Jugendproteste gegen die Waffengesetze in den USA, junge Menschen, die für Europa eintreten und sich für Umweltschutz, Frieden und Menschenrechte einsetzen – Jugendliche sind derzeit hochpolitisiert. Aber mitunter demokratiefern.
Es wäre in der Tat eine Fehlinterpretation, junge Menschen als per se unpolitisch zu bezeichnen. Tatsächlich sind viele Jugendliche sehr sensibel für gesellschaftliche Veränderungen und Ereignisse. Nicht zuletzt dank sozialer Netzwerke verbreiten sich Nachrichten in hoher Geschwindigkeit. Und es bleibt auch nicht beim passiven Konsum: Viele Jugendliche engagieren sich gegen Missstände. Zumeist geht es hierbei um Fragen des Umweltschutzes, um ethische Standards in Wirtschaft und Konsum, um Krieg und Menschenrechte. Sie veröffentlichen Petitionen online, sammeln Unterschriften, setzen sich für Hilfs- oder Naturschutzorganisationen ein und veranstalten Diskussionen an Schulen.
Engagement ist häufig impulsiv und emotional
Es mag sein, dass sich insgesamt weniger Jugendliche engagieren, als das früher der Fall war. Dies ist aber kein Jugendproblem, sondern eher ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Aber warum sollten sich ausgerechnet junge Leute stärker einbringen, wenn ihnen Erwachsene das Gegenteil vorleben und sie auch in diesem Sinne beeinflussen? Denn die Anziehungs- und Aktivierungskraft von Parteien, Gewerkschaften und Kirchen hat in den vergangenen Jahrzehnten stark nachgelassen – bei den älteren Generationen, und daher auch erst recht bei den jüngeren. Es gibt keinen Grund, Jugendliche dafür zu verurteilen, dass sie anders sind als Jugendliche in der Vergangenheit. Menschen sind immer Kinder ihrer Zeit, und sie spiegeln auch in ihrem Protest immer den jeweiligen Zeitgeist wider. Anders formuliert: Es wäre ungesund und ein Zeichen erdrückender gesellschaftlicher Stagnation, wenn Jugendliche heute dieselben Anliegen und Ziele hätten wie Jugendliche vor 50 Jahren und versuchen würden, diese mit denselben Methoden durchzusetzen.
Eine interessante Frage aber ist, was die neuen Formen der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Problemen über das Denken junge Menschen heute aussagen. Was an modernen Formen sozialen Engagements auffällt, ist das stark ausgeprägte spontane und impulsive Element: Begünstigt durch beschleunigte Nachrichtenübermittlung und Kommunikationsmöglichkeiten können Ereignisse sehr schnell und sehr flächendeckende Reaktionen zur Folge haben. Ebenso kann das Interesse aber auch wieder abebben. Dieser Effekt wird nicht nur durch die Technologie erzeugt. Es ist auch die heutige Sicht auf Ereignisse und insbesondere die Tendenz, weniger in größeren Zusammenhängen zu denken und Ereignisse stattdessen singulär zu betrachten. Immer seltener werden historische Parallelen gezogen und somit Ereignisse verständlich eingeordnet. An die Stelle einer zusammenhangsorientierten Bewertung tritt eine emotionale und subjektive Wahrnehmung von Trends, Entwicklungen und Ereignissen.
Betroffenheit duldet keine Toleranz
Diese Entwicklung ist an sich nicht neu, aber in dem Maße, in dem Menschen die Welt in immer kleineren und begrenzteren Zusammenhängen sehen, verstärkt sich dieser Effekt der Emotionalisierung. Ein gutes Alltagsbeispiel hierfür ist die scheinbar belanglose, aber weit verbreitete Annahme, das Wetter spiele verrückt. Diese Aussage gilt in „Zeiten des Klimawandels“ als grundsätzlich richtig – ganz egal, wie das Wetter wirklich ist: Das „gefühlte“ Wetter steht in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Messergebnissen, erst recht nicht dann, wenn man diese mit historischen Daten in Beziehung setzt. Aber durch die Brille des Außer-Kontrolle-Geratens betrachtet, erscheint beinahe jeder Wetterwechsel inzwischen als „unnatürlich“. Zudem manifestiert sich hinter der Wahrnehmung angeblich immer stärkerer Wetterkapriolen die realitätsferne Annahme, es habe früher so etwas wie ein stabiles Gleichgewicht bei Wetterschwankungen gegeben.
Die Konzentration auf „unnatürliche“ und vermeintlich nie dagewesene Abweichungen von der Normalität führt zu der Feststellung, dass die Dinge nicht nur heftiger werden, sondern Veränderungen auch immer schneller geschehen. Diese eigentümlich ängstliche Sicht betrifft nicht nur das Wetter, sondern auch gesellschaftliche Entwicklungen. Wer versucht, mit Fakten gegen derlei „persönliche Eindrücke“ zu argumentieren, steht zumeist auf verlorenem Posten. Da die Wahrnehmung der Wirklichkeit emotional geprägt ist, findet auch eine „Subjektivierung“ von Engagement statt. Auch dies ist kein neuer Effekt, er erreicht aber ein neues Ausmaß: Wenn nämlich Engagement hauptsächlich Ausdruck persönlicher Betroffenheiten und individueller Lebenskonstellationen ist, dann verliert die Auseinandersetzung zwischen kontroversen Standpunkten an Bedeutung. Die Konfrontation mit Andersdenkenden wird zu einer nicht hinnehmbaren Gefährdung der persönlichen Integrität. Mit anderen Worten: Betroffenheitsengagement zeichnet sich durch Null-Toleranz aus.
NROs profitieren von der Demokratieverdrossenheit
Die fatalen Konsequenzen für die gesellschaftliche Debattenkultur spüren wir bereits heute: Teils scheinbar willkürliches Löschen von Aussagen, Stürmungen von Veranstaltungen oder das Verbot von Ausstellungen wird heute in den meisten Fällen damit begründet, man müsse verhindern, dass sich gerade junge Menschen in ihrer Integrität angegriffen fühlen. Die eigene Unversehrtheit zu schützen, gilt als höheres Gut als das Freiheit. Und je weiter die Grenzen dessen gefasst werden, was als Angriff auf die persönliche Integrität verstanden wird, desto weniger Raum bleibt zur Kontroverse. Gelebte Demokratie, also das robuste Austauschen gegensätzlicher Standpunkte und der Wettstreit um die besten Ideen und Standpunkte mit dem Ziel, den Souverän, also die Bevölkerung, mehrheitlich zu überzeugen, verschwindet aus der realen Erfahrungswelt.
Interessanterweise kann man dies an der sinkenden Popularität von Organisationen, die Teil des klassischen demokratischen Entscheidungsprozesses sind, ablesen. Es hat fast den Anschein, als würden Jugendliche Formen des Engagements meiden, in denen sie mit Andersdenkenden in Kontakt geraten. Die Beliebtheit von Nichtregierungsorganisationen (NRO) wie Greenpeace ist vor diesem Hintergrund bezeichnend: Deren Zielsetzung ist eindeutig: Es geht in erster Linie um die direkte Beeinflussung von Regierungen im Sinne der eigenen Agenda. Es geht nicht darum, in der Bevölkerung tatsächlich um Mehrheiten zu ringen oder die Menschen dazu zu ermutigen, sich in demokratischen Organisationen zu engagieren. NROs sehen sich als Lobbygruppen einer höheren Wahrheit und fühlen sich nicht an Prinzipien wie etwa die demokratische Rechenschaftspflicht gebunden.
Denn tatsächlich konzentriert sich politisches Engagement in der Welt von NROs häufig auf einen plakativen Aktionismus, der implizit, aber zuweilen auch explizit, demokratische Prozesse als „schwerfällig“, als „Geschwafel“ und als ineffiziente „Veränderungsbremsen“ diffamiert und entsprechend zu umgehen versucht. Diese Skepsis gegenüber demokratischen Prozessen trifft den Nerv vieler junger Menschen: Für viele ist Politik eine von starren Regeln und großer Bürgerferne geprägte Behörde, die für Jugendliche kein Interesse zeigt. So verständlich und nachvollziehbar dieser Eindruck auch ist: Die Versteinerung demokratischer Prozesse lässt sich nicht dadurch bekämpfen, dass man sie durch undemokratische Prozesse ersetzt. Nichts anderes tun aber manche Nichtregierungsorganisationen: Sie bauen gerade nicht darauf, dass sich Menschen demokratisch organisieren und somit demokratische Traditionen vielleicht neu mit Leben füllen, sondern sie profitieren von der verbreiteten Demokratieverdrossenheit.
Angstrevolten gefährden die Freiheit
Betrachtet man die Themen und Anliegen, die vielen Jugendliche heute wichtig sind, so fällt auf, dass Angst- und Unsicherheitsthemen im Zentrum stehen: die Angst vor dem Klimawandel, vor Umweltverschmutzung, vor schlechten Zukunftschancen, die Angst vor dem Auseinanderdriften der Gesellschaft, vor zu laxen Waffengesetzen, Kriminalität etc. Über jedes einzelne dieser Ziele ließe sich ernsthaft diskutieren – was aber viel zu selten geschieht. Stattdessen werden diese Themen in NRO-Manier umgesetzt in einfache politische Forderungen, die letztlich nur einen Adressaten haben können: den starken Staat. Denn in ihrer Konsequenz beinhalten diese Forderungen Aufrufe, mehr Kontrollen durchzuführen, neue Verbote zu erlassen, Spielräume zu reduzieren und das Verhalten der Menschen gezielt zu beeinflussen – auf welche Art auch immer. Die Vorstellung, dass sich Menschen eben gegen staatliche Kontrollprogramme und Gängelungspolitik zu Recht zu Wehr setzen, wird hier mit dem Verweis auf die allseits drohende Apokalypse weggewischt.
Wir haben es also mit durchaus gesellschaftlich und gesellschaftspolitisch interessierten und informierten Jugendlichen zu tun. Was sich jedoch gedreht hat, ist die Stoßrichtung des Engagements: Die heutigen Jugendlichen sind weit davon entfernt, für mehr Freiheit und eine Befreiung von staatlicher Bevormundung auf die Straße zu gehen, weder politisch, noch kulturell, noch persönlich. Ihre Forderungen sind vielmehr klassisch etatistisch, beseelt vom Misstrauen gegenüber anderen Menschen und getragen von Appellen an die Autoritäten, Ordnung zu schaffen, um die eigenen persönlichen Erwartungen an das Leben nicht zu gefährden. Kurz gesagt: Einen Staat kann man mit den so ausgerichteten Jugendlichen sehr wohl machen, einen sehr starken sogar! Eine freie Gesellschaft mit ihnen durchzusetzen, bedarf hingegen der ernsthaften Auseinandersetzung mit den Denkstrukturen und Grundannahmen der modernen Angst- und Misstrauenskultur – in allen Generationen.
Dieser Artikel ist am 4. März 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erscienen.