Die neue deutsche Unpässlichkeit

Der Asylstreit zwischen CDU und CSU ist nur das jüngste Beispiel: Irgendwie passt das alles nicht mehr in Deutschland, eine Unruhe liegt über dem Land. Dabei täte es gut, den neuen Wirklichkeiten ins Auge zu sehen.

Deutsche Wertarbeit, Pünktlichkeit und Präzision, Organisation, Sauberkeit und Verlässlichkeit, Sauerkraut, Bratwurst und Biedermeier prägten über Jahrzehnte das germanische Image. Seit den neunziger Jahren wird das Markenbild „Made in Germany“ durch die glückliche Made aus deutschem Biogemüse ergänzt. Seither wechselten Waldsterben und Wetterkatastrophen, Mülltrennung und Quotenregelung, Rinderwahn und Klimawandel einander ab und erzeugen ein beständig fortschreitendes Risikobewusstsein. Die vielfältige Angstkultur ist zum zeitgemäßen Treiber der modernen Nulltoleranzkultur geworden. Alles, was nicht passt, wird entweder geächtet oder verboten, ins Ausland verschafft oder mit drastischen Steuern belegt. Die deutsche Ordnungsliebe hat einen grünen Anstrich bekommen und Risikovermeidung wurde zum neuen deutschen Exportschlager.

Doch das Selbstbild des typischen Deutschen gerät ins Wanken. Irgendwie passt das alles nicht mehr. Eine Unruhe liegt über dem Land. Deutschland ist hyperempfindlich und zugleich unpässlich, um nicht zu sagen: wundersam verwundbar. Und dies gerade an seiner empfindlichsten Stelle: in seiner Grundordnung und -vertrauen. Der Mehrzahl der Deutschen schlägt dieses Gefühl der Instabilität gründlich auf den Magen.

Keine politischen Gewissheiten mehr

Die Liste von als erschütternd empfundenen Veränderungen wird von Tag zu Tag länger. Sie umfasst mittlerweile sogar das einfache politische Einmaleins. Bis vor kurzem konnte man wenigstens seine unsichere Rente sicher darauf verwetten, dass CDU und CSU bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag sich in sowohl formalisierter als auch in zuweilen wilder Ehe kabbeln und lieben würden. Mittlerweile aber finden sich die treuesten Anhänger von Kanzlerin Angela Merkel bei den Grünen. Während sich CSU-Bundesinnenminister Horst Seehofer als mannschaftsinterner Rebell präsentiert und die Schwesterpartei mit ständigen Pässen über die Raute hinweg in den Rücken der eigenen Abwehr in Atem hält. Ob Kapitänin Merkel noch die Kraft hat, ihm den Laufpass zu geben, erscheint fraglich.

Derweil ist die ohrenbetäubende Totenstille der SPD im Maschinenraum der „Großen“ Koalition keineswegs verwunderlich, sondern wörtlich zu nehmen. Tatsächlich würde es den Sozialdemokraten niemand abnehmen, wenn sie zuversichtlich etwaigen Neuwahlen entgegenfieberten. SPD-Chefin Andrea Nahles ist jedenfalls angesichts der christdemokratischen Selbstzerfleischungsorgien vollends in Deckung gegangen – wohlwissend, dass die Genossen für derartige Gemetzel und Gelage gar nicht mehr genug politisches Fleisch auf den Rippen hätten. Denn um sich gegenseitig zu zerfleischen, muss es etwas geben, in dem Zähne Halt finden können. Währenddessen scheinen die ohnehin zahnlosen Grünen sich langsam ethisch-moralisch darauf vorzubereiten, einer eventuell über die eigene Visionslosigkeit stolpernden Kanzlerin politisches Asyl zu gewähren – wohl mit einer Art koalitionsarithmetischen Doppelpass, möglicherweise gespielt über die freidemokratische Bande.

Foul am Gerechtigkeitsempfinden

Die einzigen, die sich angesichts dieser zunehmenden Kannibalisierung der politischen Elite des Landes die Hände reiben, sind die Deutschalternativen. Als konservative Putztruppe patrouillieren sie in den verwaisten Gedankengängen der politischen Kultur und sammeln all jene auf, die am Wegesrand verzweifelt um Frischluft betteln. Das Erfolgsrezept ist schlicht, aber effizient: Wer im Vakuum als einziger mit Verwesungsgerüchen handelt, kann sich selbst als Frischluftanbieter preisen, ohne Gefahr zu laufen, als Flachpassverteiler oder Luftpumpe entlarvt zu werden. Man atmet eben, was man kriegt. Dennoch ist auch diese Strategie nicht wirklich nachhaltig: Ist die akute Atemnot erst einmal überwunden, setzen Denk- und Erinnerungsvermögen wie auch Geschmacks- und Geruchssinn automatisch wieder ein. Bekanntlich spielt „Sinn“ in diesen Bereichen eine wesentlich gewichtigere Rolle als beim Aufbau einer muffigen Gesinnung.

Nun könnte man freilich mit der Feststellung aufwarten, dass derlei Irrungen und Wirrungen schon lange ein stilbildendes Merkmal deutschen Passspiels waren. In Spanien nennt man diese traumtänzerische, jedoch zuweilen auch ziellos und desorientiert wirkende Spielweise Tiki-Taka. Nur: Dort funktionierte es, solange sich einer fand, der den dann doch irgendwann geschlagenen Steilpass verwandelte. Mit Doppelpässen wie auch mit dem Verwandeln von Steilpässen tut man sich in Deutschland aber auf wie auch neben dem Platz gründlich schwer. Sogar verwandelte zentralafrikanische Diplomatenpässe werden sofort als Fälschungen entlarvt, wie der (tiefe) Fall der deutschen Tennisikone Boris Becker zeigt. Weniger gut gelingt das Entlarven von Fälschungen und doppelten oder achtfachen Identitäten aber offenbar in deutschen Asylverfahren, was vom Gerechtigkeitsempfinden der Menschen zu Recht als Foul identifiziert wird.

Sehnsucht nach der guten alten Zeit

Die Frage, wie einige Menschen mit ungeklärten Identitäten und multiplen Reisepässen ungehindert das Land betreten oder verlassen können, während andere einen Pass vorlegen müssen, um Zigaretten kaufen zu dürfen, ist keine „rechte Frage“, sondern ein Ruf nach Gerechtigkeit. Freilich hat dieser Ruf einen gewissen Unterton: Er drückt die Sehnsucht nach den guten alten Zeiten der Rundumüberwachung aus, selbst wenn gerade in diesen Zeiten der Grundstein der heutigen Misstrauenskultur gelegt wurde. Doch mit diesem Widerspruch muss man als risikoaverser Bürger umgehen lernen, denn nur, wer sich rundum kontrollieren lässt, kann auch ein Leben in Vollkaskomentalität führen.

Interessanterweise sind Grün- und Deutschalternative sich gerade in ihrer romantischen Verklärung eben dieser als so übersichtlich und stimmig insinuierten Vergangenheit sehr ähnlich, um nicht zu sagen, voll auf Linie. Während sich die Einen vor der Überflutung deutscher Kulturlandschaften durch polares Schmelzwasser fürchten, treibt den Anderen die Überflutung deutscher Kultur durch subtropische Menschenmassen den Angstschweiß die Zornesfalte herunter. Gemeinsam ist diesen verschiedenen Ausprägungen deutscher Angst die Ohnmacht des Opfers angesichts globaler Bedrohungen. Noch beschränkt sich die offen zur Schau getragene Fremdenfeindlichkeit in grünen Kreisen bislang zumeist auf eingewanderte Tier- und Pflanzenarten. Aufgrund des spürbaren Engpasses im Bereich humanistischen Denkens gerät das biologistisches Abgrenzungsvokabular auch in sozialen und politischen Diskursen zunehmend in Mode.

Aber vielleicht hat dieses ganze Durcheinander auch sein Gutes. Immerhin bedeutet dies ja, dass alte und veraltete Strukturen mittlerweile als solche wahr- und deshalb immer weniger ernstgenommen werden. Nach Jahrzehnten in der politischen Zwangsjacke der Alternativlosigkeit ist dieser Drang nach Befreiung und Bewegung nachvollziehbar. Irgendwann passen die alten Anzüge einfach nicht mehr, auch wenn man sich noch so sehr darum bemüht, die Zeit zurückzudrehen. Es tut gut, den neuen Wirklichkeiten ins Auge zu sehen. Damit die Dinge irgendwann mal wieder passen und Pässe in den freien Raum nicht immer im Abseits landen.

Dieser Artikel ist am 24. Juni 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.