Die Elitenschmelze erreicht Berlin


Die Bundestagswahl wird als Schock empfunden, folgt aber einem Trend. In Europa neigt sich die Ära der politischen Regungslosigkeit dem Ende entgegen. Die Frage ist nur: Wohin geht die Reise?

In Europa hat sich zwar meteorologisch der Herbst eingenistet. Politisch gesehen aber erwacht gerade neues Leben. An vielen Stellen zeigen sich schrille Blüten, wo bis eben noch Ödnis war. Wenn man nach einer langen Frostperiode das erste Mal durch den Stadtpark läuft, dann ist die Sinneserfahrung eher ernüchternd: Die Farben sind nicht bunt, sondern grau, und es riecht auch nicht nach Frühlingsblumen, sondern nach frisch aufgetautem Hundekot.

Zerfall politischer Strukturen

Das gilt auch für das Wiedererwachen von Politik. In den vergangenen knapp 30 Jahren waren die westlichen Führungs- und Herrschaftssysteme hauptsächlich damit beschäftigt, das Ende der Nachkriegszeit abzufedern und zu verhindern, dass sich an der Macht- und Autoritätsarchitektur Grundlegendes verändert. Lange Zeit schien dies auch einigermaßen zu funktionieren – zumindest von außen betrachtet. Während die realsozialistischen Systeme in Osteuropa in sich zusammenfielen, wurde das westliche Modell zum nachgefragten Exportschlager. Doch der Triumph des Westens hielt nur kurz an. Schnell traten die schon zuvor offensichtlichen inneren Schwächen und Versäumnisse zu Tage. Schon in den 1980er Jahren war in Deutschland intensiv über die „Politikverdrossenheit“ diskutiert worden. Und nur zwei Jahre nach der Wiedervereinigung wurde diese „Politikverdrossenheit“ 1992 zum Wort des Jahres gewählt. Die zahlreichen fremdenfeindlichen Übergriffe im selben und darauffolgenden Jahr offenbarten schon damals, nicht nur in Ostdeutschland, ein enormes Wut- und Frustpotenzial.

Dieses Potenzial hat sich immer wieder gezeigt: zumeist in politischer Abstinenz, manchmal aber auch in Form von Protestparteien. Keiner Formation gelang es aber, tatsächlich nachhaltig Fuß zu fassen. Was blieb, war die wachsende Distanz vieler Menschen zur politischen Mitte sowie die negative Erfahrung, nicht dazuzugehören und von Entscheidungs- sowie Modernisierungsprozessen abgehängt zu werden. Diese Abkapselung war und ist bis heute Folge der Unfähigkeit, Menschen für die eigenen politische Projekte und Ideen zu begeistern.

 Dinge kommen in Bewegung

Vor diesem Hintergrund erscheint die Weiterentwicklung des europäischen Einigungsprozesses hin zu der Ende 1993 gegründeten „Europäischen Union“ in einem ganz besonderen Licht. Entrückte und dem Wählerzugriff entzogene Entscheidungsgremien, flankiert von einem ziemlich zahnlosen und wenig verankerten EU-Parlament in Straßburg dokumentieren die Tendenz, nationale (und somit demokratisch legitimierte) Souveränität an die Brüsseler EU-Kommission abtreten zu wollen. Gegen diese gewollte Bürgerferne des modernen Politikmanagements regte sich Protest. Wann immer die Menschen in Europa während der vergangenen 25 Jahre die Möglichkeit hatten, direkt über politische Vorhaben der EU abzustimmen, lehnten sie diese ab – freilich ohne dass man sich in Brüssel daran gebunden fühlte. Die politische Kultur Europas fiel immer häufiger in eine Starre.

Nun mehren sich aber die Anzeichen dafür, dass die Dinge in Bewegung kommen. Europa findet es immer schwieriger, Einigkeit hinsichtlich konkreter politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Zielvorstellungen herzustellen. Am deutlichsten spürt man dieses Auseinanderdriften im Verhältnis zwischen den neuen osteuropäischen und den alteingesessenen westeuropäischen Mitgliedsstaaten. Dieser Konflikt teilt in Zeiten großer Herausforderungen nicht nur die Staaten der EU in zwei Lager, er zeigt sich auch innerhalb der Mitgliedsstaaten.

Autorität des vorherrschenden Politikmodells wird herausgefordert

Ein Katalysator dieser Entwicklung war in den vergangenen zwei Jahren die Entscheidung der Briten vom Sommer 2016, die Europäische Union zu verlassen. Dieser politische Paukenschlag wirbelte nicht nur die politische Landschaft des Königreichs durcheinander, sondern erschütterte auch die EU bis ins Mark. Das Votum der Briten zeigte, dass von der beschworenen Unumkehrbarkeit der europäischen Integration im Zweifel nur wenig übrigbleibt, wenn die Menschen das Interesse daran verlieren.

Alle auf den „Brexit“ folgenden Urnengänge in der westlichen Welt trugen zur weiteren Erschütterung und zur Vertiefung der ideellen Krise bei. Die Präsidentschaftswahlen in Frankreich warfen das komplette französische Parteiensystem über den Haufen. In den Niederlanden oder in Italien errangen Parteien mit einem explizit EU-skeptischen Ansatz Achtungserfolge. Nach der Bundestagswahl gelingt es den herrschenden Parteien nicht mehr, die Unzufriedenheit der Menschen in ruhige und systemkonforme Bahnen zu lenken. Auch die Regierung Spaniens steckt in existenziellen Schwierigkeiten. Mit der drohenden Sezession von Katalonien, welche die Zukunft des spanischen Staats infrage stellt, lässt sich feststellen: Die westliche Welt erlebt eine einzigartige Elitenschmelze. Die Autorität des vorherrschenden Politikmodells wird immer offener herausgefordert – und das nicht durch fremde Mächte, sondern allein vorangetrieben vom Souverän der Demokratie, dem eigenen Wahlvolk.

Ideen- und Machtmonopol des Mainstreams

Ein „Weiter so“ kann es nicht geben, ohne dass es zur vollständigen Farce würde. Die Volksparteien CDU und SPD haben in den vergangenen Jahrzehnten große Teile ihrer Basis verloren. Bis vor kurzem störte das die Wahlarithmetik nur begrenzt: Die Entfremdeten und Verlorenen verzichteten mangels Alternative und Interesse ganz darauf, zur Wahl zu gehen. Doch mittlerweile geht der Anteil der Nichtwähler zurück. Das aber auch nur, weil sich ihnen eine neue Chance bietet, die eigene Unzufriedenheit stimmgewaltig auszudrücken: durch die Wahl der AfD. Als Demokrat kann man die Präsenz der AfD im Bundestag eigentlich nur dann für besorgniserregend halten, wenn man entweder den Wählern von Grund auf misstraut und sie für orientierungsloses Stimmvieh hält. Oder aber man traut sich selbst nicht zu, im öffentlichen Kampf um die besten Ideen bessere Karten zu haben als die AfD.

Das Ende der politischen Friedhofsruhe ist in ganz Europa zu spüren – und spätestens seit dem 24. September gilt das auch für Deutschland. Wer in der langsam entstehenden Vielfalt der politischen Ansichten eine Gefahr für die Demokratie sieht, meint nicht die Demokratie, sondern das lange Zeit für „normal“ erachtete Ideen- und Machtmonopol des Mainstreams. Diese künstliche Verengung des politischen Diskurses kann nun nur mit drakonischen und freiheitsfeindlichen Maßnahmen fortgesetzt werden. Aber genau an diesem Punkt kann auch die Renaissance der Demokratie beginnen. Die Bundestagswahl ist erst der Anfang der politischen Auseinandersetzung. Dies ist eine gute Nachricht für all jene, die ihre politische Rolle als bewusste und selbstbestimmte Bürger in einer Demokratie ernst nehmen. Die Chance ist da. Ob sie genutzt wird, hängt nicht von unseren Politikern ab, sondern von uns. Holen wir uns unsere Demokratie zurück.

Dieser Artikel ist am 1. Oktober 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.