29.07.2022 – Die Politik ist krisensüchtig. Ihre Abhängigkeit von Ausnahmezuständen offenbart sich in der fortgesetzten Unwilligkeit, „Normalität“ auch nur anzustreben. Viel lieber hangelt sie sich von Krise zu Krise und von Sondermaßnahme zu Notverordnung. Diese Krisensucht ist ein Ausdruck tiefer Demokratieverdrossenheit – und zwar nicht von unten, sondern von oben.
Wir leben schon länger in einer Ära aufeinanderfolgender Notstände. In den letzten Jahren scheint es aber, als gäben sich die Krisen in schnellerer und unterbrechungsloser Abfolge die Klinke in die Hand, als entwickelte sich daraus eine Art Dauerkrise mit wechselnden Aufhängern. 2019 begann dieser beschleunigte Krisenmodus noch als Testlauf, gewissermaßen im politischen Sandkasten: Damals rief Konstanz am Bodensee den Klimanotstand aus. Mehr als 50 Kommunen in Deutschland folgten dem Beispiel. Was hier als eine Art Übung begann, liefert die Basis für die heutige Politik und für das sie begünstigende gesellschaftliche Klima.
Natürlich war der Klimanotstand von Konstanz in erster Linie symbolischer Natur – aber spannend wird es aber eben erst auch ab der zweiten Linie: Denn auf kommunaler Ebene wurde begonnen, mit Gremien und neuen Entscheidungskanälen zu experimentieren, mit denen an traditionellen demokratischen Strukturen vorbei auf Notstände regiert werden kann. Das Ganze wurde als modern, vorausschauend und nachhaltig gebrandet, und natürlich als Gewinn für Sicherheit und Gesundheit. Doch die Übung blieb nicht lokal: Noch im selben Jahr hängte die damalige Kanzlerin Angela Merkel ein Schild mit der Aufschrift „Klimakabinett“ an die Tür und lud einige Ministerien ein, um in einer Art Notstandsrat die wichtigen Entscheidungen zu treffen.
Klima-Kabinett, Corona-Kabinett, Kriegs-Kabinett?
2020 brauchte Merkel dann nur noch das Schild auszutauschen und die Zusammensetzung des Krisenrates anzupassen, und fertig war das Corona-Kabinett. Aber die Lehren aus der Zeit der spielerischen Klimanotstände waren bereits gezogen: Neue Gremien machten sich daran, die wichtigen Entscheidungen zu treffen – sogar Gremien, die es eigentlich in dieser Form und Rolle gar nicht gab. Aber Hauptsache, kleine Kreise treffen hinter verschlossenen Türen abstimmungsbedürftige Entschlüsse – so zeigt man krisentaugliche Führungsqualität, selbst bei wachsender Planlosigkeit. In Krisenzeiten ist keine Zeit fürs ausführliche Debattieren, es muss ja schließlich ausführlich regiert werden. Und je schwerer sich Regierungen damit tun, desto wichtiger finden sie es, dass darüber nicht debattiert wird.
2021 schoss dann im Ahrtal eine veritable Krise dazwischen. Diese Katastrophe war aber eher traditioneller Art, irgendwie oldschool, weil so brutal, so unmittelbar und direkt, mit hemdsärmligen Menschen in der Nachbarschaft, die unmittelbar anpackten und sofort massive Maßnahmen und schweres Gerät forderten, um den bösen Naturgewalten zu trotzen. Das war gar nicht so im Fokus moderner Notstandsanhänger, weshalb sich „Fridays for Future“ auch eher bedeckt hielten, anstatt die Freitage vielleicht in der Eifel zu verbringen, aufräumend, schlammschippend, tröstend. In dieser Krise menschelte es einfach zu sehr, als dass die „Gretatisten“ damit hätten gut umgehen können. Außerdem kollidierte die Flutkatastrophe mit der Corona-Krise. In so unhygienische und demaskierte Gegenden fuhr man dann doch eher nicht.
2022 sind wir in einer neuen Phase der Notstands-Ära angekommen. Der nun vorherrschende Notstand ist schon viel älter, aber der russische Präsident Wladimir Putin hat ihn jetzt erst so richtig virulent gemacht, den deutschen Energienotstand. Viele Jahre hatte man nicht etwa gegen, sondern für Windmühlen gekämpft und auf sonnige Sommer gesetzt, obwohl man hierzulande weniger Wind, aber dafür mehr Regen bräuchte. Gleichzeitig wurde vorbildlich auf klimafreundliche und verlässliche Technologien wie Atomkraft verzichtet, weil man sich ja immer auf Atomstrom aus weniger umweltbewussten Ländern und auf Ressourcen aus ohnehin vermurksten Schurkenstaaten verlassen konnte.
Putin und die Ampel des Grauens
Und nun begann Wladimir Putin, quasi im Wochenrhythmus den Gashahn auf- und wieder zuzudrehen, um die Deutschen so richtig schön an der Nase herumzuführen. Tatsächlich funktionieren Putins Pipelines wie Drehregler, mit denen er die deutschen Ängste dimmt und hochjazzt, wie er mag. Was Putin dabei nicht versteht: Letztlich spielt er der wild flackernden Ampel damit in die Hände, denn er liefert einen Anlass für Notstandsgesetze, den die deutsche Politik sich so niemals hätte ausdenken können. Denn was 2019 in Konstanz noch zuweilen belächelt wurde, wird mittlerweile für alternativlos gehalten und sogar eingefordert: der endgültige Abschied von der Normalität, denn die gilt mittlerweile als ein gesundheitsschädliches, klimaschädliches und dazu verlogenes Konstrukt von Putins Gnaden, das anzustreben ein Ausdruck gefährlich rechtslastiger Realitätsferne zu sein scheint.
Es sollte nicht überraschen, dass Regierungen sich in solche Notstandskaskaden verlieben und nur zu gerne bereit sind, die Ströme der Politik um die schwerfälligen Mühlen demokratischer Entscheidungsprozesse herumzuleiten. Der scheinbar von außen herbeigeführte Verlust der Normalität rechtfertigt das innere Chaos und betont in der öffentlichen Wahrnehmung die außergewöhnliche Verantwortung der Entscheidungsträger, anstatt ihre Rat- und Verantwortungslosigkeit zu beleuchten. Je verunsicherter und planloser die Politik agiert, desto mehr braucht sie die wachsenden Verordnungsspielräume der sich entwickelnden Notstandskultur, um sich immer fester an das Heft des Handelns klammern zu können, selbst wenn darin nur wenig Belastbares geschrieben steht.
Die Liebe der Linken zum Notstand
Es gehört zu den Grotesken unserer Zeit, dass es knapp 55 Jahre nach den großen Protesten gegen die bundesrepublikanischen Notstandsgesetze heute gerade die politischen Erben der damaligen Demonstranten sind, die mit dem Notstand ihren Frieden gemacht haben. Und nicht nur das: Offensichtlich haben sie so viele Friedenspfeifchen mit dem Notstand geraucht, dass sie ohne gar nicht mehr auskommen. Wurde 1968 der Notstand noch als autoritäre Aushebelung der Demokratie von vielen Menschen abgelehnt und politisch auf Heftigste bekämpft, so gilt genau dieser Notstand heute als politische Allzweckwaffe. Die Notverordnung erscheint als alles entscheidender Hebel, um endlich zu schnelleren und effektiveren Maßnahmen zu kommen, ohne immer das träge und vom Konsum geblendete Volk im mühsamen demokratischen Prozess für die eigenen Positionen gewinnen zu müssen.
Die Liebe zum Notstand ist heute gerade auf der Linken stark ausgeprägt, und sie ist Ausdruck des Demokratieverdrusses und der Ablehnung all jener, die man mit den eigenen Ideen offensichtlich nicht (mehr) erreicht. Da man selbst nunmehr aber die Wortführerschaft in den politischen Eliten übernommen hat, entwickelt sich im wahrsten Sinne des Wortes eine moderne Not-Ständegesellschaft. Der Not-Standesdünkel dieser neuen Krisenelite ist klar erkennbar: Es sind die niederen Stände, die mangelgebildeten, aber übergewichtigen, normalitätssüchtigen, umweltverpestenden und virenverteilenden Kreise, die in die richtige Richtung zu bewegen oder aber vom Rechtsdrall abzuhalten nur über Sondermaßnahmen zu bewerkstelligen ist.
„Fürchtet euch nicht!“ als Parole gegen die Angstkultur
Doch ein Blick über den deutschen Tellerrand hinaus zeigt, dass dieser „niedere Stand“ durchaus gegen die Herrschaft der grünen Notstandseliten aufbegehrt. Von den kanadischen Truckfahrern über die niederländischen (und auch deutschen) Landwirte bis hin zu den Bürgern von Sri Lanka, die gegen die ihnen aufgedrückte verheerende Öko-Landwirtschaft nicht nur protestierten, sondern die verantwortliche Regierung zum Teufel jagten: Viele Menschen kämpfen für die Normalisierung ihrer Lebensverhältnisse – und dies ist kein rückschrittlicher Kampf, sondern im Gegenteil ein Ringen um Fortschritt.
Man kann verstehen, warum gerade grüne Politiker angesichts drohender Energieengpässe auch hierzulande vor Aufständen warnen. Mit diesen Warnungen wird gerade ein neues Notstands-Szenario etabliert. Zudem hält man dem Bundesgesundheitsminister Corona-King Karl Lauterbach den Rücken frei, damit dieser weitere Pandemiegeister beschwört oder alternativ, sollte Corona nicht genug Angstpotenzial mehr hergeben, der Gesellschaft nunmehr die Bekämpfung kommender Grippewellen aufzudrücken versucht. Die Furcht muss präsent bleiben, damit die rar gewordenen Ressourcen Mut und Freiheitswille nicht so schnell nachwachsen. Es mag eine die biblische Formulierung sein, dennoch birgt sie heute politischen Sprengstoff, wenn man sie einmal öffentlich ausspricht: „Fürchtet euch nicht!“ Sich nicht immer wieder zu fürchten und ängstigen zu lassen, ist wohl der einzige Ausweg aus der Kultur des permanenten Notstands.
Dieser Artikel ist am 29.7.2022 auf Cicero Online erschienen.