Nicht die Kanzlerin hat den Niedergang konservativer Politik ausgelöst, sondern umgekehrt: Ihr Aufstieg ist eine Folge dieses Niedergangs. Die Konzentration der Kritik auf Angela Merkel zeugt von dem Wunsch, eine politische Strömung zu retten, die es nicht mehr gibt.
Kürzlich hatte ich einen Traum. Ich träumte, abends vor dem Fernseher zu sitzen und plötzlich einer ungewöhnlichen Programmänderung gewahr zu werden: Nein, keine Naturkatastrophe, auch kein erneuter Rücktritt vom Rücktritt vom Rücktritt eines ohnehin Gescheiterten war der Grund. Es war viel skurriler: Die Talkrunde musste mangels diskussionswilligen Personals entfallen. Bevor ich ernsthaft die Existenz des Paradieses in Betracht ziehen konnte, wachte ich auf. Ein wenig fühlte ich mich angesichts der Absage der außerplanmäßigen „Anne-Will“-Sendung am letzten Sonntag an diesen Traum erinnert. Wenn sich aber Regierende wie auch oppositionelle Politiker nicht einmal mehr am Faschingssonntag zum gegenseitigen Einseifen in die Öffentlichkeit locken lassen, dann muss die Lage schon besonders sein, oder etwa nicht?
Die Krise der Dinos
Sonderlich ist nach der geglückten Sondierung der Sonderbaren jedoch weniger die Lage an sich als vielmehr die Art und Weise, in der dieser Prozess diskutiert wird. Fassungslosigkeit, Empörung und Aufgeregtheit sind zum Dauerzustand geworden, in dem der einordnende Rückblick in die jüngere Vergangenheit oft zu kurz kommt. Was ist denn schon Überraschendes passiert? Zwei arg gerupfte, aber eben rechnerisch nicht entmachtete Regierungsparteien schicken sich unter enormem Getöse und Gestöhne an, ihr ungeliebtes Bündnis fortzusetzen. Dass sich in beiden Parteien Widerstand regt, ist das Mindeste, was man von demokratischen Organisationen erwarten sollte. Naturgemäß hat es der Widerstand in einer führenden Regierungspartei schwerer als bei einem noch stärker gebeutelten Juniorpartner, noch dazu, wenn dieser seine Retter ungefähr so häufig austauscht wie der Hamburger SV seine Trainer.
Man mag mir den Vergleich verzeihen: Aber betrachtet man den Zustand der SPD durch die Scheuklappen der Tagesaktualität, wird das Leiden des eingefleischten HSV-Fans nachvollziehbar: Die Gegenwart erscheint als Aneinanderreihung von immer neuen und tiefer werdenden Krisen. Jedes vermeintlich neue Gesicht wird sogleich messianisch überhöht, wenn auch nur bis zur nächsten Krisenzuspitzung. „Opposition“ klingt für den deutschen Partei-Dino genauso wie „zweite Liga“ für den Bundesliga-Dino: Ein Gang dorthin mag der Erneuerung Vorschub leisten – doch welcher Dinosaurier verträgt schon Erneuerung? Denn genau in dieser liegt die Gefahr: Ohne neue Ideen wird der Wiederaufstieg kaum gelingen.
Schlimmer als der Stillstand sind naive Erklärungsversuche
Aus Krisen kann man etwas lernen, heißt es. Daraus folgt aber auch: Eine Krise gewinnt nicht nur durch das Handeln der führenden Akteure an Tiefe, sondern kann auch durch eine wenig konstruktive Auseinandersetzung mit ihren Ursachen zugespitzt werden. Im Falle der politischen Entwicklung in Deutschland ist die Debatte fast krisenhafter als die Situation selbst. Deutlich wird dies etwa an der Forderung, die Politik möge doch endlich mit der Personaldebatte aufhören und in die inhaltliche Diskussion einsteigen. Das dahinter stehende Denken offenbart das ganze Ausmaß des intellektuellen Dilemmas. Fakt ist: Die Unfähigkeit zur klaren und inspirierenden Formulierung von Standpunkten – seien sie konservativer oder sozialdemokratischer Natur – ist kein neues Phänomen, sondern seit Jahrzehnten altbekannt.
Dass in der Politik immer stärker der Fokus auf Personen liegt, ist eine logische Folge dieses inhaltlichen Niedergangs – und nicht sein Auslöser. Dieser Niedergang prägt seit so langer Zeit die politische Kultur, dass es mittlerweile kaum noch Akteure gibt, die anders könnten, wenn sie denn wollten. Die heute führende Politikergeneration kennt harte politische Kontroversen als Mittel der konstruktiven Fortentwicklung von Demokratie fast nur noch aus den Archiven. Es gibt im heutigen Berlin keinen Schalter, den man nur umlegen bräuchte, um die inhaltliche Debatte wieder zu entfachen. Eben dies aber von dem agierenden Personal zu fordern, ist Ausdruck einer völligen Fehleinschätzung. Die eigentliche Krise ist viel grundlegender, viel älter und viel ernster.
Angela Merkel: ein Kind der Konservatismus-Krise
Die Personalisierung von Politik ist also nicht Ursache, sondern Konsequenz ihrer inhaltlichen Entleerung. Daher geht auch die Konzentration auf einzelne Akteure an der eigentlichen Problematik vorbei. Die Kritik an Angela Merkel macht die Kanzlerin verantwortlich für den Verlust des konservativen Markenkerns der CDU. Geäußert wird diese Kritik nicht nur von der oppositionellen „Alternative für Deutschland“. Sie kommt auch vom aufbegehrenden Parteinachwuchs wie auch aus der alten Garde der CDU, die allesamt in den letzten Jahren von der Kanzlerin an den Rand gedrängt wurden oder aber von sich aus in die Wirtschaft oder in den Ruhestand gegangen sind.
Sicherlich hätte ein wirklich konservativer Kopf Entscheidungen wie die für den Atomausstieg, für die Abschaffung der Wehrpflicht oder für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe niemals so lapidar treffen können, wie es Merkel tat. Und dennoch hat nicht die Kanzlerin den Niedergang konservativer Politik ausgelöst. Tatsächlich ist ihr Aufstieg selbst eine Folge dieses Niedergangs. Die Konzentration der Kritik auf die Person Merkel zeugt entweder von politischer Amnesie oder von dem bewussten Streben, den Konservatismus als eine politische Strömung zu retten, die es bereits seit vielen Jahren nicht mehr gibt. Da diese Verklärung das Problem falsch verortet, führen auch die daraus abgeleiteten „Lösungen“ („Merkel muss weg!“) zwangsläufig ins Leere.
Schon Kohl rang um Erneuerung – vergebens
Der Niedergang des Konservatismus in Deutschland ist so alt, dass er bereits vor Beginn der Amtszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl Anfang der achtziger Jahre greifbar war. Schon sein sozialdemokratischer Vorgänger Helmut Schmidt hatte mit dem vielzitierten Satz, wer Visionen habe, möge zum Arzt gehen, ein demotivierendes Politikverständnis an den Tag gelegt. Es war kein Zufall, dass sich gerade zu diesem Zeitpunkt mit den Grünen eine Anti-Parteien-Partei links von der SPD gründete.
Insbesondere Kohls krachend gescheitertes Projekt einer „geistig moralischen Wende“ wurde zum Symbol der damals schon als tief empfundenen bürgerlichen Sinnkrise. Spätestens mit der fast lautlosen Schaffung eines Bundesministeriums für Frauen sowie für Umwelt Mitte der achtziger Jahre waren die ohnehin nur kosmetischen Versuche einer konservativen Erneuerung endgültig Makulatur. Seither stand Kohl nicht mehr für einen Rechtsruck, sondern für eine Politik des bräsigen Aussitzens. Nicht umsonst zeigten sich bereits in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre im Erstarken rechtslastiger Protestparteien erste Erosionserscheinungen. Die Abwahl der Kohl-Regierung war nur noch eine Frage der Zeit. Aufschub wurde ihr lediglich durch ein auswärtiges Ereignis gewährt: durch die Revolution in der DDR.
Der Niedergang von Links und Rechts
Aber selbst der Kollaps des Sozialismus konnte den Niedergang des Konservatismus nicht aufhalten, im Gegenteil: Das Wegbrechen der Gegenseite im „Links-Rechts-Denken“ offenbarte sehr schnell die eigene Leere. Besonders stark ausgeprägt war diese ideelle Verwurzelung in der alten Bundesrepublik. Deren Elite hatte es sich in der Teilung bequem eingerichtet und diese nicht zuletzt finanziell stabilisiert. Das Streben nach der Wiedervereinigung war nicht mehr als eine Floskel für politische Sonntagsreden. Entsprechend schnell verflog dann auch die Wiedervereinigungs-Euphorie: Schon 1992 wurde im frisch vereinten Deutschland „Politikverdrossenheit“ zum Unwort des Jahres gewählt. Die Herstellung der inneren Einheit geriet zu einer fast endlosen Belastung, die die ohnehin träge politische Kultur des Landes endgültig lahmzulegen drohte.
Da es gleichzeitig der SPD über viele Jahre hinweg nicht gelang, eine Aufbruchsstimmung und die dafür notwendige inhaltliche Neuorientierung zu erzeugen, fanden sich die Menschen weitgehend mit der politischen Stagnation ab – sieht man von gelegentlichen Ausbrüchen der Wählerwut ab, die teilweise rechter, teilweise regional-ostdeutscher oder schlicht politikverdrossener Natur waren. Die zurückgehende Anziehungskraft der Parteiendemokratie zeigte sich auch in der Hinwendung der Eliten zu einer dem Wählerzugriff weitgehend entzogenen neuen Ebene politischen Agierens: der Europäischen Union.
Friedhof der Ideologien und der Demokratie
Die inhaltliche Entkernung der CDU ist so weit fortgeschritten, dass die Partei heute unfähig ist, ein auch nur halbwegs glaubwürdiges Profil abzubilden. Angela Merkel ist hierbei genauso ein Produkt dieser Entwicklung wie die AfD. Und gerade deswegen brauchen beide einander. Das Glaubwürdigkeitsproblem der Merkel-CDU spiegelt sich in den internen Spannungen der Deutschalternativen wider: Da mit einem gemäßigten „echten“ Konservatismus, wie ihn pragmatische Kreise innerhalb der Partei propagieren, seit Jahrzehnten kaum etwas zu gewinnen ist, ist die AfD zusätzlich auf Scharfmacher angewiesen. Noch mag sie mit der zur Schau getragenen Bravheit im Bundestag Aufsehen erregen. Doch langfristig ist „konservativ“ heute nur noch in der pornografischen Überspitzung seiner völkisch-nationalistischen Dimensionen „aufregend“ – wenngleich diese Art der Aufregung der AfD auf dem Weg in die Mitte nicht gerade nutzt.
Im Freilichtmuseum Deutschland können aktuell die Auswirkungen einer Zwillingskrise besichtigt werden: Der Niedergang des Konservatismus wie auch der Sozialdemokratie haben die politische Landschaft in einen Friedhof der Ideologien und der Demokratie verwandelt. Nur in dieser von Verwesung und Verfall geprägten Umgebung kann eine Formation wie die AfD überhaupt als vergleichsweise „stabil“ und profiliert erscheinen. Bislang hat sich neben der alten Rechts-Links-Achse noch keine neue Achse etabliert, an der sich neue Strömungen bilden könnten. Auch radikale Versuche der Wiederbelebung dieser Achse werden keine nachhaltige Eigendynamik entfalten können. Derzeit gelingt es keiner Orientierung, über die Abwendung der Apokalypse hinaus positive Ziele zu entwerfen, die es bräuchte, um Menschen für eigene Entwürfe zu begeistern. An der Bereitschaft, sich inspirieren zu lassen, mangelt es nicht, wohl aber am Angebot.
Dieser Artikel ist am 18. Februar 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.