Die Multikulti-Ideologie verhindert Integration

Viele Jahre lang haben große Teile der deutschen Gesellschaft den Traum von der friedlichen Multikulti-Idylle geträumt. Doch dieser Traum ist ausgeträumt. Die heute weit verbreitete Diagnose lautet:

Einwanderer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum – und insbesondere Männer – seien kaum integrier-bar, schon gar nicht in großer Anzahl. Die kulturelle Erblast des konservativen Islam wiege zu schwer, um sie im Rahmen der möglichen Integrationsbemühungen zeitnah zu überwinden.

Ich bin mir recht sicher, mit dieser Meinung hier in einer Minderheit zu sein, aber dennoch ist es so: Ich halte diese Diagnose für falsch. Und ich möchte im Folgenden darlegen warum.

Zunächst muss ich zugeben, dass ich geradezu allergisch auf jede Form feministisch anmutender Männerbeschimpfung reagiere, auch dann, wenn sie sich „nur“ gegen Männer aus Nordafrika oder aus dem arabischen Raum richtet.

Alice Schwarzer hätte sie sich wohl nie träumen lassen. tatsächlich eines Tages für ihre pauschalen Be- und Verurteilung von Männergruppen von deren Geschlechts-genossen beklatscht zu werden. Wie konnte es geschehen, dass der fleischgewordenen Giftspritze des Feminismus, die über Jahrzehnte gewaltigen Ladungen Antihumanismus verteilte, plötzlich die Herzen des deutschen Männer-Mainstreams zufliegen?

Nein, die Dame ist nicht etwa vernünftig geworden. Sie hat lediglich ihr vorurteilsbeladenes Gender-Denken in ein modisches neues Gewand gekleidet: den Glauben an die kulturell begründete Nichtintegrierbarkeit von Nordafrikanern und Arabern. Kein Wunder, dass Alice Schwarzer damit Pluspunkte sammelt: Sie bedient damit die Mehrheitsmeinung, derzufolge kulturelle Unterschiede heute als allgemeingültige Erklärung für nahezu alle gesellschaftlichen Probleme und Konflikte herhalten müssen. Auf diesem Erklärungsprinzip basiert ihre komplette feministische Grundhaltung.

Zudem sind derartige Erklärungen auch deshalb in den Führungsetagen unserer Gesellschaft so beliebt, weil man so die Ursachen aller Schwierigkeiten so bequem nach unten delegieren und gleichzeitig daraus jede Menge Überwachungs-, Kontroll- und Umerziehungsprogramme entwickeln kann: Denn immer sind irgend-welche kleinen Leute Schuld, egal woran, und die Lösung sitzt immer oben.

Haben Sie es gemerkt? Es geht nicht um Kritik an bestimmten Kulturen, was wir hier sehen, ist Menschenkritik in Reinform, verkleidet als feministische Kulturkritik.

Der Begriff „Kultur“ ist in der Migrations- und Integrationsdebatte zum zentralen Kampfbegriff geworden, und er wird von allen Seiten verwendet: Während die einen die Verschiedenartigkeit der Kulturen als Bereicherung feiern, betonen die anderen deren Unvereinbarkeit, weil sie unweigerlich zu Konflikten führe.

Ich finde, beide Seiten haben Unrecht. Die Fixierung auf „Kultur“ ist per se problematisch: Sie überbetont die Kraft kultureller Prägungen und verneint zugleich die Fähigkeiten des Menschen, sich diesen Prägungen zu entziehen. Und genau an diesem Punkt stehen sich die Kontrahenten in der Kulturdebatte näher, als sie denken. Beide Seiten sehen den individuellen Menschen letztlich als ausführendes Organ einer unauslöschlichen kulturellen Agenda, gewissermaßen als ferngesteuerten Agenten in einem Kampf der Kulturen.

In ihrer jeweiligen Kultur-Obsession haben beide Seiten zentrale Inhalte des europäisch-aufgeklärten Wertekanons preisgegeben. Da kulturelle Unterschiede heute beiden für nahezu unüberbrückbar gelten, scheint es auch Konsens zu sein, dass das Aufeinandertreffen bestimmter Kulturen automatisch das hiesige Gefüge sprengt. Der Unterschied zwischen „links“ und „rechts“ liegt nur noch in der Beantwortung der Frage, ob diese Sprengung zu begrüßen wäre oder nicht.

Völlig unrealistisch ist in diesem Denken die Vorstellung, dass die westliche Zivilisation daran eben nicht zerbrechen, sondern mit ihren Werten und Überzeugungen attraktiver, überzeugender und besser sein könnte als alle anderen konkurrierenden Entwürfe.

Es ist schon seltsam: Millionen aus anderen Kulturkreisen stammende und bestens integrierte Menschen sind der lebende Beweis für die unglaublich große Anziehungs- und Überzeugungskraft der westlichen Kultur. Doch trotz ihres historisch einzigartigen Erfolgs glaubt die westliche Zivilisation nicht mehr daran, dass sie mehr zu bieten hat als ein rückwärtsgewandter islamischer Gottesstaat.

Die Verunsicherung im westlichen Selbstverständnis ist so groß, dass es nicht einmal gelingt, so grundlegende Prinzipien wie das der Meinungsfreiheit zu verteidigen, ohne sie anschließend sofort mit einem „Ja, aber“ zu relativieren und somit ad absurdum zu führen. Für die einen sind die sogenannten „Rechtspopulisten“ untragbar, die anderen möchten lieber islamischen Hasspredigern das Wort verbieten. Das Prinzip ist dasselbe: Die Meinungsfreiheit wird geopfert, die grundlegendste aller Freiheiten überhaupt.

Es ist diese ideelle Schwäche des westlichen „Way of Life“ und die daraus entstehende Nachgiebigkeit, die teilweise bis zur Selbstaufgabe reicht, die aus der Flüchtlingsproblematik erst eine wirkliche gesellschaftliche Krise machen: Diese Krise wird nicht durch die Zuwanderung verursacht, sondern durch die Unfähigkeit der europäischen Gesellschaften, eigene Wertvorstellungen und Prinzipien konsequent zu vertreten und dabei gleich-zeitig Einwanderer dazu einzuladen, gleichberechtigt an der Weiterentwicklung dieser „universellen“ Kultur mitzuwirken.

Dass in so einer Gemengelage Menschen aus anderen Kulturkreisen schnell und pauschal als potenzielle Gefährder wahrgenommen werden, sollte nicht über-raschen: Wer keine eigene Mission hat, kann auch niemanden überzeugen. Wer niemanden überzeugt, wähnt schnell alle gegen sich. Und wer dies lange genug tut, hat damit dann auch irgendwann Recht.

Der deutsch-syrische Politologe Bassam Tibi, der sich als Verfassungspatriot und als Verfechter der Aufklärung immer für einen reformierten Euro-Islam einsetzte, erklärt dieses Phänomen sehr plastisch:

„Der Bauer aus Südsyrien, der nach Deutschland kommt, ist an sich nicht das Problem. Aber er ist ein Teil des Problems, da er islamisch sozialisiert und somit Träger einer neoabsolutistischen Kultur ist. Er trifft hier auf eine kulturrelativistische Gesellschaft, die sich selbst verleugnet. Ein Kulturrelativist lässt alles mit sich machen, und ein Neoabsolutist verlangt alles. Neoabsolutisten und Kulturrelativisten können daher kein Gemeinwesen bilden, da sie keine gemeinsamen Werte entwickeln können.“

 Nachzulesen ist das übrigens in meinem neuen E-Book „Zeitgeisterjagd Spezial. Essays gegen enges Denken“, in dem ich ein sehr langes persönliches Gespräch mit Bassam Tibi dokumentiere.

Tatsächlich fehlen den westlichen Gesellschaften im 21. Jahrhundert Zukunftsvisionen, um sowohl einheimische als auch zuwandernde Menschen zu begeistern und mitzureißen: Demokratie, individuelle Freiheit, Selbstbestimmung, Aufklärung, der Glaube an Wissenschaft und Bildung, an gesellschaftlichen Fortschritt, an persönliche Weiterentwicklung und an die Entwicklung einer universellen Vision – all diese klassisch bürgerlichen Überzeugungen werden heute eher müde belächelt und sogar offen politisch bekämpft.

Wer etwa heute öffentlich äußert, er halte die westliche Moderne für das Beste, was die Menschheit bisher erreicht habe, setzt sich unweigerlich dem Rassismus-Vorwurf aus. Aktuelles Beispiel: Die Studentenvertretung an der School of Oriental and African Studies in London forderte kürzlich, Plato, Descartes und Immanuel Kant weitgehend aus dem Fächerkatalog zu streichen. Der Grund? Sie waren weiß.

Angesichts solcher Entwicklungen, die tatsächlich nichts mit dem Islam zu tun haben, ist es nachvollziehbar, dass sich immer mehr Menschen „fremd im eigenen Land“ fühlen. Festgemacht wird dieses Gefühl zumeist an der „Überfremdung“, also am Zuzug von Ausländern. Interessant ist aber, dass das Fremdheitsgefühl gerade in Regionen stark ist, in denen der Anteil von Migranten vergleichsweise gering ist.

Das Gefühl der Fremdheit ist zwar real und keine sozial-hypochondrische Einbildung, es hat aber mehr mit der „befremdlichen“ Erosion gesellschaftlicher Grundüberzeugungen zu tun als mit Migranten. Deswegen kann dieses Gefühl auch dort entstehen, wo man nie einem Flüchtling auf der Straße begegnen wird. Es ist die Entfremdung von der hiesigen Gesellschaft, die das Fremdheitsgefühl auslöst. Das Fremdeln kommt von innen.

Angesichts dieser Erkenntnis drängt sich mir eine weitere Frage auf: In was hinein sollen sich rechtschaffende Migranten eigentlich integrieren? Wäre es nicht ehrlicher, parallel zu den Sprachkursen gleich noch Schweigekurse, Entmündigungsschulungen und Feminisierungs-Workshops zur politisch korrekten Nutzung von Unisex-Toiletten abzuhalten?

Um Menschen erfolgreich in etwas einzubeziehen, muss etwas da sein, das mehrheitlich für gut und sinnvoll gehalten wird und das Zukunftsperspektiven eröffnet. Die zunehmende Verdrossenheit der deutschen Bevölkerung deutet aber darauf hin, dass gerade an diesem Punkt einiges im Argen liegt – völlig unabhängig von der Flüchtlingsthematik.

Dass es in den zurückliegenden Jahrzehnten in Deutschland zumindest einen gewissen Grundkonsens gegeben haben muss, sieht man interessanterweise an den Migranten der ersten und zweiten Generation: Sie sind nicht diejenigen, die sich heute lange Bärte wachsen lassen und den Koran auf den Straßen verteilen.

Im Gegenteil: Die ersten Einwanderergenerationen waren darauf bedacht, trotz der Beibehaltung eigener kultureller und gemäßigt religiöser Traditionen im Privatleben in der deutschen Gesellschaft als Bürger anerkannt zu werden. Nicht wenige engagierten sich dafür sozial und auch politisch, auch mit Deutschen.

Bei einigen heute in Europa lebenden Jugendlichen gilt indes nicht mehr die Forderung nach gesellschaftlicher Gleichberechtigung und Teilhabe, wie sie von ihrer Eltern erhoben wurden, als „cool“. Ihre neuen Helden sind Islamisten und Terroristen. Deren Ideologie eignet sich deshalb so gut als Basis für eine Jugendprotestkultur, da sie sich sowohl gegen die als „verwestlicht“ und „verweichlicht“ geltende Elterngeneration als auch gegen die von ihnen als feindlich und ängstlich empfundene deutsche Mehrheitsgesellschaft richtet.

Dieser „hausgemachte“ islamische Terrorismus hat sehr viel mehr mit dem Zustand der westlichen Gesellschaften zu tun, als wir gerne wahrhaben wollen – was auch erklärt, warum selbst biodeutsche Jugendliche ohne Migrationshintergrund davon angezogen werden. Der westliche Dschihadismus ist die logische Antwort der Einwandererkinder und -enkel auf die sie umgebende Visions- und Orientierungslosigkeit, die auch von der ein-heimischen Bevölkerung empfunden wird.

Wenn ein Gemeinwesen nicht weiß, wofür es steht und wohin es sich entwickeln will, dann reagieren die Menschen auf unterschiedliche Arten darauf: Manche wen-den sich auf der Suche nach Orientierung der eigenen Geschichte oder der eigenen Kultur zu. Andere erhoffen sich in der Aufnahme anderer Menschen und Kulturen neue Impulse für die eigene Gemeinschaft. Zwischen diesen Polen bewegt sich die Migrationsdebatte. Beiden Polen gemein ist die Rückbesinnung auf Vergangenes sowie das Hoffen auf die Kraft der Kultur.

In Deutschland ist das als „links“ verstandene Konzept des „politischen Multikulturalismus“ stark ausgeprägt. Während in anderen Staaten Europas mehr über die sozialen und politischen Dimensionen der Migration und der Integration debattiert wurde, hat sich hierzulande bereits sehr früh das Zelebrieren kultureller Vielfalt als eine Art Politikersatz durchgesetzt.

Anstatt für die tatsächlich gleichberechtigte Einbeziehung von Zuwanderern in das Gemeinwesen politisch zu werben, versuchte die deutsche Linke, die Sympathie für kulturelle Vielfalt zur Basis staatlicher Integrationspolitik zu machen und damit der kontroverseren Frage, warum ausländische Steuerzahler kein Wahlrecht haben sollten, aus dem Weg zu gehen. Diese Frage ist nicht nur bis heute unbeantwortet geblieben, sie ist sogar komplett von der Agenda getilgt worden. Integrationswillige Ausländer dürfen in Ausländerbeiräten Demokratie spielen, die ungefähr so einflussreich sind wie Kinderparlamente und ihre Mitglieder auch genauso behandeln.

Was heute gemeinhin als Sieg des linken Gedankenguts kritisiert wird, ist in Wahrheit eine Folge des Niedergangs aufklärerischen Denkens: Die progressive Vorstellung von der Herausbildung einer universalistischen Kultur wird im Multikulti-Denken als rassistisch abgelehnt, das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Kulturen gilt als das maximal Mögliche.

Dass dieses Denken de facto die Integration von Migranten in die Aufnahmegesellschaft verhindert, wurde von Bassam Tibi bereits Ende der 90er-Jahre in seinem Buch „Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit“ thematisiert: Schon damals sagte er: Wer die Scharia zulässt, muss gesellschaftliche Zonen akzeptieren, in denen islamische Gesetze und nicht nationales Recht gelten. Insofern sind die heutigen Parallelgesell-schaften keine unerwünschten Nebenprodukte, sondern Kernbestandteile der multikulturellen Perspektive.

Wie rückschrittlich die Separierung von Menschen entlang kultureller Traditionen ist, spiegelt sich in der veränderten Wahrnehmung von Ausländern durch die deutsche Bevölkerung wider: In den späten 70er- und frühen 80er-Jahren haben wir unsere Nachbarkinder automatisch in ihren jeweiligen Nationalitäten wahr-genommen (bei uns im Viertel, in Frankfurt Rödelheim, waren es neben Italienern und Spaniern vor allen Dingen Türken, Iraner und Jugoslawen).

Eine große Bedeutung im Alltag hatte dies nicht, entscheidend war bei uns eher die Frage: Bist Du für die Eintracht oder für die Bayern? Nationalität war keine Grundlage für Bewertungen, Religion erst recht nicht. Das ist heute anders: An die Stelle der Nationalitäten sind heute „die Muslime“ getreten. Und von denen heißt es, sie seien alle eher mit Vorsicht zu genießen.

Dies ist der eigentlich gefährliche Kern des politischen Multikulturalismus. Er steht im Widerspruch zur gelebten Erfahrung des alltäglich funktionierenden Miteinanders von Menschen verschiedenster Nationalitäten und unter-schiedlichster kultureller Hintergründe. Der politische Multikulturalismus erklärt die kulturellen Traditionen zu unüberwindlichen individuellen Charaktereigenschaften.

Insofern ist das Multikulti-Denken dem Streben nach ethnisch homogenen Gesellschaften erstaunlich ähnlich: Was in ultranationalistischen oder rechtsradikalen Kreisen die „national befreite Zone“ ist, in der der Friede der Gleichartigen herrscht, wird im politischen Multikulturalismus zum friedlichen Nebeneinander gleich-berechtigter, aber hermetisch voneinander abgeriegelter kultureller Communities. In beiden Konzepten hat sich das Individuum der jeweilig vorherrschenden Kultur unterzuordnen.

Eine so aufgeteilte Gesellschaft muss natürlich intensiv von oben gemanagt werden. Um dies zu bewerkstelligen, redet die Politik am liebsten mit denen, die von sich behaupten, die größten Teile dieses Flickenteppichs zu repräsentieren. Politische Organisationen, die dies glaubhaft behaupten können, gibt es kaum. Was bleibt, sind traditionsorientierte oder religiöse Organisationen. Und so kommt es, dass Fragen der Integration zunehmend in konservativ-religiös besetzten Gremien diskutiert werden, obwohl Fragen der politischen Integration mit Religionsfragen gar nichts zu tun haben.

Die Bundesregierung hat diese Entwicklung bewusst vorangetrieben: Die vor mehr als 11 Jahren vom damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble ins Leben gerufene „Deutsche Islam-Konferenz“ ist ein krasses Beispiel dafür, wie sehr die Idee des Kulturrelativismus jenen Kräften nutzt, die mit westlichen Werten wie Demokratie und Freiheit am wenigsten zu tun haben.

Die vielleicht gefährlichste Folge des politischen Multikulturalismus ist aber, dass er die Unfähigkeit der Gesellschaft, Migranten zu integrieren, zementiert, da er schon den Versuch der Aufnahmegesellschaft, eigene Wertvorstellungen zu formulieren, als „rassistisch“ brandmarkt. Daher scheitert seit Jahren jeder Anlauf, über so etwas wie eine „Leitkultur“ zu reden, einerseits an der linken Verteufelung des Begriffes, andererseits aber auch an der rechten Unfähigkeit, kulturelle Standards zu definieren, ohne dabei in fremdenfeindliche Reflexe zurückzufallen.

Die Idee einer progressiven, offenen und integrations-bereiten Leitkultur, wie man sie beispielsweise in großen Metropolen wie New York oder London noch spüren kann, hat in Deutschland keine Tradition. Genau diese Idee lag aber der Wortschöpfung von Bassam Tibi zugrunde, und er vertritt diese bis heute. In dem bereits genannten Interview-Essay erklärt er die tatsächliche Bedeutung des von ihm entwickelten Begriffs der „Leitkultur“ wie folgt:

„Es geht um eine gemeinsame Werteorientierung, die besagt, dass der Mensch ein Individuum ist und nicht Mitglied eines Kollektivs, weder des deutschen Volkes noch der Umma. Mein Verständnis von Leitkultur ist also kein nationales, sondern ein universalistisches.“

Es wird Zeit, dass wir den Menschen aus der Dominanz dieses so rückschrittlichen Kulturbegriffes befreien. Und auch, wenn sowohl deutsche Kulturgutmenschen als auch Multikulturalisten es nicht wahrhaben wollen: Menschen können sich sehr wohl an zahlreiche Kulturen anpassen, ohne dabei ihre eigene Geschichte oder ihre Identität zu verleugnen. Und auch Kultur ist kein statisches Gebilde, sondern ständig in Bewegung; Sie ist kein Gefängnis, aus dem man sich nicht befreien könnte, sondern sie ist ein Sprungbrett in die Welt.

Die Forderung nach der Rückkehr zu homogenen Einheiten oder zu übersichtlichen kulturellen Einteilungen beraubt die Menschen ihrer Eigenverantwortung. Das-selbe gilt auch für die Behauptung der Gleichwertigkeit aller Kulturen: Sie ist ein direkter Angriff gegen die Kultur der Aufklärung und der Moderne.

Ich habe den Eindruck, dass der Glaube an diese Ideale im kompletten politischen Spektrum verloren gegangen ist. Da die Welt sich aber nicht kurzeitig anhalten lässt, bis man sich wieder auf die Werte des Humanismus besonnen hat, müssen wir diese Selbstvergewisserung parallel zur laufenden Tagespolitik bewerkstelligen. Hierzu brauchen wir einen offenen und demokratischen Wettstreit um Ideen und gesellschaftliche Visionen. Und dazu gehören für mich auch das Recht auf völlige Meinungsfreiheit, das Recht auf Bewegungsfreiheit und auch die Forderung nach offenen Grenzen.

Ein letztes Mal möchte ich Bassam Tibi zitieren:
„Meiner Vorstellung eines modernen Gemeinwesens liegen die Werte der Aufklärung zugrunde: Rationalität, Demokratie, die Trennung von Politik und Religion, also ein offenes und vielfältiges Haus auf Basis einer gemeinsamen Hausordnung. Für engstirniges Denken habe ich nichts übrig, und ich lasse mich auch nicht dafür instrumentalisieren.“

Diesem Statement habe ich nichts hinzuzufügen.

Dies ist das Skript eines Vortrags, den ich am 28. Januar 2017 auf der Jahreskonferenz der Zeitschrift „eigentümlich frei“ in Zinnowitz auf Usedom gehalten habe. Die Videoaufzeichnung finden Sie hier.