selbst klipp und klar: „Wie stehen an einem Punkt der Geschichte, an dem die europäische Integration nun offen, transparent und auf Basis der expliziten Unterstützung der Bürger Europas entwickelt werden muss. Die Zeiten der impliziten Zustimmung sind vorbei. Europa muss demokratischer werden als jemals zuvor.“ Deutlicher kann man existierende Defizite kaum benennen.

Furedi konstatiert, dass seit dem Ende des Kalten Krieges der europäische Gedanke nicht mehr auf dynamischen Visionen basiere, sondern durch eine rückwärtsorientierte Suche nach einer gemeinsamen historischen Identität geprägt sei. Die Überwindung von Nationalismus, Faschismus und Krieg sei als eine Art europäischer Gründungsmythos in den Fokus gerückt. Was zumindest als tragfähiges, wenngleich negativ definiertes Fundament zu halten schien, sei aber mit der Osterweiterung der Union ins Wanken geraten: Für die ehemaligen Ostblockstaaten stelle gerade nicht die Überwindung nationalstaatlichen Handelns, sondern vielmehr die Wiederherstellung ihrer Souveränität den Kern ihrer modernen Identität dar. Furedi folgert daraus: Allein auf Basis historischer Interpretationen und ohne gemeinsame positive Zukunftsvisionen kann eine Staatengemeinschaft auf Dauer nicht überleben – insbesondere dann nicht, „wenn Kritik an der EU Gefahr läuft, künftig als ‚Hassverbrechen‘ gebrandmarkt und verboten zu werden“.

Den Strategen in der Europäischen Union ist bewusst, dass es an einer positiven Identifikation der Menschen mangelt. Immer wieder wurde daher sehr bewusst versucht, ein neues „europäisches Geschichtsbild“ zu entwerfen. „The Mind and the Body of Europe. A new narrative“ aus dem Jahr 2013 war ein solches Projekt: Es musste jedoch scheitern, denn politische Identifikation kann nicht von oben etabliert werden. Hieran offenbart sich das zentrale Problem der europäischen Demokratie: Man glaubt, sie von oben nach unten implementieren zu können. Diese letztlich undemokratische Überzeugung zu überwinden, erfordert ein grundlegendes Neudenken.

Immer wieder wird in europapolitischen Debatten beschworen, dass der „europäische Gedanke“ existenziell gefährdet sei. Dies ist zweifellos der Fall: Nach mehr als 20 Jahren einer als „alternativlos“ und mechanistisch durchgesetzten Politik der europäischen Integration ist die einst Hoffnung verheißende „europäische Idee“ für viele nur mehr eine inhaltsleere Floskel. Um die Strahlkraft Europa und seiner demokratischen Tradition neu zu entfachen und die Zentrifugalkräfte zu neutralisieren, die den Kontinent politisch zu zerreißen drohen, bedarf es einer grundlegenden Frischzellenkur durch konkrete, inspirierende, in die Zukunft weisende und für die Menschen erlebbare Inhalte:

Europa als politisches Projekt neu entwickeln:
Die Strategie der Entpolitisierung von Kontroversen und des Marginalisierens von Kritik verhindert, dass sich Europa als lernendes System neu erfinden kann. Die Scheu vor der demokratischen Auseinandersetzung muss überwunden werden, auch wenn die heutige Europäische Union genau dies verhindern soll. Doch dieses Wiederentdecken von politischer Kultur ist weder eine Generationen- noch eine Klassenfrage, und es wird auch nicht ohne Reibungen und Konflikte ablaufen. Wir müssen diese Konflikte zulassen, denn genau diese Reibung liefert die Energie für eine neue europäische Identität.

Menschen ernstnehmen:
Demokratische Erneuerung kann nur gelingen, wenn die Bürger in einer seriösen Debatte um europäische Zukunftsvisionen zu Wort kommen und ihr Wort auch zählt. Dieses Ringen um die Zukunft findet nicht nur in der die „große Politik“, sondern auch im Kleinen statt – wenn wir es zulassen. Europa darf sich nicht als wirtschaftliche Lenkungsapparat oder als Sponsor von Kulturfestivals verstehen und ansonsten im Alltag nur durch Normierungs- und interventionistische Kontrollpolitik auffallen. Es muss seine Bürger so fordern, wie es dem „Souverän“ in einer Demokratie zusteht. Ein solcher Souverän sollte den Anspruch haben, sich mit politischen Prozessen in ihrer wirklichen Komplexität auseinanderzusetzen – ohne künstliche Polarisierung, ohne Emotionalisierung und ohne Simplifizierung. Eine sich so entwickelnde politische Kultur wird feststellen, dass angesichts der Komplexität politischer Prozesse plebiszitäre Elemente nur in Ausnahmefällen der Weisheit letzter Schluss sind.

Vielfalt und Dissens als Stärke begreifen:
Die im Alltag häufig als schädlich empfundene Europäisierungs- und Vereinheitlichungspolitik muss auf den Prüfstand gestellt werden. Sie ist der eigentliche Auslöser nationaler Rückzugsreflexe, die aber zumeist das Gefühl der politischen Entmündigung und des Verlusts demokratischer Kontrolle widerspiegeln.

Kommunikation technisch und inhaltlich modernisieren:
In der Debatte über die Demokratiekrise wird zu Recht auf die Bedeutung neuer Medien und des Internets gelegt. Ohne spannende politische Visionen und kontroverse Diskussionen werden diese Kanäle aber nicht zu einer Belebung führen. Zur modernen Medienwelt gehören Sender wie auch Empfänger; es ist gut, dass beide Gruppen zunehmend verschwimmen. Nur auf Basis einer größtmöglichen Freiheit von Sendern und Empfängern können die neuen Medien ein wichtiger Hebel zur Entwicklung einer erneuerten politischen Kultur werden.

Eine neue Kultur des (Selbst-)Vertrauens entwickeln:
Die Krise Europas ist auch eine Krise des Vertrauens in die Menschheit als Ganzes und in ihre Fähigkeit zur Aufklärung. Es bedarf aber dieses Vertrauens in die Menschen und somit eines positiveren, humanistischeren Welt- und Menschenbildes, als wir es heute haben, wenn die repräsentative Demokratie wirklich funktionieren soll. Nur so kann die von Beate Kohler skizzierte „Kultur des Zuhörens und des Abwägens von Argumenten“ in die von Frank Furedi geforderte „Zukunftsorientierung des europäischen Denkens“ münden.

 

Dieser Essay ist Anfang November 2016 im Magazin 51° der Stiftung Mercator erschienen.