God save Britannia!

Vereinigtes Königreich, Union, Flagge

16.09.2022 – Großbritannien ist sowohl traditionsverhaftet als auch freiheitsliebend. Kein Wunder, dass das für viele Deutsche nicht zusammenpasst, sind sie doch zumeist weder das eine noch das andere. Dabei wünschen sich manche insgeheim, es gäbe so etwas auch in Deutschland: Anführer mit Integrität, Rückgrat und Verlässlichkeit, die nicht nur dem Zeitgeist hinterherhechten.

Ich bin wahrlich kein Monarchist. Dementsprechend interessieren mich die Zeremonien um die Beerdigung der britischen Königin Elizabeth II. kein Stück. Aber wenn ich mir ansehe, für was die pseudo-modernen Eliten und „Ökoristokraten“ unserer Zeit stehen und wie sehr verbunden sich ihnen der neue britische König Charles III. fühlt, dann halte ich doch lieber an manchen Wertvorstellungen der guten alten Elizabeth fest.

Viel spannender als die Ereignisse im Vereinten Königreich sind für mich die Reaktionen in Deutschland. Die öffentliche Meinung hierzulande scheint sich grob in zwei Lager aufzuteilen: Der eine Teil verfolgt die Inszenierung – verstohlen auf Bildschirme schielend oder öffentlich an ihnen klebend –, um den Glamour und das Glitzern der Krone aufzusaugen. Insgeheim wünschen sich manche, es gäbe so etwas auch in Deutschland: Anführer mit Integrität, Rückgrat und Verlässlichkeit, die sich nicht im schmutzigen politischen Alltagsgeschäft besudeln und nicht dem Zeitgeist hinterherhechten, um in den Umfragen die Nase vorne zu haben. Diese stille Sehnsucht nach royalem Glanz ist in Deutschland ungebrochen; sie zeigt sich auch daran, dass die Klatschpresse weiterhin gut durch alle Krisen kommt. Häufig hat diese romantische Sehnsucht eine antidemokratische und auch offen reaktionäre Note.

Zeugnis der eigenen Geschichtsvergessenheit
Der andere Teil der deutschen Öffentlichkeit wendet sich lästernd und leicht angewidert von dem ganzen Rummel um die britische Monarchie ab. Es geht aber nicht unbedingt nur darum, sondern um die Abscheu gegenüber der jetzt wieder deutlich werdenden Verbundenheit vieler Briten zu ihren Traditionen und ihrer nationalen Geschichte. Das zuweilen trotzig wirkende Festhalten an überkommenen Ritualen fügt sich ein in das Bild von den exzentrisch-verschrobenen Briten, oder, wie man hierzulande zuweilen hören kann, den „Inselaffen“.

Obgleich ich mit dem zuletzt beschriebenen Teil der deutschen Öffentlichkeit das Fremdeln mit der Monarchie gemein habe, so kann ich die Feindseligkeit gegenüber den Briten überhaupt nicht teilen. Diese Ablehnung verrät weniger über das Vereinte Königreich als über die deutsche Gesellschaft: Es ist deren eigene Geschichtslosigkeit, bzw. die fehlende gelebte, aktive und zukunftsorientierte Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

Geschichte taucht in Deutschland in erster Linie in Form immer zahlreicher werdender Gedenktage auf, die den Weg durch unseren Alltag pflastern und von nicht wenigen als störende Bremsschwellen wahrgenommen werden. Wir gedenken und gedenken und gedenken – wenn aber die Briten ihre Traditionen hochhalten, dann wirft man ihnen Rückwärtsgewandtheit vor! Wäre nicht von den Deutschen die Rede, müsste man fast sagen: Die haben ja richtig Humor!

Brexit? So was darf nicht sein
In den deutschen Reaktionen auf den Wechsel an der Spitze des britischen Staates mischt sich eine demokratieverdrossene Sehnsucht nach Orientierung und Führung mit einer fast schon traditionsfeindlichen Ablehnung von Geschichte an sich. Festgemacht wird diese sehr deutsche Gefühlslage vorzugsweise und immer wieder gerne an den Briten – und zwar nicht nur, wenn die Royal Family glitzernde oder peinliche Schlagzeilen produziert oder die Three Lions einen Elfmeter verschießen. Seit dem Brexit setzt sich die zum Teil subtile, weil humorvoll daherkommende, zum Teil aber auch direkte, weil politisch begründete Ablehnung Großbritanniens stärker in den Köpfen fest.

Was man noch bis zum Austritt des Vereinten Königreichs aus der EU als verschrobene Eigenbrötlerei und Arroganz belächelte, wird nun härter bewertet. Für überzeugte EU-Europäer ist der Brexit ein schmerzhafter Stachel im Fleisch der eigenen ach so demokratischen und modernen Überzeugungen – nicht, weil „die blöden Engländer endlich raus“ sind, sondern weil die Gefahr besteht, dass sie von anderen zum Vorbild genommen werden. Großbritannien in seiner Entscheidung ernst zu nehmen oder gar seinen Weg gut zu heißen, verträgt sich nicht mit dem deutschen Verständnis von Demokratie und Europäertum.

Monarchie und demokratisches Bewusstsein passen zusammen
Hier wird die Sicht auf Großbritannien endgültig obskur und widersprüchlich: Einerseits mokiert man sich über den Traditionalismus „auf der Insel“, andererseits kritisiert man die Briten dafür, dass sie ihrer politischen Klasse ganz unerzogen den Stinkefinger zeigten und sich gegen deren Willen mehrheitlich für den Austritt aus der EU entschieden haben. Die Briten sind einerseits traditionsverhaftet, andererseits freiheitsliebend. Kein Wunder, dass das für viele Deutsche nicht zusammenpasst, sind sie doch zumeist weder das eine noch das andere!

Für mich ist es genau diese Mischung, die Großbritannien so interessant und liebenswert macht. Zur britischen Tradition gehört eben nicht nur die Monarchie, sondern mindestens genauso die altehrwürdige Demokratie! Die wenigsten Briten würden aus Liebe zum Königshaus die Demokratie abschaffen wollen! Beides gehört irgendwie zusammen, und deren Beziehung wird ständig neu ausgehandelt, ohne dabei allzu anfällig für kurzfristige Modeerscheinungen zu sein. Der Patriotismus einerseits und die Weltoffenheit andererseits, die verbreitete Treue zur Krone und der unbändige Drang nach demokratischer Selbstbestimmung – das macht die Briten so anders als die Mehrheit der Deutschen.

Bewundernswerte Debattenkultur
Es ist davon auszugehen, dass unter Charles III. die britische Monarchie einige der positiven Werte einbüßen wird, für die Elizabeth II. stand. Die Krone wird moderner und auch instabiler werden – und angesichts der Beschaffenheit des grün-elitären Zeitgeistes verheißt das wenig Gutes. Aber genau dies auszuhandeln, ist eben auch Sache der Briten, und dass sie dies offen und kontrovers tun werden, daran besteht kein Zweifel.

Kontrovers über Geschichte und Politik streiten, gehört in Deutschland nicht unbedingt zu den demokratisch-üblichen Gepflogenheiten. Die eigene Geschichte existiert hauptsächlich in einer unantastbaren, quasi-religiösen Lesart, als ewiges Mahnmal. Gestritten werden darf darüber nicht, ohne dass sofort der ideologische Staatsschutz alarmiert wird. Dies gilt aber nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Gegenwart, die hierzulande ja als inhaltliche Antithese zur Vergangenheit gedacht und konstruiert wird. Zwischen pädagogischer Einhegung und präventiver Sedierung der Bevölkerung, bleibt kaum Platz für kontroverse Debatten.

Wir sollten die Briten beneiden: für ihre offene Debattenkultur, für den selbstbewussten, unmittelbaren und auch kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte und für ihre Bereitschaft und den Mut, die Zukunft eigenständig zu gestalten und über den richtigen Weg dahin heftig zu streiten. Dieser mag holprig sein, aber er ist bewusst gewählt, demokratisch und frei. God save Britannia!

Dieser Artikel ist am 16.09.2022 auf Cicero Online erschienen.