Es ist kompliziert – zum Glück!

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In unserer komplizierten Welt ist der Wunsch nach einfachen Erklärungen und schnellen Lösungen stark ausgeprägt. Dabei ist es gerade die menschliche Fähigkeit sich mit der Komplexität auseinanderzusetzen, die unser Leben einfacher macht. Sie ist außerdem die Voraussetzung für Freiheit.

Was war das Leben früher doch so schön, damals, als es uns noch nicht so überfordernd viele Möglichkeiten bot! Die Fernsehgeräte brauchten keine Fernbedienung, denn einer der drei Sender wurde direkt beim Einschalten gewählt, und zumeist hielt der dann für den ganzen Abend.

Aber war das Leben früher wirklich angenehmer, als es noch nicht so vielfältig war? Macht es glücklich und am Ende womöglich sogar frei, keine Wahl zu haben, weil man dann wenigstens sicher ist, keine falschen Entscheidungen treffen zu können? Überfordern uns diese ganzen Möglichkeiten, die uns kontinuierlich Entscheidungen abverlangen? Welchen Effekt hätte es, wenn der Lebenspartner tatsächlich „weniger komplex“ wäre? Und wenn Komplexität unsere Entscheidungsfreiheit einschränkt, bedeutet das, dass wir freier und froher sind, wenn alles banaler ist?

Sehnsucht nach Einfachheit

Der Wunsch nach einfachen Erklärungen und schnellen Lösungen ist heute stark ausgeprägt: Die Suche nach klarer Kante, nach Schwarz- und Weiß-Gewissheiten und schnellen Problemlösungen prägt den Zeitgeist. Gerade in Zeiten großer Unsicherheit sind eindeutige Schuldige und sechsspurige Auswege aus der Krise gefragt. Dennoch ist das Gefühl, dass einem manchmal „alles zu viel“ wird, häufig eine subjektive Laune, die wenig mit objektiven Gegebenheiten zu tun hat. Wir sind dann ungeduldig, mit unseren Kräften oder Nerven am Ende oder es einfach gerade leid, uns ernsthaft mit etwas auseinanderzusetzen. Wir sehnen uns nach einer Einfachheit, die es so jedoch nie gegeben hat.

Natürlich ist Einfachheit in vielen Bereichen eine großartige Errungenschaft, denn sie ermöglicht es uns, uns anderen komplexeren Dingen zuzuwenden. Es gab Zeiten, in denen die Menschen den ganzen Tag damit zubrachten, sich Nahrung zu beschaffen. Gleichzeitig konnte schon ein vereiterter Zahn, eine Bindehautentzündung oder ein gebrochenes Bein das Ende bedeuten. Für viele relativ einfache Probleme gab es keine Lösungen. Viele heute leicht zu erklärende Ereignisse erschienen den Menschen gänzlich unerklärbar und damit auch unbeeinflussbar. Ist ein Leben, in dem von uns erwartet wird, vieles zu wissen und zu verstehen und wir das auch tun, wirklich schwieriger als ein Leben, in dem man aus Unwissenheit auf die Güte des Herrn bauen muss, damit dieser einem nicht die Pest an den Hals wünscht?

Vom eigenen Leben überfordert

Die Welt im Ganzen betrachtet ist sicherlich komplexer geworden. Nur lamentieren wir nicht auf globalem Level, sondern meinen in der Regel unser eigenes Leben, das uns gerade überfordert. Das ist ab und an verständlich, liegt aber nicht daran, dass unsere Leben so viel komplexer geworden sind. Gut, wir müssen uns damit abfinden, dass wir Ersatzteile für Plattenspieler nur noch auf dem Flohmarkt bekommen, dass wir nicht wissen, was wir mit unseren alten Videokassetten machen sollen und dass wir zu allem Überfluss auch noch unsere Smartphones monatlich updaten müssen.

In manchen Bereichen unserer Welt geschehen an der Oberfläche laufend viele kleine Veränderungen. Unterhalb dieser „Benutzeroberfläche“, also in den tragenden Strukturen unserer Welt, finden Updates und Systemwechsel jedoch weitaus seltener und auch unbemerkter statt. Dieses Nebeneinander von schnellen Veränderungen und „Hypes“ an der Oberfläche bei gleichzeitiger Unbeweglichkeit und Starrheit der darunterliegenden Strukturen ist bestimmt ein Grund für das Gefühl der Überforderung und der Ungewissheit darüber, was tatsächlich einschneidende Veränderungen sind und was nicht.

Einfachheit unterstützt Emotionalität

Eigentlich sollten wir aber froh sein, dass vieles in unserer Welt so komplex ist. Gemessen an ihrer Einfachheit sind Kartenhäuser zwar äußerst stabil, aber dennoch gibt es gute Gründe, warum beim Hausbau komplexere Konstruktionen bevorzugt werden. Intelligente, komplexere Systeme sind oft stabiler, belastbarer und widerstandsfähiger, und es bedarf größerer, komplexer Anstrengungen, um sie komplett außer Kraft zu setzen. Das gilt für Gebäude genauso wie für Staaten und Ökosysteme. Stabilität heißt nicht, dass komplexe Systeme nicht veränderlich sind. Im Gegenteil: Sie sind in der Regel sogar äußerst flexibel. Die komplexe, erdbebensichere Bauweise moderner Gebäude in Tokio verbindet Stabilität mit hoher Flexibilität.

Da intelligente, lernende und komplexe Systeme in der Regel recht robust sind, haben wir einigen Anlass, davon auszugehen, dass ihr Zusammenbruch nicht unmittelbar bevorsteht und auch nicht leicht zu bewerkstelligen ist. Dieses Wissen kann vor Überreaktionen schützen – sowohl vor überzogenen Hoffnungen (und daraus resultierenden Enttäuschungen) als auch vor Panik. Beide Spielarten der Überreaktion beziehen ihre Attraktivität aus der zugrundeliegenden Einfachheit, der Unmittelbarkeit und der behaupteten Direktheit der Zusammenhänge. Die politischen Debatten unserer Zeit liefern jede Menge unschöner Beispiele für den Zusammenhang von Einfachheit und Emotionalität. Je weniger komplex ein Zusammenhang erscheint, desto einfacher lässt sich die Thematik emotional aufladen.

CO2-Konzentration nicht gefährlich für „das Klima“

Das gilt für menschgemachte Systeme in ähnlicher Weise wie für natürliche. Wir unterschätzen häufig deren Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, was nicht selten zu krassen Fehleinschätzungen führt. Ein Waldbrand zerstört nicht die Natur, sondern versetzt sie in einen anderen Zustand, der aber nicht naturfern ist. Selbst ein umgekippter Tümpel ist kein unnatürlicher Ort. Der Anstieg der CO2-Konzentration in der Atmosphäre ist nicht gefährlich für „das Klima“ oder „die Natur“, sondern einzig und allein für wenig komplexes Denken, das Unveränderlichkeit häufig als einzige Realität wahrnimmt. Glücklicherweise ist der Mensch aber zu komplexerem Denken und Handeln in der Lage. Nicht umsonst hat er sich an jede Klimazone und an jede Klimaveränderung auf unserem Planeten erfolgreich angepasst. Es gibt keinen Grund, diese Fähigkeit zu vernachlässigen oder anzuzweifeln.

Wäre die Welt so einfach, wie sie sich manche erträumen, sie würden grässlich enttäuscht, denn sie hielten sie dann für alles Mögliche, nur nicht für „einfach“. Erst durch die Auseinandersetzung mit Komplexität lernen wir, besser mit ihr umzugehen. In dieser Hinsicht untrainiertes Denken scheitert an nicht an komplexen Herausforderungen, sondern an Banalitäten. Die Forderung nach Einfachheit ist in vielen Lebensbereichen überaus sinnvoll. Allerdings hat die Menschheit die Arbeitsteilung nicht entwickelt, um das auf jedes Individuum entfallende Quantum an zu bewältigender Komplexität zu reduzieren, sondern um im Gegenteil die Gesamtmenge an menschlich erfassbarer und handhabbarer Komplexität zu vergrößern.

Weniger Komplexität ermöglicht kein einfacheres Leben

Das Ziel der Arbeitsteilung besteht nicht darin, dass jeder einfach „weniger“ zu tun und zu denken hat, sondern, dass jeder sich intensiver mit bestimmten Aspekten der Welt auseinandersetzen und tiefer in Komplexitäten eintauchen kann. Wenn wir eine höhere Nutzerfreundlichkeit von technischen Geräten wünschen, fordern wir letztlich, dass sich die Forscher und Entwickler auf diesem Gebiet gefällst ins Zeug legen und es uns ermöglichen, unsere Zeit für etwas anderes zu verwenden. Wer ernsthaft fordert, wir mögen doch bitte unsere Faszination für Komplexität ein wenig zurückschrauben, hat kein einfacheres Leben zu erwarten.

Viele Menschen verbinden Komplexität mit dem Gefühl, kaum noch freie Entscheidungen treffen zu können. Ob jedoch weniger komplexe Lebenszusammenhänge tatsächlich mehr Freiheit ermöglichen, ist zu bezweifeln. Oft ist es gerade diese Vielfalt, die uns als kompliziert erscheint, denn sie fordert von uns, Entscheidungen zu treffen und diese auch zu verantworten. Entscheidungen mit Weitblick lassen sich dann am besten treffen, wenn man eine Perspektive hat. Perspektiven kann man aber nicht downloaden: Man muss sie selbst entwickeln.

Komplexität und Freiheit ohneeinander nicht vorstellbar

Auch wenn unsere Entscheidungsfreiheit nicht unbegrenzt ist, so bietet uns die „komplexe“ moderne Gesellschaft dennoch eine Menge an Möglichkeiten, um die uns unsere Vorfahren aufs Tiefste beneidet hätten. Komplexität und Freiheit sind nicht nur zufällige Zeitgenossen, sie sind ohneeinander nicht vorstellbar. Nur innerhalb einfachster Systeme gibt es keine Alternativen.

Diese zutiefst menschliche Suche nach Möglichkeiten und neuen Perspektiven ist nicht nur Voraussetzung für mehr Freiheit, sie hält auch Systeme flexibel, beweglich und lernfähig. Und je komplexer Zusammenhänge sind, desto mehr Stellschrauben gibt es, an denen man drehen und dadurch Veränderungen anstoßen kann – vorausgesetzt, man lässt sich durch die Verfechter einfacher Lösungen und die Apostel der Alternativlosigkeit nicht davon abschrecken.

Dieser Artikel ist am 30. Juni 2019 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.